Название | Meine Stadt auf Яussisch |
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Автор произведения | Valeria Fedchenko |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9785005358189 |
Nach dem zu urteilen, wie viele Hausfrauen ihre Sprösslinge zu allen möglichen Kursen und Unterrichtsstunden schleifen, sehen offenbar nicht alle für ihre Töchter die Zukunft nur als Mutter, Hausfrau, Kindermädchen oder Putzfrau. Das Thema dürfte also auf Resonanz und Interesse treffen.
Der dritte Vorschlag, «Fotoshooting für Frauen – Ich bin eine Blume», «mit oder ohne Make-up», trifft offenkundig bei der gesamten Gruppe auf eine psychologische Barriere. Er ruft Erstaunen hervor, annäherungsweise gar Angst, von leichter bis panischer, je nach dem Grad des Selbstvertrauens und der inneren Freiheit. Trotzdem wird der Vorschlag angenommen.
Der letzte Vorschlag, ein Schachturnier, sieht vor, dass kleine Mädchen (Fünfjährige, die in der russischen Schule einen Schachkurs besuchen) gegen Mitarbeiter der Stadtverwaltung antreten.
Mädchen, die mit erwachsenen Männern Schach spielen – gewissermaßen ein symbolisches Zeichen für Gleichberechtigung. Den Frauen werden die Augen warm. Was ich darlege, ruft Rührung, Begeisterung und große emotionale Zustimmung hervor.
«Ich will gegen den Bürgermeister spielen», erklärt meine fünfjährige Tochter, als sie von der geplanten Veranstaltung erfährt. Sie hat bereits das «Bauernabzeichen» errungen und fühlt sich durchaus sicher.
Für diese Veranstaltung stellt die Stadt sogar einen Saal in dem Gebäude gegenüber dem Rathaus zur Verfügung; und sie sorgt dafür, dass einige schachbegeisterte prominente Pensionäre, frühere Mitarbeiter der Verwaltung, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, hindernisfrei zum Ort des Geschehens gelangen können.
Beim Verlassen des Rathauses wendet sich eine ältere Dame an mich; an dem Treffen hatte sie als Vertreterin einer der politischen Parteien teilgenommen. «Wir schlagen seit dreißig Jahren immer die gleichen Veranstaltungen vor. Es ist wirklich an der Zeit, daran etwas zu ändern», sagt sie, um mich zu unterstützen.
«Es wäre nicht schlecht, wenn man die Männer mit dazu heranzieht», gebe ich nach einigem Nachdenken zur Antwort.
Nach dem Treffen kommt mir so ein Gefühl, dass die deutschen Frauen mit ihren feministischen Ideen vielleicht doch zu weit gegangen sind. Sie haben das andere Geschlecht aus den Augen verloren, Barrieren errichtet und Ängste in sich aufgebaut, und haben so den Weg zu einem konstruktiven Miteinander versperrt.
Kapitel 3
Januar 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Marstall
Scheint mir die Sonne heut, um das zu überlegen, was gestern war?
Johann Wolfgang Goethe, «Egmont»
Auf den hohen Betonstufen sitzend, schaue ich hinunter auf den Eingang zum Einkaufszentrum «Marstall» und auf die bronzene Skulptur eines Pferdes in Lebensgröße. Manche Stellen an dem Tier sind ganz blank gerieben, wie man das von allen solchen Skulpturen auf der weiten Welt kennt. Diese Stellen werden von den Einwohnern der Stadt, den Besuchern und Touristen besonders geschätzt: an ihnen zu reiben soll Glück bringen. Wenn es möglich ist, setzt man die kleinen Kinder oben drauf und knipst Fotos. So eine Skulptur gab es auch in meiner Kindheit: den Hirsch im Park von Smolensk, mitgebracht von russischen Soldaten aus Deutschland.
Die Sitzstufen, beidseits des Einganges zum Einkaufszentrum, steigen treppenförmig hinan, die beiden Geschoss-Ebenen miteinander verbindend. In Abständen sind sie durch niedrige Tische unterbrochen, in ihre Breite eingelassen; auf solch einem hab ich jetzt meinen PC abgestellt.
Zu größerer Bequemlichkeit sind Stufen wie Tischchen auf der Oberfläche mit Holz bekleidet. Und überall verteilt, wie die Bücher im Wohnzimmerschrank der guten Hausfrau, liegen Kissen in allen möglichen Farben. Vorläufig noch schön beeinander; sorgsam aufgereiht, am Abend zuvor oder heut in der Frühe, von den Reinigungskräften.
Jetzt ist es elf Uhr an diesem späten Samstagvormittag, die Stadtbewohner werden allmählich munter, und es kommen immer mehr Menschen.
