An den Rändern. Peter Weibel

Читать онлайн.
Название An den Rändern
Автор произведения Peter Weibel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906907482



Скачать книгу

kam nicht.

      Der Koffer steht noch immer unberührt im Hausflur. Trainingsanzug, zwei gebügelte Hemden, Waschzeug. Soll ich ein Buch einpacken, hatte er sie gefragt. Christa versucht, genauer in die Gesichter zu schauen, die vom Bahnhof heraufkommen, sie versucht, sich ihre Geschichten vorzustellen, Anfänge von Geschichten, sie denkt, auch Vincent würde das jetzt tun. Die Hast, mit der die meisten blicklos unterwegs sind, kommt ihr vor wie ein Versehen, wie Gehen auf einer falschen Spur, ohne dass sie sagen könnte, wo denn die richtige Spur liegt. Im Strom der Passanten sieht sie ein altes Paar, das nur langsam vorankommt, er knickt immer wieder ein, sie hält ihn unaufgeregt und geduldig am Arm. Die Gelassenheit der beiden findet Christa tröstlich.

      Über das fremde Herz aus unbekanntem Himmel hat Vincent nicht oft gesprochen. Aber Christa weiss, dass er jeden Tag daran gedacht hat. Auch dann noch, als er kaum mehr atmen konnte, als er nur noch mit der Sauerstoffzange im Bett lag und fast nur noch schlief. Dass einer sterben muss, damit ich leben kann. Dass der Tod eines anderen mein Leben retten soll. Keiner stirbt für dich, hat Christa dann gesagt. Ein sinnloser Tod ist immer ungerecht, aber ein Tod, den man verhindern kann, ist es auch.

      Vincent hat auf ein neues Herz gewartet, nicht darauf, dass irgendjemand stirbt. An den letzten glasklaren Sommertagen, wenn Christa das Dröhnen von Rettungshelikoptern hörte, war das Wort Spenderwetter auf einmal da. Donor weather. Sie wollte nicht daran denken, der Gedanke kam dennoch. Sie scheuchte die Vorstellung weg, dass an einem solchen Tag jemand verunglücken könnte. Ein Unheil durfte nicht sein und war doch die einzige Rettung. Sie wusste nicht, ob Vincent überhaupt noch daran denken mochte. Oder ob nicht alles schon zu weit weg war. Ein Wettstreit mit der Zeit, der nicht mehr zu gewinnen war.

      Es ist geschehen, es hätte auch früher sein können. Es hätte nicht geschehen müssen. Christa weiss, dass diese Fragen nirgendwohin führen. Dass man ohne zu warten und auch am Warten sterben kann. Vincent hatte um eine Chance gekämpft, die es vor zwanzig, vor dreissig Jahren noch nicht gegeben hat, sie weiss nicht, ob das gut war für ihn oder nicht. Ob es nicht alles noch schwerer gemacht hat. Sie ist von der Bank aufgestanden, sie muss sich loslösen von diesem Platz, an dem sie Vincent nahe sein kann. Andere haben Grabsteine, Vincent wollte keinen Grabstein. Aber hier hört sie seine Stimme, sein leichtes Lachen, und auch sein Schweigen, das er seinem stummen Nachbarn abgeschaut hat. Und manchmal auch sein Herz, das man nur hören kann, wenn man tief in sich hineinhorcht.

      Sie weiss noch immer nicht, was sie sagen wird. Man hat sie gebeten, als Mitbetroffene an einer Tagung über Organspenden zu sprechen. Kann sie das überhaupt? Christa hat sich Sätze notiert, Stichworte, und sie wieder verworfen. Soll sie darüber sprechen, was das lange Warten mit einem macht? Dass man dabei jeden Halt verliert, alle festen Bezüge, und schlimmer: Sich selbst? Vielleicht wird sie sagen, das Warten ins Leere hinein ist ein Schrei nach Leben, ich höre ihn noch immer, vielleicht werde ich ihn immer hören. Über die Streitfrage, wann und mit welchem Recht über einen Körper verfügt werden soll, will sie nicht sprechen. Aber vielleicht wird sie sagen: Ein ungerechter Tod wird durch ein gespendetes Herz nicht weniger ungerecht, aber ein Spenderherz ist eine Antwort auf den sinnlosen Tod.

      Sie geht langsam über den verlassenen Rasen, er kommt ihr sehr weit vor, eine leere Fläche, die sich im Ungefähren verliert. Sie spürt den weichen Grasboden unter den Füssen, die Luft riecht nach Erde und feuchtem Herbstlaub. Sie denkt an den einen Satz von Vincent, er war schon sehr geschwächt, aber er hatte die Gegenwärtigkeit desjenigen, der an den Grenzen geht: Das Leben ist ein fragiles Gesamtkunstwerk, erst jetzt weiss ich es. Als er das letzte Mal an seinem Lieblingsplatz sass, hat er das gesagt, neben dem stummen Nachbarn Einstein. Energie lässt sich in Masse umwandeln und umgekehrt. Sie schaut zur Alpenkette hinüber, einige Konturen sind sichtbar, Teile von Bergkörpern, sie werden vom Wolkenband sogleich wieder verschluckt. Niemand ist da, nur ein paar Raben stochern in den herumliegenden Laubblättern herum. Erst als Christa näherkommt, als sie die Flügelspitzen schon fast berühren kann, heben sie trotzig ab und kreisen in engen Bögen um ihr Areal.

