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des Kontinents; in Polen, Böhmen und Ungarn schließlich entstehen neue Metropolen, werden neue Kathedralen errichtet und neue Universitäten gegründet.

      Die Versuchung, einen einzelnen Mann, und sei er noch so herausragend, lediglich als Aufhänger für die Schilderung eines von Krisen geschüttelten Zeitalters zu benutzen, war groß. Doch nicht weniger gering war die Gefahr, nichts als die spannende Lebensbeschreibung eines Königs von der Wiege bis zum Grab zu präsentieren. Für beides hätte es eine solide Grundlage gegeben. Doch erst in der Schnittmenge beider Perspektiven lässt sich einerseits Karl IV. als Individuum anschaulich darstellen und andererseits der methodische Ansatz auf den Prüfstand heben. In der Tat geht es in diesem Buch weniger um die Lebensumstände eines einzelnen Mannes als vielmehr um Fragen, die eine Betrachtung der Epoche, in der er lebte, im Licht seiner Überlegungen und Bedenken aufwirft. Aus den von ihm eingeführten Neuerungen – das Regieren durch Wort und Bild, die Verwaltung einer Vielfalt von Territorien und Kulturen, die Umstrukturierung seines Reiches, die Annäherung der Randbereiche an die Mitte, die Anbindung von Ost- und Westeuropa oder die Begründung einer Tradition – ergab sich für die Zeitgenossen Karls IV. ein Problem, das auch heutige Historiker beschäftigt und dessen sich der Kaiser zweifellos mehr als jeder andere bewusst war: die Frage nach dem Individuum und seinem Aufstieg zum Herrscher. In diesem Fall das Problem der Definition und Darstellung der Person des Königs, die, allen Porträts, Unterschriften, Siegeln und seiner Autobiografie nach zu urteilen, im 14. Jahrhundert trotz – höchstwahrscheinlich sogar aufgrund ‒ aller Wirren eine neue Dimension erhielt.13 Insofern geht es in dieser biografischen Annäherung unter anderem um eine Form der Selbstfindung.

      Doch ist ein solcher Ansatz angesichts einer mittlerweile offenbar global ausgerichteten Geschichtswissenschaft, die ihren Blick auf die ganze Welt und alle Jahrtausende erweitert, überhaupt noch zeitgemäß? Diese Frage legt zwei Arten der Annäherung nahe: über die Erinnerung und über die Geschichte. Beide sind untrennbar und dennoch grundverschieden, und gerade ihre Verknüpfung ist für Historiker von Interesse.

      Erinnerung

      Zunächst die Erinnerung. Was Karl IV. von Luxemburg (1316–1378) betrifft, wüssten tschechische Leser die im Raum stehende Frage kurz und knapp zu beantworten. Jede Umfrage im Land würde den Spitzenplatz bestätigen, den dieser Monarch im kollektiven Gedächtnis und Selbstverständnis als Pater Bohemiae oder Pater patriae einnimmt,14 zweifellos auch infolge seiner Stilisierung zum tschechischen Nationalhelden im 19. Jahrhundert.15 Weder die Integration Böhmens in das Österreich-Ungarische Kaiserreich der Habsburger bis 1918 noch die schwierige Geburt der Tschechischen Republik zwischen den Weltkriegen noch die Annexion durch das NS-Regime 1939 konnten diesem Erinnerungsgebäude das Geringste anhaben. Auch die Tschechoslowakische Sozialistische Republik (1948–1989) trübte keineswegs dieses Bild, das übrigens die Kommunisten bei ihrer Machtübernahme im Zuge des Februarumsturzes 1948 sehr geschickt zu instrumentalisieren wussten. Diese kollektive Symbolik und Erinnerung an den großen Karl IV., auf einer Stufe mit dem Reformator Jan Hus, den das Konzil von Konstanz 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ, als legendären Gründer des böhmischen Staates und Beschützer der tschechischen Sprache im Mittelalter, wurde bei der Samtenen Revolution 1989 ebenso reaktiviert und mobilisiert wie bei der Teilung in Tschechien und die Slowakei 1993. Bereits ein kurzer Spaziergang durch Prag zeigt, wie präsent Karl IV. noch immer in der Stadt ist, von der Karlsbrücke mit ihrem Figurenschmuck bis zu den Mosaiken und Büsten im und am Veitsdom. Die Universität, Orte und Straßen sind nach ihm benannt, Hotels und Speisekarten schmücken sich mit seinem Namen. Das Andenken an den großen König ist allgegenwärtig. Nur wenige andere Bauwerke in Europa sind bis heute so fest mit der Erinnerung an eine einzige Person verbunden wie die rund 20 Kilometer vor den Toren Prags gelegene Burg Karlstein, die nicht nur kaiserliche Residenz, sondern auch privater Rückzugsort war und als Schatzkammer für die Reichskleinodien und Karls IV. Reliquiensammlung diente und damit zum Inbegriff einer einzigen Regierungszeit, eines einzigen Königs und all dessen, was ihn antrieb, wurde.

