Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Название Die Kinder von Teheran
Автор произведения Mikhal Dekel
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806243185



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ihrer polnischen Staatsbürgerschaft auf unbestimmte Zeit in der Sowjetunion festsitzen würden wie die Mäuse in der Falle. Wieder anderen hatte das Leben auf der Flucht, hatten die immer schlechter werdenden Lebensbedingungen in den Städten entlang der Grenze derart zugesetzt, dass sie nun meinten, zu Hause müsse es doch immerhin etwas besser sein.

      „Mein Vater … wollte den sowjetischen Pass nicht annehmen. Er sagte, er erstickt in der hiesigen Luft.

      Mein Vater wollte den sowjetischen Pass nicht annehmen und ließ sich wie alle unsere Nachbarn aus dem Bethaus für die Rückreise nach Hause registrieren.

      Mein Vater wollte den sowjetischen Pass nicht annehmen, und meine Mutter überredete ihn, dass er uns für die Rückkehr registrieren lässt, weil wir dauernd vom Hunger bedroht waren.

      Meine Eltern wollten die sowjetische Staatsbürgerschaft nicht annehmen, weil sie fürchteten, sie dürften dann Russland nicht verlassen.

      Mama wollte die sowjetische Staatsbürgerschaft nicht annehmen, weil es hieß, dass wir dann nie mehr Russland verlassen und Vater wiedersehen könnten.

      Mein Vater sah, dass das Leben bei den Sowjets immer schwerer wurde, und beschloss, uns für die Rückreise registrieren zu lassen. Mein Vater ließ uns registrieren, weil von der anderen Seite Nachrichten herüberkamen, dass die Situation besser geworden ist und die Leute genug zum Leben verdienen, und hier wurde es immer schlechter.“7

      Und im „Protokoll Nummer 26“, der Aussage meines Vaters, heißt es:

      „Die Russen haben Plakate in den Gassen ausgehängt, man sollte sich registrieren kommen, und jeder, der heimfahren wollte, würde an den Ort geschickt werden, wo er hinwill. Da hat mein Vater nicht lang überlegt und hat einen Registrierungsbogen ausgefüllt, dass er zurück auf die deutsche Seite will, nach Ostrów Maz.“

      „Unser Vater hat die Kommunisten gehasst“, erzählte mir meine Tante Regina später, ganz so, als hätte Zindel seine Entscheidung aus rein ideologischen Gründen getroffen, nach festen, nur eben leider irrigen Grundsätzen. Sie sagte mir nicht, was Hannans Zeugenaussage nahelegte, dass nämlich ihr Vater in eine tiefe, vollkommen teilnahmslose Depression verfallen war oder dass ihm ganz einfach die Fertigkeiten fehlten, um sich in der halsabschneiderischen Flüchtlingswelt im sowjetisch besetzten Gebiet zu behaupten.

      Hunderttausende polnischer Staatsbürger mussten auf diese Weise die jeweiligen Vor- und Nachteile der deutschen und der sowjetischen Herrschaft gegeneinander abwägen, wobei ihre Überlegungen und ihr Wissen auf dem beruhte, was sie aus ihrem alten Leben kannten und aus früheren Kriegen wussten. So wägten sie also aktuelle Gerüchte über deutsche Gräueltaten gegen ihre Erinnerungen an die relative „Anständigkeit“ der deutschen Besatzer im Ersten Weltkrieg ab, unter denen ein Mitglied des Teitel-Clans ja sogar als Bürgermeister amtiert hatte, und sie versuchten, ihre Überlebenschancen im stalinistischen Russland zu kalkulieren.

      Nach einem Vortrag, den ich 2016 in Paris hielt, kam die Tochter eines einstigen polnischen Flüchtlings zu mir und erzählte, dass ihr Vater – aus dessen Familie manche überlebt hatten, während andere ermordet worden waren – sein ganzes restliches Leben lang vom Grübeln über die falschen Entscheidungen der Ermordeten gequält worden war. „Was solche Flüchtlinge sich selbst erzählen“, sagte ich ihr, „ist immer eine Geschichte von richtigen oder falschen Entscheidungen“, aber wie ich später herausfinden sollte, wurden die unterschiedlichen Schicksale, die den Flüchtlingen scheinbar gleichberechtigt offenstanden, sehr viel weniger von ihrem eigenen Sinnen und Trachten bestimmt, als sie selbst meinten, und sehr viel mehr von größeren, weitgehend zufällig waltenden Mächten.

      Bereits im September 1939 hatte ein Deutsch-Sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag, der als eine Art zweites (und ebenfalls geheimes) Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt fungierte, festgelegt, dass all jene, die aus dem sowjetisch besetzten Polen in das deutsche Generalgouvernement zurückkehren wollten, dies ungehindert tun sollten. Am 1. Juni 1940, zehn Monate nachdem seine Familie aus Ostrów geflüchtet war, betrat Zindel Teitel ein Büro der deutschen Repatriierungskommission, die zur Erfassung und Betreuung dieser Remigranten eingerichtet worden war, und füllte das Antragsformular für die Rückkehr seiner Familie aus, womit sein Name sowie die Namen seiner Frau und seiner Kinder auf die lange Liste von mehreren Hunderttausend Polen, Ukrainern, Weißrussen und Juden gelangte, die sich bereits für eine Rückkehr in ihre Heimatorte hatten registrieren lassen.

