Название | Der Mensch und seine Grammatik |
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Автор произведения | Simon Kasper |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783823300441 |
Was steht in der gesamten Äußerung (10) womit in welcher Beziehung? Eine Interpretin versteht, dass Jesus Brot nahm, Jesus dann das Brot segnete, Jesus dann das Brot brach, Jesus dann das Brot den Jüngern gab und Jesus dann (zu den Jüngern) sagte, sie sollen (vom Brot) nehmen und sie sollen (vom Brot) essen. Die Vorstellung, die die Interpretin auf Basis der Äußerung konstruiert, ist also vorstellungsmäßig weitaus reicher, als sie sein könnte, wenn sie nur auf Basis des wahrnehmbar Ausgedrückten konstruiert wäre. Die Äußerung in (10) enthält nur ein Mal den Ausdruck se hælend, der entsprechende Gegenstand fungiert aber fünf Mal als AgensAgens, das heißt in jedem der fünf Konjunkte, die jeweils durch and verbunden sind. Die Vorstellung des Brotgegenstands wird einmal durch hlaf, einmal durch hyne und zwei Mal durch gar keinen Gegenstandausdruck evoziert, fungiert aber in den letzten beiden Fällen dennoch als PatiensPatiens, also als Gebrochenes und Gegebenes. Woher weiß die Interpretin das? Gehört dieses Know-howKnow-how zur sprachlichen Eigenstruktur? Wir können dies als Inhalt-ohne-Ausdruck-Problem bezeichnen.
Sicher nicht zur sprachlichen Eigenstruktur gehört, dass die Interpretin sich bei niman ‚nehmen‘ einen Nehmer und ein Genommenes vorstellen muss, bei gebletsian ‚segnen‘ Segner und Gesegnetes, bei brecan ‚brechen‘ Brecher und Gebrochenes, bei sellan ‚geben‘ Geber, Gegebenes und RezipientRezipient (semantische Rolle) sowie bei cweđan ‚sagen, sprechen‘ Sprecher und Gesprochenes. Schon eher zur Eigenstruktur der Sprache gehört, dass bei etan ‚essen‘ im Nebensatz, der durch þa eingeleitet ist, das Gegessene auch ohne Ko(n)textinformation unausgedrückt bleiben kann, während bei den anderen Verben das Patiens (und der Rezipient) bei fehlender Ko(n)textinformation ausgedrückt werden müssen. Nicht ausgedrückte, aber in der Interpretation enthaltene Elemente sind dann deshalb in der Interpretation als Vorstellung enthalten, weil sie aus dem Ko(n)text geholt werden können (und müssen), um die ergänzungsbedürftige Vorstellung zu ergänzen. Darin, dass sie aus dem Ko(n)text geholt werden müssen, sind diese Non-Ausdrücke Pronomen ganz ähnlich. Ich werde die unausgedrückten Informationen behelfsweise mit Nullstellen sichtbar machen. Die Position der Nullstelle ist dabei zunächst nicht von Belang. Wichtig ist, dass erkennbar ist, welches Verb sie jeweils ergänzt.
Unausgedrücktes, aber Vorgestelltes kann nun trivialerweise keine eigenstrukturellen Hinweise geben, wie es se hælend, hlaf und hyne tun: weder eine WortkategorieWortart, noch eine morphologischeMorphologie Form, noch (fürs Erste) eine relative Position. Auf Basis irgendwelcher Kriterien muss die Interpretin aber zur richtigen Interpretation gelangen, denn diese Äußerung ist verständlich. Eine Möglichkeit für die Interpretin wäre, anzunehmen, dass jede unausgedrückte Vorstellung, wenn sie ausgedrückt wäre, die eigenstrukturellen Spezifikationen hätte, die ihr Partnerausdruck im Kotext aufweist, von dem sie die Gegenstandsvorstellung bezieht. […] and Ø hyne gebletsode ist das zweite Konjunkt und weist eine Nullstelle auf. Die Interpretin müsste nun den Partnerausdruck der Nullstelle im Kotext suchen, seine eigenstrukturellen Spezifikationen nehmen und die Nullstelle so interpretieren, als stünde dort ein Ausdruck mit denselben Spezifikationen. Wir gehen nun davon aus, die Interpretin habe wenigstens schon das Pronomeninhaltsproblem gelöst und wüsste, dass mit hyne das Brot (hlaf) gemeint ist: ‚… und segnete es‘. Der Ausdruck für Brot, hlaf, ist im vorangegangenen (Teil-)Satz se hælend nam hlaf das Objekt. Das kann die Interpretin nicht aus seinen KasusspezifikationenKasus, sondern nur per Ausschlussverfahren ermitteln, weil se hælend schon den Nominativ trägt, den nam für eins seiner Satzglieder bestimmt. Hyne muss also das Objekt zu gebletsode sein. Die Nullstelle wäre also durch ein Subjekt besetzt, wenn dort eins stünde. Weil hlaf dafür nicht in Frage kommt, wäre se hælend der Kandidat der Wahl. Die Nullstelle und hyne hätten also die gleichen morphologischenMorphologie Spezifikationen wie ihre Partnerausdrücke se hælend und hlaf und damit auch die gleichen syntaktischen Funktionen, Subjekt beziehungsweise (direktes) Objekt. Und so geht es ja offensichtlich auch weiter in der Äußerung: Se hælend kann für die Nullstellen bei bræc, sealde und cwæđ eingesetzt werden und würde als imaginäres Subjekt dieser Verben fungieren. Und hlaf kann für das Gesegnete, Gebrochene und Gegebene eingesetzt werden und in den entsprechenden Teilsätzen als imaginäres Objekt fungieren. Sprachlich ausgedrückt ist das Brot durch hlaf im ersten Konjunkt, durch hyne im zweiten und gar nicht mehr ausgedrückt ist es im dritten und vierten Konjunkt. Dort würde es mit seinen Objektspezifikationen aber hineinpassen. Im fünften Konjunkt mit cwæđ würde es das aber nicht mehr, da es dort keine Nullstelle mehr für ein imaginäres Objekt gibt, sondern ein Objekt in Form einer direkten Rede bereits vorhanden ist. Die InterpretationsroutineRoutine, Routinisierung, den Nullstellen imaginär die gleichen eigenstrukturellen Spezifikationen wie ihren kotextuellen Partnerausdrücken zu verpassen, um ergänzungsbedürftige Vorstellungen zu ergänzen, würde also zum Interpretationserfolg führen.