      Doch wie steht es außerhalb Tschechiens? Sobald man die Grenze hinter sich lässt, verblasst das Bild Karls IV. rasch, doch im Gebiet des einstigen Königreichs Böhmen wird sein Andenken noch immer gepflegt. Vor allem ist Karl IV. ein Musterbeispiel für die großen Könige des Raumes, den wir in der Neuzeit unter dem im Spätmittelalter noch unbekannten Begriff „Mitteleuropa“ kennen und der im Laufe der letzten tausend Jahre umfassendere Grenzverschiebungen erlebte als jeder andere Teil des Kontinents.16 Das gilt auch für Böhmens großen Nachbarn Deutschland mit seiner lebendigen Erinnerung an Karl IV., vor allem als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und damit als ein Kettenglied in der langen Reihe von Königen und Kaisern, die bis 1806 über ein Gebiet herrschten, das doppelt so groß war wie die heutige Bundesrepublik. Er sprach Deutsch, residierte häufig im Land und ließ dort Schlösser, Burgen und andere Bauwerke errichten, von denen einige noch heute existieren. Über Heiraten und überkreuzte dynastische Bündnisse knüpfte er enge Bande zu den Fürstenhäusern von Bayern, Brandenburg und Österreich. Vor allem aber schenkte er diesem Flickenteppich aus Reichsstädten, Fürstentümern und Königreichen mit der 1356 verkündeten Goldenen Bulle die einzige dauerhafte „Verfassung“ des ausgehenden Mittelalters. Bis zum Untergang des Reiches zu Beginn des 19. Jahrhunderts legte dieses Dokument fest, dass der römisch-deutsche König in Frankfurt von den deutschen Fürsten gewählt und in Aachen gekrönt wurde und damit für die Kaiserkrone designiert war.17 Der unvollendet gebliebene Text ist die älteste und langlebigste Erbfolgeregelung des Abendlands und führt neben der Erblichkeit den Grundsatz der Königswahl durch die Kurfürsten ein, der nicht nur das politische Denken Europas langfristig prägte, sondern in Deutschland eine Territorialstruktur entstehen ließ, die auf Gleichgewicht, Kompromissbereitschaft und Zusammenhalt fußte.

      Die kaiserliche Residenz Burg Karlstein.

      Natürlich darf in diesem paneuropäischen Panorama des Gedenkens auch Luxemburg nicht fehlen, das als Stammhaus und Familiensitz Karls IV., als Grafschaft und späteres Herzogtum in der hier behandelten Epoche ein strategisch wichtiges, wohlhabendes Gebiet zwischen Flandern, dem Königreich Frankreich und den deutschsprachigen Ländern bildete. Für die Grafen von Luxemburg wendete sich das Blatt 1308 mit der Wahl von Karls Großvater Heinrich VII. zum römisch-deutschen König und seiner Kaiserkrönung 1312 in Rom. Karl IV. erbte hierdurch ein Fürstentum, dem es in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gelang, drei Teilstücke in seinen Besitz zu bringen, die den Bogen vom Westen bis zum Osten Europas schlagen konnten: Luxemburg, das Heilige Römische Reich und Böhmen. Aus diesem Ehrgeiz, dieser Herausforderung speist sich das Andenken der Luxemburger an eine Dynastie, die nach dem Tod von Karls Zweitgeborenem Sigismund keinen europäischen Monarchen mehr stellte. Man darf sich aber durchaus ausmalen, was aus Europa bis zur Französischen Revolution geworden wäre, hätten die Habsburger die Luxemburger nicht abgelöst.18 Zumindest die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland in der Neuzeit hätten sich völlig anders entwickelt, doch auch der Kontinent sähe anders aus.19

      Apropos Frankreich: Mit ziemlicher Sicherheit gehört der König, über den wir hier sprechen, im kollektiven Gedächtnis der Franzosen nicht zu den herausragenden Vertretern des Mittelalters. Dennoch bildete vor allem im 14. Jahrhundert das Bündnis zwischen den Luxemburgern und den Kapetingern und später dem Haus Valois in diesen beiden Reichen eine diplomatische Konstante, vor allem in der Frühphase des Hundertjährigen Krieges. Karl IV. wurde nach Karl IV. von Frankreich benannt, verbrachte sieben Jahre in Paris, heiratete in dieser Zeit eine französische Prinzessin und gestaltete seine eigene Hauptstadt Prag nach französischem Vorbild. Auch hinsichtlich Kunst und Kultur lässt sich durchaus von einem kontinuierlichen Austausch zwischen beiden Höfen sprechen.