Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper

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Название Der Mensch und seine Grammatik
Автор произведения Simon Kasper
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823300441



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können wir explizieren, wie wir unsere Gestik, Mimik und Intonation dabei nutzen sowie Faktoren der Situation in unser Sprechen und Interpretieren einbeziehen. Auch das tun wir einfach. Wir können also nicht davon ausgehen, dass die Sprachproduzenten mit einer historisch neuen Konstellation – Verfügbarkeit des Mediums Schrift und gleichzeitige Unverfügbarkeit der Mit- und Umwelt beim Schreiben und Interpretieren – sich auch schon darüber bewusst waren, dass das Schreiben neue Anforderungen an Schreiber, Geschriebenes und Interpretin stellt. Noch weniger dürfen wir davon ausgehen, dass sie schon über das Know-howKnow-how verfügten, wie die Leistungen kompensiert werden konnten, die die Mit- und Umwelt beim dialogischen Sprechen bisher übernommen hatten. Die frühen Schreiber und Interpretinnen mussten also wahrscheinlich zunächst einmal oft genug daran scheitern, geschriebene Sprache verständlich zu gestalten beziehungsweise gesprochene Sprache erfolgreich zu interpretieren, weil die Schreiber so schrieben, wie sie ansonsten sprachen. An diesem Scheitern mussten sie dann lernen, dass für die geschriebene Kommunikation eine andere Konzeption von Sprache erforderlich war.5

      Erst wenn Sprachnutzerinnen schreiben und sich dadurch Sprache vor Augen führen, werden sie darauf aufmerksam, dass ihre Hervorbringungen aus unterscheidbaren, voneinander abgesetzten Einheiten wie Buchstaben, Wörtern und (Teil-)Sätzen bestehen. Das schärft aber ein Differenzbewusstsein: ein Bewusstsein, dass eine Einheit im Geäußerten an dieser Stelle einen Unterschied macht, und dass diese Einheit an dieser Stelle nur eine Möglichkeit unter anderen ist.6 (Dazu zählt auch die Möglichkeit, nichts zu äußern und damit etwas mitzumeinen.) Das geschriebene Wort verschwindet mit seiner Entäußerung nicht sofort wieder im Nichts. Das führt dazu, dass die erste, automatischeAutomatismus oder routinisierteRoutine, Routinisierung Interpretation einer Äußerung nicht auch schon die endgültige Interpretation sein muss, wie dies beim gesprochenen Wort der Fall ist, das uns unter interpretativen Zeitdruck setzt. Die Möglichkeit, Äußerungen erneut zu inspizieren, macht den Schreiber und die Interpretin auf alternative Deutungen aufmerksam und verweist auf Alternativen der sprachlichen Gestaltung. Daran muss der Schreiber lernen, dass es maßgeblich in seiner Verantwortung liegt, nicht missverstandenverstehen zu werden, denn er hat – anders als beim Sprechen von Angesicht zu Angesicht – auf absehbare Zeit nur einen Verbalisierungsversuch. Das Papier wird ihn nicht auf Missverständliches aufmerksam machen, denn es ist bekanntermaßen geduldig. Dennoch objektiviert Schrift durch ihre Sichtbarkeit und Konstanz Sprache und lässt den Schreiber eine reflexive Distanz zu ihr gewinnen, lässt ihn auf Dauer sprachlich umsichtiger werden und ein analytischeres Denken entwickeln. Das hat vermutlich einerseits zu dem Bewusstsein geführt, dass man in der Rolle des Schreibers expliziter sein muss als in der Rolle der Sprecherin. Um den Interpretationserfolg sicherzustellen, hat dies historisch aber noch nicht ausgereicht. Das Explizierte musste nämlich nicht nur explizit sein, sondern auch korrekt auf die anderen Äußerungsbestandteile beziehbar sein oder, umgekehrt ausgedrückt, es mussten naheliegende, aber nicht intendierte Interpretationen bei den Leserinnen ausgeschlossen werden. Beim Übergang vom erfolgreichen dialogischen Sprechen zum erfolgreichen monologischen Schreiben haben wir daher damit zu rechnen, dass die Schriftkundigen umsichtiger wurden und dass die sprachliche Eigenstruktur einen Zuwachs an Regelungen – gleichbedeutend mit einer Einbuße an Gestaltungsfreiheit – erfuhr, um erfolgreich zum Vorstellen und Handeln instruieren zu können. Die Einbindung ehemals freier handhabbarer Phänomene in die geschriebensprachliche Eigenstruktur konnte die Wahrscheinlichkeit der Fehlinterpretation von Geschriebenem verringern. Dafür musste sich aber zuerst ein Zustand entwickeln, in dem eine kritische Masse an Sprachbenutzerinnen diese Eigenstrukturen in Form von wechselseitigen SprachhandlungserwartungenErwartung hervorbringen und verinnerlichen konnte.

