Todesrunen. Corina C. Klengel

Читать онлайн.
Название Todesrunen
Автор произведения Corina C. Klengel
Жанр Ужасы и Мистика
Серия
Издательство Ужасы и Мистика
Год выпуска 0
isbn 9783947167081



Скачать книгу

sich einer Sache zu widmen, die über das Erklärbare hinausging?

      Hederas Blick fiel auf die Manuskriptseiten ihres Buchentwurfes auf dem Arbeitstisch in ihrer Apotheke. Sie hatte einen Weg gefunden, die Sage am Leben zu erhalten. Ein Weg, der vielleicht der falsche war, doch sie hatte keine Wahl mehr. Nicht mehr, seit er zurückgekommen war. Nach seinem Tod hätte es vorbei sein sollen. Aber er lebte und er würde seine Suche nach dem Artefakt fortsetzen.

      Sie musste ihre Tochter warnen, ihr so vieles erklären, aber würde Tilla die Gefahr überhaupt begreifen? Sie wusste, ihre Tochter war eine Kämpferin, wenn es sein musste. Doch zurzeit ging sie noch allem aus dem Weg, was nach Anstrengung, Verantwortung oder gar nach dem alten Glauben roch. Hedera seufzte tief. In der heutigen Welt war kein Platz für Magie. Für Hedera hingegen war es Teil ihres Lebens. Nicht nur die Historie, auch die Natur bestimmte ihr Leben. Sie war Heilpraktikerin. Einige ihrer Patienten kamen von weit her, um sich von ihr behandeln zu lassen. Ausnahmslos alle gingen ruhiger und zufriedener, als sie gekommen waren, obwohl sie keineswegs alle heilen konnte. Sie konnte so vielen helfen. Warum war sie zeit ihres Lebens an ihrer Tochter gescheitert?

      Mit professionellem Blick überprüfte Hedera die kopfüber hängenden Pflanzen. Mit zarten Bewegungen befühlte sie hier die Festigkeit eines Stängels, dort den Restfeuchtegehalt einer Blüte. Der Göttin sei dank war der Sommer etwas trockener gewesen als der vorangegangene. Die Pflanzen waren langsamer gewachsen und hatten mehr Wirkstoffe ansammeln können. Sie war zufrieden mit ihrer Ernte. Zart strichen ihre Finger über die filigranen Blüten, die ihre Farbe noch immer nicht verloren hatten. Würden sie je zur Anwendung kommen? Zweifelnd sah sie sich in ihrer Apotheke um, die viele hundert, zum Teil sehr seltene Kräuter beherbergte. Nein, es würde nicht mehr lange dauern, bis er sie gefunden hatte.

      Hedera vertrieb die schmerzhafte Erinnerung. Liebevoll strich sie ihrer Katze, die selbstsicher auf dem Fensterbrett thronte, über den schwarzseidigen Kopf und ging dann nach draußen, um die letzten Strahlen der Herbstsonne zu genießen. Paris sprang elegant von ihrem Thron und folgte Hedera zu der Bank unter der Linde, wo sie sich genüsslich auf dem kleinen hölzernen Tisch zusammenrollte. Hedera wusste, dass sich bald der Kreis ihres eigenen Lebens schloss. Aufgrund ihres Glaubens hatte sie keine Angst vor dem Tod, aber dass durch ihren Tod etwas unendlich Wichtiges unvollendet bleiben könnte, beunruhigte Hedera viel mehr.

      Sie wusste mittlerweile, was dieser vermaledeite Gegenstand im Laufe der Zeit schon alles angerichtet hatte. Zuletzt hatten Hitlers Schergen danach gesucht, der Göttin sei Dank erfolglos. Dann war er gekommen und hatte sie so umschwärmt. Doch eigentlich hatte er nur das Artefakt im Sinn gehabt. Wie hatte sie nur glauben können, dass er Gefühle für sie hegte?

      Aber wie sollte sie Tilla all das erklären? Ihre Tochter, deren beste Freunde Computer, Fernseher und ihr elektronisches Spielzeug waren. Nur ihr Name Tilia – die Linde – erinnerte noch an die Göttin Erde. Doch sie verweigerte sich sogar ihrem Namen. Immer hatte sie sich selbst lieber Tilla genannt. Ihre kleine Tochter, die in ihrem toten Vater einen Helden sah. Hedera schloss die Augen. Würde Tilla die Wahrheit verkraften? Sie musste. Es wurde Zeit, dass sie erwachsen wurde. Bei ihren keltischen Urahnen galten Kinder mit zwölf Jahren als erwachsen. Ihre Tochter hatte wirklich lange genug Zeit gehabt.

      Hedera saß noch eine Weile in ihrem geliebten Garten und beobachtete das Spiel des Windes mit den Blättern und Ästchen, bis ihr zu kühl wurde und sie ins Haus ging. Im Wohnzimmer glitt ihr Blick über die Fotografien an der Wand. Wie schon so oft musste sie lächeln. Da gab es ein Foto von Tilla, auf dem sie übermütig einen Waldweg entlanglief und sich auf Hederas Zuruf hin umdrehte. Daneben hing ein uraltes Foto von ihr selbst. Ihre Miene hatte damals die gleiche Unbekümmertheit gehabt wie die von Tilla auf dem Foto daneben. Es musste wohl ein Jahr vor dem schrecklichen Abend aufgenommen worden sein. Es war fast schon unheimlich, wie sehr sie sich ähnelten. Tilla war etwas größer als Hedera, aber ihre Gesichter und vor allem ihr rotes Haar glichen sich so sehr, dass sie auf diesen Bildern Zwillinge hätten sein können. Eine Sache gab es aber doch, die sie beide unterschied. Von Tillas Augen glich nur eines den grünen Augen ihrer Mutter, das andere war von hellem Braun. Die verschiedenfarbigen Augen passten zu der Zerrissenheit ihrer Tochter.

