Название | Das Ideal des Kaputten |
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Автор произведения | Jessica Jurassica |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906913285 |
Irgendwann hatte er sich dann doch eine Wohnung gemietet, sah jedoch weitgehend davon ab, sich Möbel anzuschaffen. Ein Bett besaß er nicht. Anfangs schliefen wir in einer Hängematte, die er im Wohnzimmer der kleinen Dachwohnung zwischen den Dachbalken montiert hatte, später kamen zwei Sofas dazu, und irgendwann besorgte er sich eine Luftmatratze, die er in seinem winzigen Schlafzimmer unter das Dachfenster legte und regelmäßig mit einer automatischen Pumpe aufpumpte. Dieses Zimmer war ihm heilig. Wenn er rausging, drehte er den Schlüssel im Schloss und nahm ihn mit. Bald begann sich dort alles Mögliche zu schichten: haufenweise Kleider, leere Bierdosen, Kisten mit Antennen und Geräten, von denen er vage sagte, dass sie etwas mit dem Darknet, einer Höhle im Tessin und einem Verstorbenen zu tun hätten, und fein säuberlich aufgehäuft eine beeindruckende Menge an Schalen von Sonnenblumenkernen am Fußende der Luftmatratze. Irgendwann war eine der leeren Dosen unter die Luftmatratze geraten und hatte ein Loch verursacht. Von da an lagen wir auf den Schafsfellen und der unbrauchbar gewordenen Luftmatratze und er sagte Dinge wie dass ich zu jung und zu unschuldig sei, um mit jemandem wie ihm zu sein.
Ich lebte damals noch bei meinen Eltern in diesem Tal auf dem Land. Einmal, da war ich, nachdem ich eine Nacht mit M. verbracht hatte, nach Hause gefahren, wir hatten uns wohl ordentlich was geballert gehabt und ich weiß nicht, ob ich überhaupt geschlafen hatte, obwohl, ich glaube schon, ich bin auf der Couch weggedriftet in einen flimmernden MDMA-Schlaf und er spielte auf dem E-Piano sanft irgendwelche Melodien, und dann, gegen Abend, als schon wieder eine weitere Nacht anzubrechen drohte, brach ich auf. Ich saß im Zug mit zwei Flaschen, in der einen Wasser, in der anderen irgendein Multivitaminfruchtsaft. Im Abteil nebenan saß ein Kind, es fragte seine Mutter, warum die Frau da zwei Getränke habe, und die Mutter antwortete, dass die Frau halt sehr durstig sei, und ich sagte zur Mutter: »Nein, die Frau hat einfach zu viele Drogen genommen, und außerdem hat sie das Gefühl, dass ihr linkes Auge nicht mehr funktioniert«, oder vielleicht dachte ich das auch nur und sagte nichts. Später saß ich mit meinen Eltern und meiner Schwester am Küchentisch und war tatsächlich auf einem Auge blind, ich sah wohl grauenhaft aus und fiel fast vom Stuhl, aber ich würgte ein paar Bissen runter, an meinen spröden Lippen vorbei, über die geschwollene Zunge hinweg, und dann legte ich mich in meinem Kinderzimmer ins Bett und schlief achtzehn Stunden lang.
Ich verbrachte also diesen Sommer fast durchgehend in meiner kolumbianischen Hängematte, dachte über all diese Dinge nach, während es die ganze Zeit so seltsam roch. Weißweinnebel klebten an mir, die Stadt roch seltsam. Meine Wohnung, meine Mitbewohner, die Männer, mit denen ich schlief – mein ganzes Leben roch seltsam. Und auf meine Haut hatte sich ein glänzender Film gelegt, den ich einfach nicht wegbekam und der seltsam roch. Dieser seltsame Geruch wurde erst weniger, als der Herbst kam.
2
Irgendwann im Herbst, Ende Oktober oder so, saß ich mit meiner Familie in einem Zug, der mit 300 km/h durch die Po-Ebene Richtung Napoli raste, wo wir eine Woche verbringen wollten, also eigentlich in Torre del Greco, einem Ort in der Nähe von Napoli, wo es eine alte Fischfabrik gab und sonst nichts, direkt am Meer und am Fuße des Vesuvs. Die Luft im Zug war schlecht und ich schlecht gelaunt. Unter meinen Augen lagen Schatten.
Wir hatten bei einem Faschisten namens Pio für eine Woche eine Wohnung gemietet. Der Code zum Tresor, in dem der Schlüssel zur Wohnung bereitlag, war 1921, und deshalb, sagte mein Vater, während die Po-Ebene mit 300 km/h an uns vorbeiraste, sei Pio bestimmt ein Faschist. Später stellte sich heraus, dass der Code für das WLAN 1923 war, auch irgendein Eckdatum aus dem italienischen Faschismus. Die Fascho-Wohnung war ganz nett, aber mit den denkbar hässlichsten Ikea-Möbeln ausgestattet, und so saß mein Vater in einem Ikea-Sessel vor einer Ikea-Tapete und las in Die Ästhetik des Widerstands. Meine Mutter saß draußen auf dem Balkon und strickte in der Sonne Socken und meine Schwester neben ihr rauchte Zigaretten und starrte aufs Meer raus. Meine Schwester war fünf Jahre jünger als ich und rauchte inzwischen drei Zigaretten, während ich eine rauchte.
