Название | An den Rändern |
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Автор произведения | Peter Weibel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906907482 |
Weit draussen, schon ausserhalb der Stadt stossen wir auf eine kleine Bucht, wo zwei Kinder Steintürme bauen, sonst ist da niemand. Joshua gibt uns ein Zeichen, und wir halten an. Er will ganz nahe ans Wasser, so nahe, dass die Wellen bis an den Rollstuhl schwappen, dass sie ihm ins Gesicht spritzen, Joshua lässt sich davon nicht abhalten, er will bleiben. Wir bleiben lange, eine Stunde, zwei, wir haben nicht gewusst, dass Joshua das schaffen kann, sich so lange im Rollstuhl halten, er hat ihn nie länger benutzt. Er horcht reglos in die Brandung hinein, die manchmal schweigt und dann wieder in rythmischen Schlägen heranrollt, es sieht aus, als hätte er alles andere vergessen, die unselige Fahrt und den griffbereiten Sauerstoff und auch uns, als hätte er auch sich selbst vergessen. Auch wir horchen jetzt auf die Sprache der Brandung, die hart und wieder versöhnlich ist, in jedem Wellenschlag beides, aber wir können nicht hören, was Joshua hört. Vielleicht hört er etwas, das über ihn hinausgeht, das über die Zeit hinausgeht, wir würden es gerne wissen. Vielleicht ist es etwas, das ihn aufnimmt, ihn in einen anderen Raum trägt, nicht greifbar und nicht erklärbar. Wir hören es nicht, aber wir sind uns sicher, Joshua hört es die ganze Zeit. Wir bleiben lange, der Himmel ist schon grauweiss und milchig, wir bleiben, bis das Prasseln von Joshuas Atem laut und gefährlich geworden ist, bis sein Kopf ganz leicht zur Seite kippt, fast unbemerkt, und er tonlos sagt, nun ist es gut. Seine Augen sind fest auf Martha gerichtet, es ist keine Unruhe darin zu erkennen.
Einen Augenblick warten wir unschlüssig, als könnte uns irgendeine Antwort erreichen, als würde sich etwas entscheiden. Wir wissen nicht, was kommt, wie der Weg zurück sein wird, ob wir das schaffen, ob Joshua es schafft und ob er eine Rückfahrt überhaupt will. Aber wir haben Joshuas Augen gesehen, etwas wie Glück in seinen Augen, und wir halten uns an den Gedanken, dass es nicht falsch gewesen sein kann, hierherzukommen. Dass man manchmal etwas tun muss, das viele für unsinnig halten und das dennoch einen Sinn ergibt.
HERZVERSAGEN
An Tagen wie diesem, wenn die schwarzen Schatten nicht wegwollen, lässt Christa einfach alles liegen und geht zur Grossen Schanze hinauf, zu der eisernen Sitzbank, wo sie oft neben Vincent gesessen hat. Er hat diesen Platz geliebt, den Blick über die ineinander geschobenen Dächer, über die Bundeshauskuppel zur Alpenkette hin, zu den Wolkenstimmungen, er hat sich dann unbeirrt neben den bronzenen Einstein gesetzt und reglos und nachdenklich ins Weite geschaut wie sein festgeschraubter Nachbar. Jetzt hat man den erstarrten Denker abmontiert, nur die Schraubenlöcher sind noch da und die abgenutzte Sitzfläche auf dunklem Metall, daneben der Sockel mit Inschrift zu Einsteins berühmter Formel, E = mc2. Energie lässt sich in Masse umwandeln und umgekehrt.
Christa weiss nicht mehr, wann sie zum letzten Mal mit Vincent zusammen da war. Sie hat das Gefühl, es ist Jahre her, aber es sind nur ein paar Monate. Vincent konnte nur noch mit Mühe gehen, eigentlich gar nicht mehr, aber er wollte das, er wollte noch einmal zu seinem Platz, Christa kann noch heute hören, wie er geatmet hat, er hat geatmet, als wäre nie genug Luft da, als wäre nicht einmal zum Sitzen und Schweigen genug da. Er hat noch immer darauf gewartet, dass etwas geschieht, dass etwas zu Ende geht, vielleicht hatte er das Warten auch schon aufgegeben, Christa kann das nicht mehr sicher sagen. Wie lange hält mein Herz noch durch?
Hinter Neubauten und Baukränen ist der hohe Klotz des Unispitals nicht zu sehen, wo man Vincent einen Tag lang von Untersuchung zu Untersuchung geschleppt hat, wo die Gesichter immer ernster wurden, immer verschlossener, und man schliesslich versuchte, es ihm so schonend wie möglich zu sagen: Ohne Spenderherz können Sie nicht überleben.
Der Rasenplatz vor der Uni ist jetzt kalt und leer, nur ein paar Kinder toben lustlos herum, werfen sich auf die leeren Liegestühle, die wie kahle Gerippe herumstehen. Die jungen Wilden sind weg, die hier im Sommer ihre Freizeit zelebrieren, träge ausgestreckt oder eng umschlungen und elektrisiert vom Sound ihrer Technorhythmen. Auch die Schachspieler sind weg. Eine Gruppe von Japanern mit Fotoausrüstung kommt aufgeregt näher, bleibt gestikulierend und ratlos stehen. Einstein ist weggesperrt, sagt Christa, he is in reparation, vielleicht kommt er mit neuem Metallglanz und winterfest wieder zurück. Die Japaner nicken und lachen zustimmend, Christa ist sich nicht sicher, ob sie verstanden haben. Sie denkt, vielleicht ist es gut, dass Einstein in stillem Einverständnis mit Vincent verschwunden ist.