«Marstall» … Wenn ich diesem Wort nachlausche, so teilt sich’s mir in «Marsch» und «Tal». (Wobei Ersteres eines der vielen Wörter ist, die wir Russen einstmals aus dem Deutschen entlehnt haben.) Der Begriff kommt jedoch von einem alten Wort für, Pferd»: Vor dreihundert Jahren war hier der Ort, wo die Pferde des fürstlichen Hofes untergebracht waren und getummelt wurden; ein solches Gebäude wurde damals als Marstall bezeichnet. Von einer Seite des Einkaufszentrums führt eine kurze, für ihr Alter recht breite Straße geradewegs auf einen der Eingänge zum Park vor dem Schloss, der einstigen Residenz der württembergischen Herzöge.
Einstmals, vor etwas mehr als zweihundert Jahren, erschien vor diesem Schloss der Kaiser Napoleon, dessen Truppen bereits im Land standen. Er zog den Herzog Friedrich in ein Bündnis gegen Österreich und stellte ihm die Königswürde in Aussicht, die der württembergische Monarch bald darauf auch annahm.
Die Deutschen lieben ihre Geschichte. Der fünfzehnstöckige Wohnturm, der sich an dem Ort des einstigen Marstalls erhebt, ist zwar ein hässliches Bauwerk aus den siebziger Jahren, das viele gar als Verschandelung des Stadtbilds empfinden – doch bei der Neugestaltung des Einkaufszentrums, das mit seinen Läden, Boutiquen und Cafés den unteren Teil des Gebäudes einnimmt, hat man für manche historische Anspielungen gesorgt, die an die fürstlichen Pferde von ehedem erinnern. Zusammen mit den heute modernen Elementen von Holz, Glas und Beton ist ein stilvolles Ensemble entstanden. Die bunten Kissen und der süßliche Duft wohlschmeckender Café-Getränke geben ihm etwas Anheimelndes.
Heute warte ich hier auf meine Tochter Katharina. Schon seit einigen Jahren nimmt sie jeden Samstagvormittag Unterricht in russischer Sprache und Literatur.
Als eine der Veranstaltungen rund um den Internationalen Frauentag wird es ein Fotoshooting für Frauen geben, unter dem Motto «Ich bin eine Blume». Katharina wird als Fotomodell fungieren. Ihr frisches junges Gesicht ohne Makel und Falten wird für die Aufnahmen keine Probleme bereiten. Wir – mit dabei sind die Fotografin Galina und die Kosmetikerin und Visagistin Lena – wollen einen Werbeprospekt erstellen, den Katharinas Porträt schmücken soll.
Ich greife zum Smartphone, wische mit dem Finger über die neuesten Nachrichten auf Instagram.
Ins Auge springt mir die Nachricht: «Die Zahl junger Menschen aus Russland, die ihr Land verlassen wollen, hat innerhalb der vergangenen zehn Jahre eine Rekordhöhe erreicht. 53 Prozent der jungen Russländer haben vor, dauerhaft im Ausland zu leben.»
Indem ich mich so umschaue, muss ich mir selber die Frage stellen: «Wie kommt es denn eigentlich, dass ich jetzt hier bin?» Dass ich mich in einem Märchenwald verirrt und mich unversehens hier befunden hätte, kann ich ja schlecht behaupten.
Ich frage mich: «Hatte ich das, schon immer» gewollt, und was hat mich dorthin geführt, wo ich jetzt bin?»
Ich erinnere mich aufs Genaueste, dass ich nirgendwohin vorhatte auszureisen.
Kapitel 4
Herbst 2005
Deutschland, Ludwigsburg, Volkshochschule
Die fünfzigjährige Frau Kraft, meine Lehrerin – ich nenne sie Frau Ljuba – ist vor vielen Jahren, nachdem sie zu Beginn der achtziger Jahre die zehnklassige Schule noch in der Sowjetunion absolviert hatte, aus Russland emigriert. Genauer gesagt: abgehauen – doch davon später…
Sie studierte in Köln Germanistik, und ihrem Russisch hört man einen angenehm klingenden deutschen Akzent an. In ihrer Jugend, so ist es wahrzunehmen, muss sie sehr hübsch gewesen sein. Lange blonde Haare, die in welligen Locken herabfallen, ohne sie dabei jedoch, wie so viele langhaarige Frauen ihres Alters, in eine betagte Wassernixe zu verwandeln. Ebenmäßige Gesichtszüge, gute Figur. Sie ist immer noch eine Schönheit, und während des Unterrichts erlaubt sie sich, mit einem sympathischen jungen Italiener zu kokettieren. Man merkt, dass es ihr mit uns ein bisschen langweilig ist;