      Ich gehe davon aus, dass ein solcher Zustand für das Standardenglische in England und das Standarddeutsche im deutschsprachigen Raum gegeben ist. In den entsprechenden Sprachgemeinschaften stellen der Schrift- und die Leseunkundige seit spätestens 1900 die Ausnahmen dar.7 Die weitaus meisten Menschen lernen spätestens in der Schule eine normierte geschriebene Standardsprache und in diesem Zuge auch, sie so zu gebrauchen, dass sie ohne Kontextstützen verstehbarverstehen ist. Die kritische Masse für die Verinnerlichung geschriebensprachlicher Eigenstrukturen war ab diesem Zeitpunkt also gegeben. Unabhängig davon, ob diese geschriebene Standardsprache auch immer die Sprech- oder Schreibweise ist, die von ihren Benutzerinnen in allen möglichen Lebensbereichen und -situationen angestrebt wird, ist sie doch diejenige, an der kaum ein biographischer Weg vorbeiführt. Nimmt man dies mit der Tatsache zusammen, dass unsere Kognition durch die Schrift auch umgeprägt wird, kann es kaum verwundern, wenn die spezifischen eigensprachlichen Regelungen der Schriftsprache schließlich selbst auf die genuin gesprochenen dialektalen, regionalen und umgangssprachlichen Weisen des Sprechens zurückwirken – und das heißt, auf das Know-howKnow-how der Sprechenden. „Once a society has become literate, it can never return to ‚authentic‘ orality. Instead orality will be created artificially with the means of literacy.“8

      Es lassen sich mehrere Schübe ausmachen, die die Standardisierung des Englischen und Deutschen vorangetrieben haben. Einen Schub an Verbindlichkeit erhielten die NormenSchriftnorm der geschriebenen Sprache durch die ersten weiter verbreiteten Grammatiken ab dem 17. Jahrhundert.9 Im deutschsprachigen Raum avancierte das Deutsch von Luthers Bibelübersetzung von 1545Biblia (1545) dabei vielfach zum Vorbild der Grammatiker.10 Dasselbe lässt sich über die ÜbersetzungÜbersetzung des Teams WycliffeWycliffe-Bibel/Purvey nicht sagen. Die englische Standardsprache ist zum größten Teil aus einem anderen Dialekt hervorgegangen.11 Einen zusätzlichen Schub an Reichweite erfuhr die Entwicklung genuin schriftsprachlicher Konventionen insbesondere durch die Einführung der Schulpflicht (und ihre Durchsetzung) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.12 Und die Rückwirkung der schriftsprachlichen Eigenstrukturen auf die genuin mündlichen Sprechweisen – die den Weg zurück in die „authentische“ Mündlichkeit verstellte – sollte wiederum durch die Etablierung der überregionalen Massenmedien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Schub erhalten haben.13 Unter unseren Bibelübertragungen betreffen diese Entwicklungen trivialerweise die standarddeutsche von 1984, aber potentiell auch die hochalemannischeS Nöi Teschtamänt von 1997 und die nordniederdeutscheDat Nie Testament von 1933, jedoch nicht die historischen Sprachstufen des Deutschen und Englischen. Der Syntax LuthersBiblia (1545) wird „das Gepräge gesprochener Sprache“ bescheinigt.14

      Einen hohen Grad an SyntaktifizierungSyntaktifizierung mit genuin schriftsprachlichen Eigenstrukturen können wir für einen neuhochdeutschenNeuhochdeutsch Text von 1984, wie ihn die Luther-BibelBibel (1984) darstellt, also sicherlich annehmen. Einen ebenso hohen Ausbaugrad an schriftsprachlicher Eigenstruktur dürfen wir für das moderne HochalemannischeHochalemannisch und NordniederdeutscheNordniederdeutsch aber nicht ohne Weiteres annehmen. Dafür müssten wir argumentieren, dass die geschriebensprachlichen Eigenstrukturen des Standards tatsächlich auf die Dialekte zurückgewirkt haben oder dort unabhängig existieren. Der schweizerische hochalemannische Dialekt und der nordniederdeutsche Dialekt weisen jedoch jeweils ganz andere Gebrauchsbedingungen als die deutsche Standardsprache (und verschiedene im Vergleich zueinander) auf.15 Sie wurden zwischen der Einführung der Schulpflicht und dem Zeitalter der sozialen Medien nämlich nur selten geschrieben.16 Wenn sie doch einmal geschrieben wurden, wie im Falle unserer Bibelübertragungen, dann musste dies ohne Rückgriff auf eigene, kodifizierte Schreibkonventionen geschehen. Dennoch können wir nicht ausschließen, dass in diesen Bibelübertragungen die oben genannten Grenzphänomene von der geschriebensprachlichen Eigenstruktur des Standards gedeckt sind. Dafür muss eine Bedingung erfüllt sein: Die Kenntnis des geschriebenen Standards hat die Kompetenz der Dialektsprecherinnen für ihren gesprochenen Dialekt in Richtung dieser schriftsprachlichen Eigenstrukturen beeinflusst. Den syntaktifiziertenSyntaktifizierung Umgang mit Nullstellen und Pronomen hätten die Dialektnutzerinnen also aus der neuhochdeutschenNeuhochdeutsch Standardsprache übernommen.17 Dies müsste also sowohl für unsere Übersetzer als auch für ihre jeweiligen hochalemannischenHochalemannisch und nordniederdeutschenNordniederdeutsch Leserinnen gelten. Nicht ausreichen würde dagegen der Nachweis, dass zwar die Übersetzer im Zuge ihrer eigenen standardsprachlichen (und altsprachlichen) Bildung gezielt syntaktifiziertenSyntaktifizierung Gebrauch von ihren jeweiligen Dialekten gemacht haben, aber dasselbe nicht für ihre Leserinnen behauptet werden kann. Denn eine KonventionKonvention, die nur von der Hälfte der beteiligten Parteien befolgt wird, besitzt keine Geltung. Ob diese Bedingung erfüllt ist, kann im Rahmen dieser Untersuchung