Karl IV.. Pierre Monnet

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Название Karl IV.
Автор произведения Pierre Monnet
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783806242737



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in Acht! Auch eurem Vater könnt ihr sagen, er solle sich vor solchen Sünden hüten.‘ […] Plötzlich waren wir wieder an unseren alten Ort zurückversetzt, während der Morgen schon graute. […] Da ließ der Vater uns rufen und fragte, ob das wahr sei und wir das so gesehen hätten. Wir antworteten ihm: ‚Herr, seid versichert, der Dauphin ist tot.‘ Der Vater aber schalt uns: ‚Glaub‘ doch nicht an Träume!‘ […] Nach einigen Tagen brachte ein Bote die Nachricht, der Dauphin sei […] gestorben. Als unser Vater diese Nachricht hörte, sagte er: ‚Wir wundern uns sehr darüber, denn unser Sohn hat uns dessen Tod vorhergesagt.‘“1

      Für Historiker ist eine solche Traumschilderung2 eine wichtige Quelle, die sich jedoch als Falle erweisen kann, vor allem, wenn der Verfasser über sich selbst spricht, denn die Versuchung, sich der Person besonders nahe zu glauben, ist umso größer.3 Sei es aufgrund des Einblicks in ihr Innenleben, den ein Traum besser als jedes andere Ereignis in ihrem Leben zu gewähren scheint, sei es aufgrund der Aussagen dieser Person über sich selbst, wie sie im Übrigen jedes „autobiografische“ Zeugnis beinhaltet. Als autobiografisch darf der Text – mit den üblichen Vorbehalten – eingestuft werden. Sein Verfasser war Karl IV., geboren 1316, gestorben 1378, Herrscher über Luxemburg, Böhmen, Mähren und Brandenburg, deutsch-römischer, lombardischer und burgundischer König und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs.4 Der Traum, den er 1333 träumte, bietet viele Ansätze für eine verführerische, wenn auch trügerische Annäherung. Finden sich darin nicht sogar Stichworte für eine tiefenpsychologische Analyse? Eine moderne Lesart könnte eine zwanghafte Beschäftigung mit dem Tod (des Dauphins) und der Sexualität (Amputation der Genitalien), den Vater-Sohn-Konflikt, die augenscheinliche Spaltung von Körper und Geist sowie die hellseherische Vorahnung hervorheben. Eine solche (Psycho-)Analyse würde jedoch den festen Platz, den die mittelalterliche Gesellschaft jedem Einzelnen, zumal einem König, zuwies, völlig unberücksichtigt lassen, und sie würde ausblenden, dass die Geschehnisse aus der Erinnerung niedergeschrieben wurden. Denn als die Vita in den Jahren 1349/50 entstand, war ihr Verfasser bereits 33 Jahre alt, so alt wie Jesus Christus bei seinem Tod.

      Doch auch wenn wir uns vor Anachronismen hüten, bleibt die königliche Traumerzählung aufschlussreich. Sie gliedert sich in drei Schritte: den Traum selbst, die Erinnerung an ihn und die Niederschrift. Ganz zu Beginn „spricht“ der Traum. Er eröffnet den unmittelbaren Dialog zunächst zwischen Engel und Träumendem, später zwischen Vater und Sohn. Danach lässt er den Träumenden eine Reihe bewegter Szenen „sehen“. Und wie der Traum ist auch die Wiedergabe in drei Phasen unterteilt: Aufstieg, Vision und Schilderung. In der Niederschrift Karls oder desjenigen, dem er diktierte, ist der Traum weder Trugbild noch Lügengespinst, sondern Ausdruck der Überzeugung, dass Gott sich Karl im Traum offenbart hat. Hierin liegt der grundlegende Unterschied zwischen dem modernen „psychoanalysierten“ Traum und dem mittelalterlichen Traum. Für die Menschen des 14. Jahrhunderts enthüllte ein Traum keine verborgenen oder verdrängten Aspekte der Seele, sondern eine von außen kommende Botschaft, die dem Träumenden aufzeigte, welchen Weg er als Christ und als König einschlagen sollte – als Christ insofern, als der Wortlaut mit Zitaten aus der Heiligen Schrift gespickt ist, und als König, weil der Traum einer Erweckung ähnelt, symbolisiert durch den Aufstieg zum Himmel und die Rückkehr zur Erde.

