Название | Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf |
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Автор произведения | Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft |
Жанр | Учебная литература |
Серия | |
Издательство | Учебная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170395220 |
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-039520-6
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-039521-3
epub: ISBN 978-3-17-039522-0
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Vorwort
Standards sind Festlegungen für die Art und Weise, wie Prozesse gestaltet sein sollen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Sie beschreiben Anforderungen und Kompetenzen, Bedingungen und Wissensbestände und beruhen auf Modellen von Entwicklungszielen. Standards liegen vor den Kompetenzen, die Ziele vor den Standards und vor den Zielen liegt deren Begründung. Entscheidend dafür, dass es zur Formulierung von Standards als Richtschnur kommt, ist also die Anerkennung und Geltung des Ziels.
Die Durchsetzung von Bildungs- und Teilhaberechten für Menschen mit Behinderung war historisch ein sehr langer Prozess, und er musste für jede Gruppe aufs Neue durchgesetzt werden. Angesichts von starren Verhältnissen, die Entwicklung, Bildung und Teilhabe auf der Basis defizitärer Menschenbilder verwehrten, war die Etablierung neuer Formen historisch häufig »ein kühnes Unternehmen«1. Die gesellschaftliche Steuerung von Lebenslagen durch Recht und Politik bedeutet nichts Geringeres als den »Erhalt von Lebenschancen aus der gesellschaftlichen Produktion als Sozialgüter«2, und die generationsprägende Wirkung von großen Reformen lässt sich an Lebensläufen belegen. Die Dynamik des Zugewinns – oder aber des Verlustes von Bildungs- und Teilhabechancen – zeigt sich bei Menschen mit Behinderung in besonderem Maß, denn ihre Lebenslage wird hochgradig von den sozialen Leistungen und Rechten beeinflusst. Wenn man über Teilhabe spricht, spricht man also über nichts weniger als über die individuelle Lebensführung; und dabei geht es um die grundsätzliche Frage, ob Handlungsspielräume für die Lebensführung vorhanden und so gestaltet sind, dass es neben den Zwängen und Abhängigkeiten auch freie Wahlmöglichkeiten gibt, ob über Zugehörigkeit und Anerkennung identitätsstärkende Erfahrungen gemacht werden können und man den Alltag ebenso wie sich stellende Belastungen bewältigen kann.
Die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG) setzt sich seit 1991 kontinuierlich für die Verbesserung der Lebenschancen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und einem komplexen Unterstützungsbedarf ein, eine Gruppe, deren Bildungs- und Teilhaberechte als letzte anerkannt wurden. So äußerte sich der Verband Deutscher Sonderschulen (VDS, heute Verband Sonderpädagogik) 1983 zum ersten Mal überhaupt und dann äußerst verhalten zur Förderung der damals so genannten Schwerstbehinderten. Ein damals im Auftrag des VDS von Georg Feuser erarbeitetes Papier war zuvor abgelehnt worden, weil es mit Begriffen wie Bildung und Integration zu progressiv war.3 Bis heute ist die Lage dieser heterogenen Gruppe von Menschen gekennzeichnet durch besonders hohe Beschränkungen des Zugangs zu gesellschaftlichen Handlungsfeldern und zu den Angeboten der Bildung und Beschäftigung, der Kultur, der Freizeit und des öffentlichen Lebens sowie der Gesundheit und Therapie. Dies gilt sowohl in Bezug auf das Regelsystem als auch auf das Sondersystem, und diese Beschränkungen zeigen sich empirisch deutlich, sei es mit Blick auf das Verbleiben in ›besonderen Wohnformen‹4 oder den Ausschluss von der Teilhabe am Arbeitsleben, sogar aus den Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM).
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) wurde nun nach Jahrzehnten wieder eine große Reform-Dynamik in Gang gesetzt. Ihre Leitmotive sind Teilhabe/Partizipation und Selbstbestimmung, im Mittelpunkt steht die möglichst unabhängige individuelle Lebensführung und ihre Durchsetzung basiert nun auf Rechten. Die UN-BRK zeigt klar auf, dass es sich bei Marginalisierungs- und Diskriminierungsprozessen zentral um Menschenrechtsverletzungen handelt und diese Konsequenzen erzwingen. Es besteht eine Verpflichtung, den Zustand der starren Verhältnisse, wie er sich auch in Benennungen des Personenkreises als ›die, die keiner haben will‹, widerspiegelt, zu überwinden. Dafür müssen aber die bisherigen Exklusionsrisiken und Problemstellen genau in den Blick genommen und die rechtlichen Normen und fachlichen Ansprüche auf die Situation besonders hoher sozialer Abhängigkeit und erschwerter Partizipation hin durchdekliniert werden. Menschen mit einem komplexen Unterstützungsbedarf fallen aus Struktur- und Handlungslogiken, die sich an engen, schematischen Vorstellungen von ›Hilfebedarf‹, ›Bedarfsgruppen‹ und ›Leistungstypen‹ orientieren, heraus; ihr Bedarf wird zum ›Schnittstellenproblem‹, z. B. zwischen Pädagogik und Therapie oder Pädagogik und Pflege. Aus organisatorischen Unterschieden, die durch die Bildung von Hilfebedarfsgruppen stark gefördert werden, können inhaltliche Unterschiede werden, nämlich zwischen ›Teilhabe‹ und ›Pflege‹ oder ›Betreuung‹; dies hat spürbare Folgen für Denkweisen und Handlungsprozesse der Leistungserbringung und in deren Folge für die Handlungsspielräume der Menschen, z. B. wenn ›Wohnpflegeheime‹ sich maßgeblich an Pflegestandards ausrichten und dort grundsätzlich kein zweites Milieu vorgesehen ist.
Die Corona-Pandemie hat Bruchstellen dieser Logik schonungslos offen gelegt und verstärkt: die Zwänge des Lebens und gesundheitlichen Risiken in zumeist nicht selbst gewählten Wohngruppen, die reduzierten sozialen Kontakte und die unzureichenden Teilhabemöglichkeiten, die sich mit Mängeln der Infrastrukturen vor Ort, z. B. dem Zugang zu gesundheitlichen und therapeutischen Angeboten, verbinden. Die Pandemie-Situation könnte zur Sicherung der überkommenen Strukturen beitragen, wenn nun das Spannungsfeld zwischen Gesundheitsschutz und Teilhabe einseitig aufgelöst und nicht die Verluste an Optionen und Entwicklungsmöglichkeiten aufgearbeitet werden, sowohl für den Einzelnen als auch für ein ›Leben im Gemeinwesen‹. Die Chance für neue Entwicklungen liegt hingegen in einer konsequenten Individualisierung, die zuerst und der ICF folgend am Verständnis des Bedarfes ansetzt, aber weitergehend darauf zielt, die Handlungsspielräume für die Lebensführung zu erhöhen, und zwar anhand daraufhin bezogener flexibler, angemessener und wirksamer – also professioneller und fachlich kompetenter – Leistungen.
Die konstitutiven Spannungsfelder zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit, aber auch Sorge und Schutz, zwischen Wahlmöglichkeiten und Bindungen und Verpflichtungen lassen sich nicht auflösen, sie müssen und sie können gestaltet werden. Die DHG-Standards