      Hederas Lächeln wich einem schmerzlichen Ausdruck, denn sie wusste, sie musste die Fotos vernichten. Sie musste alles vernichten, was auf Tillas Existenz hinwies. Nur so konnte sie ihre Tochter schützen.

      Widerstrebend nahm sie die Bilder von der Wand und trug sie in die Küche. Ihr Blick fiel auf eine alte Kinderzeichnung, deren vergilbte Fläche bis zur kleinsten Ecke mit vielen hübschen Einzelbildchen gefüllt war. Hedera lächelte. Dieses Bild zeigte nicht nur das Zeichentalent ihrer Tochter, es offenbarte auch ihren unruhigen Geist, der seine Ideenfülle und seine Neugier auf Neues kaum zügeln konnte. Seufzend nahm sie das Bild von der Küchenwand und legte es auf den Stapel, der vernichtet werden musste. Hedera blickte auf den Platz in der Eckbank. Tillas Platz. Hier hatte ihre Tochter immer gesessen und die Zeilen der Tageszeitung durchpflügt, wenn dort ein Fortsetzungsroman abgedruckt worden war. Hedera lächelte bei der Erinnerung daran, dass ihre aufbrausende Tochter jeden Tag aufs Neue laut schimpfend kundgetan hatte, dass sie die nächste Folge jetzt und augenblicklich lesen wollte.

      Das war es! Die Idee, wie sie ihre Tochter erreichen konnte, kam geradezu elektrisierend. Tilia gierte nach all den Dingen, die sie nicht haben konnte. Sofort strebte Hedera an ihren Arbeitstisch. Das Manuskript, sie musste Tilia neugierig darauf machen. Entschlossen begann sie ihren Buchentwurf in einzelne Blätterhaufen zu unterteilen. Dann holte sie Umschläge, versah sie mit Tillas Göttinger Adresse und steckte in jedes Kuvert ein Teil der Geschichte um das sagenhafte Schwert Harcylugh, bis ein Stapel von Postsendungen vor ihr lag.D

      Kapitel 2

      Doch des Heldengeschlechts Enkel verhüllten Hermanns Namen,

      bis ihn Klopstock’s mächtige Harfe sang der horchenden Ewigkeit.

      Heil, Cheruskia, dir!

      – Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Harzgedicht, 1772 –

      Harcylugh – von H. Lleynwitch. Verwundert blickte Tilla auf die Papierbögen in ihrer Hand. Lleynwitch, die Hexen von Lleyn. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Ihre Familie war aus Wales nach Deutschland gekommen. Ihre Großmutter hatte noch den ursprünglichen Namen Lleynwitch geführt, bevor ihre Mutter Hedera ihren Familiennamen in Leinwig hatte ›eindeutschen‹ lassen.

       Dies ist die Geschichte des sagenhaften Keltenschwertes Harcylugh. Es entstand in einer Zeit, in der Magie ein ebenso notwendiger wie geschätzter Teil des Lebens der Menschen war. Über die Magie waren die Menschen mit ihren Göttern verbunden. Magie begleitete den ewigen Kreislauf des Jahres und des Lebens. Geführt von der Großen Göttin bemühten sich Menschen, es ihr recht zu tun und die große Waage im Gleichgewicht zu halten. Harcylugh – geschmiedet durch den Druiden Thurizan und geweiht durch die Götter des Harces – vereinte sowohl dunkle als auch lichte Kräfte in sich. Ob es Gerechtigkeit oder Vernichtung brachte, entschied sich durch die Seele dessen, der es führte. Stark, sehr stark waren seine magischen Kräfte. Eines Tages geriet die große Waage in Bewegung.

       Der Druide Thurizan, dem die Götter sehr zugetan, schuf das Artefakt des Kampfes, um den Untergang seines Volkes zu verhindern. Thurizans Stamm lebte am Tor zum harten Holze der Region Harcynia und gehörte zum alten, allerorts verschwindenden Volke der Celtae. Wie alle Menschen mied auch der Stamm von Thurizan die höher gelegenen Regionen des Harces. Natur und Wetter waren dort so launisch wie der frühe April.

       Die Götter liebten den Harce. Brigidh, die Himmelsgöttin, zog treu ihre Bahnen. Taranos ließ gern sein Rad des Donners über die Kuppen der Berge grollen, auf dass es in den Tälern widerhallte und das Moos neben den Bächen erzittern ließ und Lugh, der Lichtbringer, fing gern Taranos’ Blitze. Auch Cernunnos, dessen Haupt ein Hirschgeweih ziert, spielte hier seine machtvolle Magie der Fruchtbarkeit üppigst aus, sodass Wege an dem Dickicht wüchsiger Bäume und Pflanzen scheiterten. Harte Eichen, richtende Linden für das Thing, Buchen, in deren Spaltenstäbe Runen geritzt waren, und der immergrüne Lebensbaum,