Der Schock hatte Wochen gedauert. Aber die Gespräche auf der Herzabteilung gaben Vincent Halt, er wusste jetzt, was auf ihn zukommen würde. Die Informationen waren beruhigend, an ihnen konnte er sich aufrichten: Herztransplantationen sind heute Routineeingriffe; Verlegung auf die Bettenstation am zweiten oder dritten Tag. Erste Spaziergänge nach einer Woche, wenn alles gut geht, Heimkehr nach drei bis vier Wochen. Er begann sich einzurichten in der neuen Denkordnung – Warteliste, Wartezeit, Operation. Die Wartezeit unbestimmt, nur immer bereit und erreichbar sollte er sein.
Vincent begann wieder an etwas zu glauben, woran er lange nicht mehr geglaubt hatte. Er stellte sich vor, wie das sein könnte mit einem neuen Herz. Nicht mehr schleppend langsam gehen und nach Luft ringen, nicht mehr mit fünfundvierzig Jahren alle paar Meter stehen bleiben wie ein alter Mann. Wieder zu den blühenden Alpwiesen hochsteigen mit der Kamera. Christa hat Vincents Satz nie vergessen, den er auf seiner Einsteinbank gesagt hat: Eigentlich ist das Leben ein fragiles Gesamtkunstwerk, aus hundert kleinen Kunstwerken zusammengesetzt, jetzt weiss ich es. Seit das Herz immer schwächer wird, weiss ich es.
Sie hat Vincent nie gefragt, warum er diesen Platz so geliebt hat, warum er ausgerechnet neben dem Monument Einstein sitzen wollte, aber sie hat es geahnt. Es gefiel ihm einfach, den Passanten zuzuschauen, wie sie vorbeiströmen, mit ihren Zielen und den letzten Textnachrichten beschäftigt, und plötzlich ins Stocken geraten, wenn sie die reglose Figur auf der Bank sehen und nicht wissen, lebt er oder ist er ein Kunstgeschöpf. Sie beschleunigen ihre Schritte oder verlangsamen sie, je nachdem, oder sie kommen neugierig näher, bis sie befreit auflachen und dem hohlen Körper auf die Schulter klopfen. Einmal war Christa dabei, als ein junger Eritreer Vincent ansprach, und natürlich dachten sie beide, er will Geld, aber er wollte kein Geld, er zog ein paar Unterschriftenbögen hervor und sagte in gebrochenem Deutsch, ich sammle Namen gegen ein neues Tram, das Tram tötet die Bäume, Bäume dürfen nicht sterben. Sein feuriger Eifer hatte etwas Rührendes und schwer Begreifbares. Ein anderes Mal blieb ein älterer Herr verstört stehen und fragte, wie kommt denn der alte Goethe hierher. Vincent hat nur mild gelächelt und nichts gesagt. Aber er hat das heitere Missverständnis genossen.
Christa nimmt einen abgebrochenen Ast und zeichnet ein Herz auf den körnigen Boden, sie weiss jetzt genau, wie ein Herz aussieht. Wie ein filigranes Wunderwerk, das in fliessender Bewegung ist und viel kleiner, als man denkt. Das rätselhafte innere Uhrwerk ist das Wunder, und auch die Kraft, mit der dieser kleine Muskel zu pumpen vermag. Über hunderttausendmal am Tag und vierzig Millionen Mal im Jahr.
Eine fieberhafte Erwartung trieb Vincent lange an. Die Anspannung vor einem Abenteuer, von dem man nicht weiss, wann es anfängt, wie es sein wird. Sie trug ihn durch die Monate, auch als er längst nicht mehr arbeiten konnte, als er sich immer mehr schonen musste wie ein Schwerbeschädigter. Christa wünschte sich, dass die Anspannung anhalten würde bis zu dem Tag, an dem es soweit wäre. Aber sie hielt nicht an, die Zeit verlangsamte sich, blieb stehen. Trocknete das dunkle Feld Zukunft aus. Christa weiss, dass es keine Worte dafür gibt, wie das Warten für Vincent wirklich war. Neun Monate, zehn? Dreihundertmal am Morgen aufstehen mit dem Blick aufs Mobiltelefon, das noch immer stumm ist. Das in der Nacht neben dem Bett liegt und durch den Schlaf zuckt, den Schlaf zerreisst. Manchmal hörte Vincent im Traum seinen Klingelton, immer nur im Traum, bis er es einfach fortwerfen wollte. Er warf es nicht fort. Es blieb seine Lebensbrücke, er klammerte sich daran. Aber die Erwartung wurde dumpfer, begann zu lähmen. Die Lähmung wucherte weiter, die Tage verloren ihre Zugkraft.
Die schwarze Wand vor dem Nichts, wozu noch warten? Warum die Medikamente nicht einfach fortwerfen, dann geht es schneller. Manchmal schreckte Vincent mitten in der Nacht auf und schleuderte weg, was ihm unter die Finger kam. Einfach immer bereit sein, den Koffer