Im Zusammenhang der Pronomen und der Nullstellen möchte ich nun zwei Aspekte unterscheiden. Der erste, das Pronomeninhaltsproblem, betrifft den konkreten Vorstellungsinhalt, den eine Interpretin aus dem Ko(n)text holen muss, um sie zu interpretieren. Der zweite betrifft die Identifikation der syntaktischen Funktion der imaginär gefüllten Nullstelle.
Pronomen und Nullstellen in koordinierten Teilsätzen sind sich sehr ähnlich darin, dass sie auf fremde Vorstellungsinhalte angewiesen sind. Es scheint aber ein Unterschied in dem Grad zu bestehen, zu dem das fingierte Pronomen he und die Nullstelle die Interpretin darauf verpflichten, einen bestimmten Vorstellungsinhalt und keinen anderen aus dem Kotext zu holen. Wir haben gesehen, dass (mein fingiertes) and he hyne gebletsode auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann: ‚und der Heiland segnete das Brot‘, ‚und der Heiland segnete sich‘, ‚und das Brot segnete den Heiland‘, ‚und das Brot segnete sich‘. Fehlt he dagegen, ist zumindest zweifelhaft, ob and hyne gebletsode anders interpretiert werden kann als mit dem Heiland in der imaginären Subjektfunktion. Die Frage ist also, ob eine Nullstelle in einem koordinierten Teilsatz ihren Vorstellungsinhalt auch von einer anderen syntaktischen Funktion beziehen kann, als sie ihr Partnerausdruck im entsprechenden vollständigen Teilsatz einnimmt – etwas, das mit Pronomen problemlos möglich ist. Nach allem, was ich weiß, geht das, die Fälle scheinen aber auf die älteren Sprachstufen beschränkt zu sein. Ich gebe ein altenglisches und ein frühneuhochdeutsches Beispiel von Luther selbst.
In dem altenglischen (westsächsischen) Beispiel bezieht die Nullstelle mit der imaginären Subjektfunktion den Vorstellungsinhalt vom Präpositionalobjekt from eallum und in dem frühneuhochdeutschen Beispiel vom Akkusativobjekt den Herrn. Aus diesen und analogen Beobachtungen können wir schließen, dass zumindest in den älteren Sprachstufen die Frage, woher eine Interpretin den Vorstellungsinhalt für eine Nullstelle bezieht, nicht durch die Eigenstruktur der jeweiligen Sprach(stuf)eSprach(stuf)e geregelt ist. Im NeuhochdeutschenNeuhochdeutsch und den modernenHochalemannisch DialektenNordniederdeutsch könnte dies allerdings anders sein.3 Sie weisen bei Matthäus 18, 27 auch modernere Strukturen auf, die mindestens darauf hinweisen, dass solche Strukturen nicht mehr selbstverständlich waren.ZürichdeutschHochalemannisch4 Das Subjekt des zweiten Teilsatzes fehlt in den jungen Übersetzungen nur dann, wenn die entsprechende Gegenstandsvorstellung im ersten Teilsatz bereits als Subjekt fungiert, und das Subjekt scheint im zweiten Teilsatz realisiert werden zu müssen, wenn die entsprechende Gegenstandsvorstellung im ersten Teilsatz nicht bereits Subjekt gewesen ist.
Wichtig ist auch, dass die Frage, woher der Vorstellungsinhalt für ein Pronomen oder eine Nullstelle bezogen wird, keinen Einfluss auf die Mehrdeutigkeitenmehrdeutig hat, die syntaktische Funktionen oder semantische Rollen betreffen: Die Nullstellen bei gebletsode in der Äußerung in (10) sowie die Nullstellen in (11) und (12) sind jeweils das imaginäre Subjekt, im Aktivsatz das AgensAgens und im Passivsatz das PatiensPatiens, unabhängig davon, welchen