Ich bewohnte das Eckzimmer. Nachts, wenn es stürmte, schien der Wind die Fassade und die Fensterläden wegzutragen und es pfiff durch die Ritzen, alle Wände knarrten. Tagsüber sah ich von meinem Ikea-Bett aus und wenn ich rauchend am Balkongeländer lehnte und über die Wellen hinweg aufs Meer rausschaute, so wie ich es am liebsten den ganzen Tag getan hätte, weit draußen im Dunst: die Insel Capri. Ich machte mir ständig Gedanken über diese Insel, aber ich kam auf keinen Punkt. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Scheiß-Insel.
Wenn man auf der vom Meer abgewandten Seite der Wohnung rausschaute, blickte man auf einen kleinen, ordentlichen Innenhof, da lagen ein paar Taschen gefüllt mit Früchten auf einem Tisch. Dahinter ragte der Vesuv mitten aus der Landschaft raus, manchmal hatte er etwas Bedrohliches, manchmal etwas Schützendes und manchmal auch beides gleichzeitig. Ich schaute mir diesen riesigen Krater an und fragte mich, wie das wohl so war, wenn der ausbrach und dann über alles drüberejakulierte: über Sorrento, Torre del Greco, Napoli, einfach über alles drüber und ins Meer hinein.
Täglich fuhren wir mit Sammeltaxis von der Fascho-Wohnung zur Haltestelle der Circumvesuviana, jener heruntergekommenen Bahn, die nach Napoli und an der Küste entlang um den ganzen Vulkan herumfuhr. Aus den Boxen in diesen Sammeltaxis dröhnten manchmal irgendwelche Best-of-Reggaeton-Playlists und ich starrte raus auf den Verkehr, den ich nicht verstand.
Vier Jahre zuvor war ich gerade eben in Lima angekommen und fuhr mit Gabriela in Bussen und Taxis durch die verstopften Straßen der absurd großen Millionenstadt, aus den Boxen dröhnten entweder Cumbia-Klassiker oder die aktuellen Reggaeton-Hits. Manchmal durchquerten wir so die ganze Stadt, um an der Promenade entlangzugehen und irgendwo Ceviche zu essen, während vom Meer her Wind kam und man draußen vor Lima eine schwarze, felsige Insel liegen sah, die nur von Vögeln bewohnt und vor hundertfünfzig Jahren Grund für einen Krieg zwischen Peru und Chile gewesen sei, wie mir Gabriela erklärte.
Einmal fuhren wir in die Anden und Gabriela heiratete in einem ländlichen Amtsgebäude, in dem es von der Decke tropfte und die Wände Risse hatten, einen Peruaner. Aus einem alten Radio schepperte traditionelle Musik, die hauptsächlich aus unerklärlich hohen Jauchzern bestand. Diese Musik erinnerte mich an das Appenzell und Gabriela erzählte mir später, dass es hier in der Gegend Bräuche gebe, die ganz ähnlich seien wie das Silvesterklausen, mit Masken und Tänzen.
Bei der Hochzeit war ich Trauzeugin und unterschrieb ein Dokument, von dem ich kein Wort verstand. Danach aßen wir Pachamanca, das traditionelle Gericht dieser Region, es bestand aus drei verschiedenen Fleischarten und ebenso vielen Kohlenhydraten: Schwein, Meerschwein, Hühnchen, Kartoffeln, Yucca und Mais. Dazu tranken wir trüben, lauwarmen Kräuterschnaps, die Sonne brannte auf uns nieder, und jedes Mal, wenn sich eine Wolke davorschob, wurde es augenblicklich sehr kühl. Gabriela spielte mit ihrem Ehemann eine Runde Tischtennis im Garten des Restaurants, hinter ihnen tat sich eine weite Ebene auf, am Horizont türmten sich Wolken und eine Bergkette. Ich saß auf einem Plastikstuhl an einem Plastiktisch mit der Familie des Bräutigams und verstand kein Wort von dem, was sie sagten.
Kurz darauf trennte sich Gabriela von ihrem Ehemann und wir reisten Richtung Norden, die beiden liebten sich zwar, aber die Heirat war nur fürs Papier gewesen und Gabriela wollte nach einem Jahr endlich raus aus Lima, dieser unerträglichen Stadt.
Gabriela und ich waren ein halbes Jahr zusammen unterwegs, meistens war noch eine dritte Person dabei und meistens war das ein Mann, den wir irgendwo aufgelesen hatten, ein Argentinier, ein Ecuadorianer oder ein Peruaner. Wir hatten es immer gut, und manchmal hatte Gabriela mit diesem Argentinier, Ecuadorianer oder Peruaner Sex, während ich im selben Bett lag und tief schlief.
Nachdem wir im kolumbianischen Urwald zwei lange Nächte lang auf Ayahuasca getrippt hatten, begannen wir, Städte zu meiden, und hingen nur noch in kleinen, halbtouristischen Dörfern ab. Einmal landeten wir in einem dieser Dörfer, das sehr klein war und rundherum in den Hügeln Kaffeefarmen, so weit das Auge reichte. Damals war es ein Mexikaner, der uns begleitete und der Nacht für Nacht zwischen uns schlief. C.s linke Körperhälfte war voller Tätowierungen und Narben und in seinem Bein steckten noch ein, zwei Kugeln,