Das Ideal des Kaputten. Jessica Jurassica

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Название Das Ideal des Kaputten
Автор произведения Jessica Jurassica
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906913285



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beschissen läuft. Die meisten trauten sich nicht einmal zu klagen, manche schon, und die klagten dann jämmerlich vor sich hin, meist in einem kindlich-trotzigen Tonfall, und alle waren unzufrieden, aber niemand wollte irgendwas tun, weil sie viel zu bequem waren oder einfach nur paranoid. Und wenn dann doch mal wer was unternahm gegen die Medienkrise, gegen die Aktionäre und die Entlassungen, dann machten sie einen auf Französische Revolution. Aber ein Scheiß war das Französische Revolution. Es war nur Ausverkauf, eine berechnende Vermarktung aufgeblasener demokratischer Ideen.

      Die Journalisten aus Zürich sagten mir, ich stünde am Anfang einer großen Karriere. Also konzentrierte ich mich auf diese Karriere, die noch keine war, sondern nur eine Häufung von Einladungen zum Kaffee auf Zürcher Redaktionen, während mich noch immer niemand fürs Schreiben bezahlte. Ich wusste die ganze Zeit über nicht, was es mit diesem verdammten Kaffeetrinken auf sich hatte, ob es jetzt da doch wieder ums Ficken ging, und obwohl ich überhaupt keine Lust hatte, nach Zürich zu fahren, nahm ich irgendwann die vielversprechendste Einladung an. Eigentlich hatte ich vorgeschlagen, dass man sich in Olten treffen solle, weil das genau zwischen Zürich und der Bundeshauptstadt liegt, aber diese Zürcher Edelfeder war zu beschäftigt damit, Französische Revolution zu spielen, um nach Olten zu fahren, also sollte es doch Zürich sein.

      Ich fuhr dann nicht hin, weil ich in der Nacht zuvor zu viel Amphetamin gezogen und zu viel Alkohol getrunken hatte und den ganzen Tag im Bett lag oder über der Kloschüssel hing. Die Edelfeder war sowieso nicht zu erreichen, als es darum ging, einen Treffpunkt zu vereinbaren. Er antwortete einfach nicht auf meine Nachrichten und meldete sich auch später nicht mehr. Aber es war mir egal, es kam mir sogar gelegen, ich hatte echt keine Lust, mich aus dieser Stadt rauszubewegen. Diese Stadt, die, wenn man ein paar Jahre hier lebte, an einem zu haften begann, als wären die Sandsteinmauern mit Klebstoff überzogen, und trotzdem traf man, sobald es warm wurde, in der Spitalgasse und im Rosengarten nur Touristen, und wie jeden Sommer verschwanden ein, zwei von ihnen in der Aare und wurden dann irgendwo unten Richtung Bremgarten tot aus dem Wasser gefischt.

      Irgendwann in diesem Scheiß-Sommer, während ich in meiner kolumbianischen Hängematte lag, wurde ich fünfundzwanzig und ich hörte Lil Uzi Vert, der darüber rappte, dass alle seine Freunde tot waren, obwohl er erst fünfundzwanzig war.

      Vor einem Vierteljahrhundert wurde ich also geboren, crazy, dachte ich. Ich kam auf einem Bauernhof fast ganz unten in einem Tal im Appenzeller Hinterland auf die Welt. Es war morgens kurz vor acht, mein Vater stand mit den Stallstiefeln in der Stube, während mich meine Mutter aus sich rauspresste und vor dem Haus die Esel schrien.

      Es gab kaum elektrisches Licht in diesem Tal, keine Straßenlaternen, und nachts schien der Mond rot auf die Hügel drauf und in die Täler rein. Nur ganz unten im Tal, da schien nicht einmal die Sonne hin, dort war es immer ganz dunkel und alles ständig von einer modrigen Nässe überzogen. Im Winter schichtete sich das Eis und schloss alles in sich ein und dann wurde es jeweils ganz still – für ein paar Wochen oder Monate.

      Inzwischen war ich natürlich schon lange aus diesem Tal geflüchtet, wie alle anderen auch, die nicht schwanger geworden waren als Teenager oder sich und andere gegen einen Baum und totgefahren hatten mit ihren übermotorisierten und tiefergelegten Subarus. Ich lebte nun also in Bern und hier wurde ich fünfundzwanzig, und während ich fünfundzwanzig wurde, lag ich in dieser kolumbianischen Hängematte und Lil Uzi Vert rappte in Endlosschlaufe:

       All my friends are dead

       All my friends are dead

       All my friends are dead

      Meine Freunde waren noch nicht tot, höchstens Freunde von Freunden waren tot. Jemand hatte sich mal auf Ecstasy eine Kugel in den Kopf gejagt, weiß der Teufel warum, jemand hing eines Tages im idyllischen WG-Garten am einzigen Baum, der da stand, und die von früher, also die von damals, als ich noch in diesem Tal bei meinen Eltern gewohnt hatte, die hatten sich eben totgefahren. Und meine erste große Liebe, die war auch tot.