       AN DEN RÄNDERN

      Es ist gut, dass Sara auf einmal aufsteht und ins Schweigen eines seiner Gedichte vorträgt. Sie redet stockend, ein paarmal bricht sie ab, aber es stört niemanden, später wird ihre Stimme sicherer. Ralph hätte sein Gedicht anders gelesen, langsam und ruhig, mit gesetzten Pausen. Aber irgendwie können wir seine Stimme hören, wir sehen ihn vor uns, wie er liest, wie er immer gelesen hat, mit diesem Blick, der nirgendwohin und doch auf alle gerichtet ist, wir können ihn hören.

      Wörter / halten mich fest / wenn ich kein Land mehr sehe / meine Wehrhäute / um wieder / festen Boden zu betreten. Es ist gut, dass ein Gedicht das Schweigen beendet, es ist wie mit dem Stein, den man aufs Eis wirft und sieht, dass das Eis hält, dass man darauf gehen kann. Jeder redet jetzt über ihn, irgendwann beginnt jeder über Ralph zu reden, als wäre er mit dem Gedicht zu uns gekommen, als könnte man ihn mit einem einzigen Gedicht herholen, wieder aus dem Wasser ziehen. Wann hast du ihn zuletzt gesehen, wo war es? Letzte Gespräche, die jetzt schwer werden, die Dinge mit Bedeutung überladen oder auch verschweigen. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, ein Jahr, vielleicht zwei, andere standen ihm näher und erinnern sich genauer, an den Nachklang von Gesprächen, an Orte. Luzia und Jonas sind ihm als Letzte begegnet, kurz vor seiner Abreise, zwei oder drei Wochen davor, und wir denken, vielleicht wissen sie etwas, was keiner von uns weiss, vielleicht haben sie uns etwas zu sagen, eine Antwort auf so viele offene Fragen, aber sie haben keine Antwort. Luzia sagt, wir haben ihn auf dem Markt getroffen, ich glaube, er wollte Blumen kaufen, und dann hat er über ein Buch von Peter Nadas gesprochen, die ganze Zeit hat er nur über das Buch gesprochen. Das Buch habe ihn getroffen, es habe ihn verändert, und er wisse jetzt, was er als Nächstes schreiben werde, er habe Pläne, die Entwürfe seien schon da. Macht man solche Pläne, wenn man gehen will?

      Das Ringheft mit den ersten Manuskriptseiten hat am Strand gelegen, neben dem Rucksack, den offenen Schuhen, neben Hemd und Hose, nicht einfach hingeworfen, aber sorgsam zusammengelegt, als würden die zurückgelassenen Gegenstände warten, als läge in ihnen eine Botschaft.

      Wir sind froh, dass Ralph Pläne hatte, dass er mit Plänen aufgebrochen ist. Weil es so leichter ist? Ich muss an einen Satz denken, den ich einmal gehört habe: Lebenskraft und Todeskraft sind nicht unvereinbar, nicht zwei Seelenwelten – es sind nur andere Seelenzustände, die tiefer oder flüchtiger am Leben haften. Freunde von Ralph werfen ein paar Grossaufnahmen aus seinem Leben an die Wand. Er sitzt in seiner Arbeitshöhle, zwischen Büchertürmen, zwischen herumliegenden Zeitschriften, und hält ein zerbeultes Plakat in die Höhe, ZUVIELISATION. Er liest an einer Literaturveranstaltung und beugt sich tief über die Manuskriptseiten, um dem blendenden Lichtkegel zu entkommen. Er rennt mit einem Transparent durch die Strasse, es ist nicht zu erkennen, warum er rennt. Er liegt auf einer Bergwanderung ausgestreckt auf dem Rücken und hat seinen Körper mit dürren Grasbüscheln zugedeckt. Er kauert in der Innenstadt vor einer Frau in abgerissenen Kleidern und gestikuliert mit den Händen, um irgendetwas zu sagen oder zu verstehen. Es kommen noch andere Bilder, verstreute Augenblicke, die kurz aufblitzen und wieder verschwinden, wie Lichtpunkte auf dunklem Grund.

      Eine junge Frau, die ich nicht kenne, zögert und sagt dann doch so laut, dass alle es hören können, muss ein Zerbrechlicher nicht irgendwann zerbrechen, und wieder wird es ganz still im Raum, nur das leise Sirren einer Installation ist zu hören. Wollen wir jetzt ein Leben ergründen oder ein Leben würdigen, fragt Sara und schaltet ein CD-Gerät ein, wenn wir ihm nahe sein wollen, können wir ihm in der Musik nahe sein, die er geliebt hat: Sailing von Rod Stewart, Me and Bobby McGee von Janis Joplin und Leonard Cohens Halleluja.

      Mit den Klängen ist Ralph da, irgendwie ist er jetzt da, jeder von uns spürt das, vielleicht sieht ihn jetzt jeder in einem Bild, sieht ihn dort, wo ein Bild eine Bedeutung erhält, eine Botschaft vorauswirft. Ich sehe ihn am Fluss, es ist ein heisser Sommertag, der heisseste seit Langem, wir reihen uns in die Karawane der Flussschwimmer ein, und ich begreife nicht gleich, warum er auf einmal sagt, hier toben wir uns aus im Wasser, und im Mittelmeer sterben sie darin. Er sagt es zornig, wie zusammenhangslos, obwohl es natürlich Zusammenhänge gibt, unser glückliches Schwimmen im Fluss und das Versinken der Glücklosen im Meer. Die Nachrichten, die