      Könnte es in dieser Schwebe zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Heranwachsenden und dem gestandenen Mann, zwischen dem jugendlichen Prinzen und dem späteren König, zwischen privater und erlauchter Person, an diesem Übergangsort also, der an das gut erforschte Sinnbild des Fegefeuers erinnert,5 nicht auch um persönliche Freiheit gehen – hier in Gestalt einer autobiografischen Traumerzählung? Dieses Zwischenreich bildet auch den Raum, der das christliche vom königlichen Subjekt trennt und die beiden zugleich eint. Nach der biblischen Überlieferung kennzeichnen Träume, die eine Wahrheit enthüllen, Personen höchster Autorität, und in der Tradition von Konstantin bis zu Karl dem Großen zeigte der Traum eines Königs immer dessen Macht an. Das Bewusstsein seiner selbst galt als königliche Tugend, verknüpft mit der Überzeugung, nur ein König, der seinen eigenen Körper beherrsche, könne auch sein Reich beherrschen. In der Welt, in der Karl IV. aufwuchs und regierte, bildete der Traum das Bindeglied zwischen den Lebenden und den Toten, Himmel und Erde, Vätern und Söhnen und regte einen politischen Diskurs über das Königtum an. Vielleicht ist gerade dieser Aspekt das Neue an dieser Traumerzählung: Karl ist König nicht trotz, sondern aufgrund des Traums. Vielleicht war es erst in jenem Jahrhundert und erst für diesen König überhaupt möglich, sich so zu äußern. Doch über welches Jahrhundert sprechen wir hier?

      Das 14. Jahrhundert

      Das 14. Jahrhundert – soweit diese Einteilung Historiker noch überzeugt6 – hat einen schlechten Ruf. Das Zentennium zwischen dem glänzenden 13. Jahrhundert mit seinen aufblühenden Städten und seinem demografischen und wirtschaftlichen Wachstum, und dem 15., das bereits einen Vorgeschmack auf die Neuzeit gab, ist gleichbedeutend mit Seuchen, Hungersnöten und Kriegen.7 Es wirkt wie der Inbegriff all der Ängste, die sich in einer uralten Litanei widerspiegeln: „Herr, erlöse uns von der Pest, vom Hunger und vom Krieg.“ Nicht genug, dass ab 1318 erste Missernten die Kleine Eiszeit ankündigten, zwischen den beiden größten Königreichen des Abendlands – Frankreich und England – Krieg ausbrach, der gesamte Alpenraum im Januar 1348 von einem bis Venedig spürbaren Erdbeben erschüttert wurde, 1338 und 1346 Schwärme von Heuschrecken über Europa herfielen, die Pest ab 1347 innerhalb weniger Jahre 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung dahinraffte und blutige Pogrome in Hunderten jüdischer Gemeinden auslöste und eine Währungskrise eintrat, zerriss 1378 zu allem Überfluss das Abendländische Schisma die Christenheit. Ein Jahrzehnt lang erschütterten immer wieder Aufstände die großen Städte, und schließlich drangen die Türken nach ihrem Sieg in der Schlacht bei Nikopolis 1396 in das christliche Europa vor.8 Dieses von Todeshauch durchwehte Zeitalter, ferner Spiegel9 unserer eigenen Ängste, inspirierte Historiker seit der Renaissance zu gewaltigen, düsteren Tableaus von verblüffender Aktualität in ihrer Voraussage, das Anthropozän werde zunehmend durch Wirren geprägt sein. Und dennoch schrieb Johan Huizinga in Herbst des Mittelalters 1919 – bezeichnenderweise unmittelbar nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs –, diese Epoche habe den „Geruch von Blut und Rosen in einem Atemzug“ ertragen.10 Nicht zuletzt war das 14. Jahrhundert auch die Epoche, in der Karl V., genannt der Weise, seine Bibliothek gründete, Petrarca und Dante, Froissart und Christine de Pizan schrieben, die Fresken der Guten und der Schlechten Regierung in Siena entstanden11 und Jean de Mandeville von seiner Reise ins Heilige Land berichtete, der Papstpalast in Avignon gebaut, in Brügge die erste Börse gegründet wurde und Venedig sich als wirtschaftliche Weltmacht etablierte.

      Und es ist auch das Jahrhundert Karls IV., inmitten einer umfassenden Verschiebung oder eher noch Neuausrichtung der Machtverhältnisse zwischen West und Ost in Europa. Karl IV. ist Zeuge und zugleich Akteur dieses Wandels, der vielleicht erst dazu führte, dass dieser Teil des Kontinents sich als Europa zu verstehen beginnt.12 Die bedeutendsten Messen finden nun nicht mehr in der Champagne statt, sondern in Flandern, in den Städten am Rhein, in Frankfurt und in Leipzig; Silber aus den Minen in Kuttenberg, Freiberg und Iglau überschwemmt die Münzprägestätten in ganz Europa; die Nürnberger Hütten verarbeiten Luppen aus Rennöfen in der Oberpfalz, im Bayerischen Wald, Niederösterreich und dem Erzgebirge zu Eisenwaren für das ganze Abendland; Süddeutschland orientiert sich an den dynamischen Innovationen Norditaliens; die Hanse erhält 1358 eine konkrete Struktur und dominiert den