      Ich ging jedenfalls davon aus, dass meine erste große Liebe tot sein musste. M. hatte mir gesagt, dass er krank sei und wohl sterben werde und dass er ein Schmetterling sei oder irgend so ein Scheiß. Er sagte das, als wir eines Nachmittags auf MDMA in seiner Wohnung rumlagen und Portishead hörten.

       Wild, white horses

       They will take me away

       And my tenderness I feel

       Will send the dark underneath

       Will I follow?

      Ich lag in seinem Schoß, schaute mit großen Pupillen zu ihm hoch und weinte.

      Kurz nach diesem Nachmittag, den wir verballert auf seiner Couch verbracht hatten und an dem ich, soweit ich mich erinnern konnte, zuletzt überhaupt geweint hatte, brach unser Kontakt ab. Ich war schon lange in eine andere Stadt gezogen und er hatte schon lange sein Facebook-Profil gelöscht. Und weil auch auf sonst keinem Kanal ein Lebenszeichen von ihm kam, dachte ich, dass er wohl wirklich tot sein musste, das hätte irgendwie zu ihm gepasst. Aber nach einem Jahr oder so kam dann doch wieder eine SMS: Sorry, war mal wieder Psychiatrie, haha, hast du mir die Nummer von … Ich hatte keine Ahnung, wessen Nummer er wollte, und er schrieb dann auch nicht mehr zurück, ich glaube, er war schon wieder voll in der Psychose.

      Ich fand das immer ziemlich attraktiv an ihm, dass der so psychotisch war. Als wir das erste Mal miteinander sprachen, saßen wir irgendwann unter der Woche am frühen Abend in der Südostbahn. Die Südostbahn fuhr von Rapperswil her Richtung St. Gallen quer durchs Toggenburg und streifte dazwischen irgendwo noch kurz das Appenzeller Hinterland. M. war aus dem Toggenburg und ich aus dem Appenzeller Hinterland, also aus dem hintersten Hinterland, wo praktisch nur noch auf Acid hängen gebliebene Aussteiger-Hippies lebten und Kleinbauern in der zehnten Generation und alle hatten Alkohol- und Aggressionsprobleme. Die Bauern im Tal ertränkten im Frühling die in unkontrolliertem Ausmaße geworfenen Katzen kurz nach ihrer Geburt in den Brunnen vor den Häusern und im Sommer prügelten sie ihre Kinder auf die Heuwiesen.

      Die nächste Kleinstadt lag unerreichbar weit weg, und die Kinder aus dem Dorf und von unten im Tal hingen im Winter in der einzigen Telefonzelle ab, direkt neben dem Friedhof und der Kirche, weil es sonst keinen Ort gab, an dem man hätte sein können. Der letzte Bus war schon längst gefahren und würde auch so bald nicht mehr wiederkommen. Doch die Kinder von ganz unten im Tal waren froh, wenigstens ein wenig Sonnenlicht zu haben oder den Säntis zu sehen und den Sternenhimmel. Aber nach ein paar Jahren schauten auch sie kaum mehr hin. Manchmal riefen sie aus der Telefonzelle beim Sorgentelefon an, aus Neugierde oder Langeweile. Vielleicht auch, weil sie tatsächlich Sorgen hatten. Und einmal im Jahr gab es ein großes Fest, alle waren da und betranken sich, die Kinder durften Zigaretten oder andere Rauchwaren konsumieren und übergaben sich dann in die Büsche, weil sie das Nikotin nicht vertrugen.

      Ich traf also M. zwischen diesem Tal im Appenzeller Hinterland und dem Toggenburg in der Südostbahn, es war Sommer und für mich war es ein ziemlich beschissener Sommer, ich hatte soeben die Schule fertig und befand mich in einem sehr unangenehmen postpubertären Vakuum. Ich fuhr jeden Abend mit der Südostbahn nach St. Gallen, setzte mich in eine Bar an der Metzgergasse und trank ein paar Bier mit den Stammgästen da, von denen die meisten männlich, arbeitslos und gegen die vierzig waren, oder jedenfalls sahen sie so aus. Hin und wieder war einer für eine Weile weg, und wenn er wiederkam, behauptete er, in den Ferien gewesen zu sein, in Spanien oder so, manchmal sagte er auch gleich, dass er im Knast gewesen war.

      M. und ich verkehrten beide in dieser Bar, von da kannten wir uns flüchtig, deshalb setzte ich mich damals in der Südostbahn zu ihm. Er erzählte, dass er soeben bei seinem im Sterben liegenden Großvater gewesen sei, er hatte gerötete Augen, er hatte geweint, und ich war nervös, weil ich ihn mit den verweinten Augen attraktiv fand. Am Bahnhof nahm er den Bus und ich ging zu Fuß, obwohl wir beide in die Metzgergasse wollten und es vom Bahnhof bis dahin nur knapp fünf Minuten sind, aber er wollte nicht zu Fuß gehen mit seiner Tasche, in der sein gesamter Besitz drin war, wie er sagte.

      Ich wusste das erste halbe Jahr nicht, wo M. wohnte, ich glaube, er wohnte damals überhaupt