      In der Woche darauf wurde der Antrag an ein sowjetisches Gericht in Bielsk Podlaski weitergereicht, einer Stadt südwestlich von Siemiatycze, wo die Familie Teitel am 5. Juli in Abwesenheit zur Ausweisung verurteilt wurde. Am 6. Juli wurden ihre Ausweisungsbescheide ausgefertigt – von Hand beschriftete Karteikarten, auf denen ihre Namen, Geburtsdaten, Wohnorte, Berufe, Nationalität, Ausbildung und Aufenthaltsort im Exil vermerkt waren.

      Monate zuvor, am 19. Februar 1940, hatten B. Baschew, seines Zeichens Vorsitzender der Allgemeinen und Vereinigten Holzwirtschafts-Gewerkschaft (AVHG), und ein Vertreter des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) eine Vereinbarung unterzeichnet, der zufolge die letztgenannte Organisation der erstgenannten 10 000 neue Zwangsarbeiter zuführen sollte. Die AVHG brauchte frische Waldarbeiter, weil die Reihen ihrer Mitglieder sich durch den „Winterkrieg“ zwischen der Sowjetunion und Finnland zwischen November 1939 und März 1940 empfindlich gelichtet hatten.

      Also wurden zwischen Mai und Juli 1940 gut 5000 Familien aus den westlichen Gebieten der sowjetischen Einflusssphäre deportiert, und bis zum Ende des Jahres kamen noch einmal 4250 dazu, die nach Norden gebracht wurden – unter ihnen auch die Familie Teitel.8 In der Nacht des 7. Juli 1940 hämmerten um zwei Uhr morgens NKWD-Leute an die Teitel’sche Wohnungstür, um die Familie abzuholen. Hunderttausende erlitten dasselbe Schicksal:

      „Am Freitagabend betraten bewaffnete NKWDisten unsere Wohnung und befahlen uns, unsere Sachen zu packen, weil wir nach Warschau fahren.

      Am Freitag, um Mitternacht, pochte es heftig an unserer Tür, und mit Revolvern bewaffnete NKWDler befahlen uns, uns schnell anzuziehen.

      Um zwei Uhr nachts kamen vier NKWDisten mit Revolvern in der Hand. Einer blieb an der Tür stehen, der zweite am Fenster, und sie erklärten, wir fahren nach Deutschland.“9

      Einzeln und für sich wurde jede dieser vielen Familien mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und in Wagen gestoßen, ganz allein hat jede von ihnen Todesängste ausgestanden – aber die Berichte darüber gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Immer war es ein Freitagabend, der Sabbat hatte bereits begonnen. Immer kamen die Agenten mitten in der Nacht. Immer waren es vier bewaffnete NKWD-Leute.

      „Die Inhaftnahme, das ist ein wichtiger Abschnitt im Lehrplan der allgemeinen Gefängniskunde, in der eine grundlegende gesellschaftliche Theorie als Basis nicht fehlt“, sollte Alexander Solschenizyn zwei Jahrzehnte später in Der Archipel Gulag schreiben: „Ein schrilles nächtliches Läuten oder ein grobes Hämmern an der Tür. … Der ungenierte stramme Einbruch der an der Schwelle nicht abgeputzten Stiefel des Einsatzkommandos. … Alle Leute in der Wohnung sind nach den ersten Schlägen gegen die Tür vor Entsetzen gelähmt. Der zu Verhaftende wird aus der Wärme des Bettes gerissen, steht da in seiner halbwachen Hilflosigkeit, noch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.“10

      Das Einsatzkommando, das in die Wohnung stürmte, wo Hannan damals schlief, teilte seinem Vater Zindel mit: „Jetzt fahrt ihr gleich im Sonderzug nach Hause“, befahl den Teitels, sich anzuziehen und ihre Sachen zu packen. Dann wurden sie in einem Lastwagen zum Bahnhof gefahren und in einen roten Viehwaggon gepfercht (eine „Rote Kuh“ – unter diesem Spitznamen sind diese Wagen in die Verkehrsgeschichte eingegangen). Der Waggon war bereits voll, fast fünfzig Menschen waren darin. Anders als die sogenannten Stolypin-Waggons, in denen seit der Oktoberrevolution in Russland die Gefangenen transportiert wurden, mussten die „Roten Kühe“ sich nicht an den regulären Fahrplan halten und konnten deshalb überall- und nirgendwohin fahren – mit dem nächsten Halt mitten im Nichts. Den Passagieren – den Insassen – konnte man irgendein beliebiges Fahrziel angeben, oder man sagte ihnen überhaupt nichts.

      Den Teitels sagte man, sie würden nach Warschau gebracht. Die brutale Überfüllung in einem Stolypin-Waggon wäre