Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper

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Название Der Mensch und seine Grammatik
Автор произведения Simon Kasper
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823300441



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die LokationsrolleLokation unterscheiden. Mehrdeutigkeiten können dann auftreten, wenn zwei Objekte vorhanden sind, bei denen die KasusspezifikationenKasus nicht unterscheidbar sind, wie in dem folgenden Beispiel (9).

      Damit geht einher, dass die Objekte auch in ihren semantischen Rollen nicht unterscheidbar sind. Was hier das Genommene – das Patiens – ist und wem es abgenommen wird – sozusagen der Anti-RezipientRezipient (semantische Rolle) –, ist für eine Interpretin an den morphologischenMorphologie Formen also nicht erkennbar.

      In Bezug auf das Zustandekommen von Objekt-Objekt-Mehrdeutigkeiten gibt es einen großen Unterschied zu den Subjekt-Objekt-Mehrdeutigkeiten. Subjekt und Objekt können außer über den Kasus auch über die KongruenzbeziehungKongruenz zum finiten Verb unterschieden werden. Diese Möglichkeit fehlt bei Objekt-Objekt-Mehrdeutigkeiten. Beide Objekttypen haben nichts mit den Person- und Numerusspezifikationen des Verbs am Hut. Umgekehrt kann mit der präpositionalen Markierung eines oder beider Objekte nur zwischen Objekten ein eigenstrukturelles Mittel zur Verfügung stehen, anhand dessen die beiden Objekte dann unterscheidbar und ihre jeweiligen Rollen beim Aufbau der Vorstellung erkennbar werden. In Beispiel (1) sind LokationLokation (der Referent von sich) und PatiensPatiens (si oder de Jünger) nicht verwechselbar. Was Subjekt-Objekt- und Objekt-Objekt-Beziehungen wiederum gemeinsam haben, ist, dass der relativen Reihenfolge zwischen den Satzgliedern instruktivinstruktive Leistungener Wert zukommen kann.

      Es sind also solche Äußerungen, die bezüglich ihrer syntaktischen Funktionen und semantischen Rollen mehrdeutigmehrdeutig sind, die ich in den alt- und mittelenglischen, alt- bis neuhochdeutschen, hochalemannischen und nordniederdeutschen Bibelübertragungen identifizieren muss. An ihnen möchte ich überprüfen, wie sie trotz morphologischer und syntaktischer Mehrdeutigkeit verstehbar sind. Daher war es wichtig, Kriterien herauszuarbeiten, an denen wir morphologischMorphologie und syntaktischReihenfolge mehrdeutige Äußerungen von eindeutigeneindeutig unterscheiden können. Ich werde später alle Äußerungen in meiner Textsammlung hinsichtlich ihrer morphologischen Ausprägungen klassifizieren und die relativen Positionen ihrer Elemente erfassen. Auf diese Weise werde ich für die allermeisten Äußerungen in der Lage sein, die eindeutigen von den mehrdeutigen zu unterscheiden. Aber nicht für alle.

      2.3.2 Grenzphänomene: die bewegliche Grenze der Eigenstruktur

      Ich möchte noch zwei Phänomene ansprechen, die in der späteren Untersuchung häufig auftreten werden und mit denen ich im Rahmen der DeutungsarbeitArbeit umgehen werden muss. Die Herausforderung bei diesen Phänomenen besteht darin, dass es – anders als etwa bei der grammatischen Morphologie – nicht klar ist oder es sich zwischen Sprach(stuf)eSprach(stuf)en unterscheidet, ob die Interpretation durch die einzelsprachliche Eigenstruktur geregelt ist oder nicht. Die beiden Phänomene hängen eng miteinander zusammen.

      Das erste der beiden Phänomene sind Pronomen. Wir haben an Personal- und Reflexivpronomen gesehen, dass sie zur Vorstellung von Gegenständen instruieren, dass eine Interpretin den Vorstellungsinhalt aber aus dem Ko(n)text holen muss. Wir schauen uns wieder einmal unsere Äußerung (4) an, Da nahm der Jünger die Mutter Jesu zu sich, denn wir sind noch immer nicht fertig mit ihr. Ich bin bei seinem syntaktisch mehrdeutigen hochalemannischenHochalemannisch Pendant … hät si de Jünger zue sich gnaa davon ausgegangen, dass der Vorstellungsinhalt von sich vom Jüngergegenstand bezogen wird, wenn de Jünger als Subjekt fungiert, aber vom Muttergegenstand, wenn si als Subjekt fungiert (s. Abbildung 7 und Abbildung 8). Es wäre also zu überlegen, ob der Partnerausdruck von sich etwas mit der Subjektfunktion zu tun hat. Wenn dem allgemein so wäre, könnten wir sagen, dass es eigenstrukturell geregelt ist, worauf sich sich bezieht, denn das Subjekt habe ich nur unter Bezugnahme auf eigenstrukturelle Einheiten charakterisiert. In der Äußerung in (4) sehen wir ebenfalls, dass die Interpretation, nach der unter sich der Jüngergegenstand vorgestellt wird, sehr nahe liegt. Man kann aber auch daran zweifeln, dass eine Interpretin dies so interpretieren muss. In Er nahm sie zu sich mag es noch schwer fallen, sich nicht auf das Subjekt, sondern auf das Objekt sie zu beziehen. Aber stellen wir uns vor, ‚sie‘ sei bewusstlos geworden und ‚er‘ unternehme einiges, um sie wieder zu Bewusstsein zu bringen. Sollen wir dann ausschließen, dass in Er brachte sie wieder zu sich das Reflexivpronomen auf das Objekt beziehen lässt? Ich denke, dass wir es nicht ausschließen sollten und dass dabei Faktoren beteiligt sind, die sich nicht unter der sprachlichen Eigenstruktur subsumieren lassen.1 Den eigenstrukturellen Regelungen lässt sich dagegen aber wohl zurechnen, dass sich der Partnerausdruck von sich nicht an einer beliebigen Stelle im Kotext finden lässt. Bei der Suche nach dem Partnerausdruck sollte die Interpretin außerhalb bestimmter Einheiten eines Textes nicht fündig werden. Im Falle von Reflexivpronomen ist diese Einheit der (Teil-)Satz, in dem es auftritt. Wie die Ausführungen oben gezeigt haben, ist der (Teil-)Satz maßgeblich von den Bestimmungen geprägt, die vom Finitheitsanteil des Verbs ausgehen. Jenseits dessen, was vom finiten Verb bestimmt wird, ist der Partnerausdruck von sich nicht zu finden.

      Ähnliche Probleme ergeben sich bei Personalpronomen. Wir nehmen dafür diesmal ein altenglisches Beispiel.

      Ich greife nun in den Wortlaut dieser Äußerung ein und tue so, als enthielte der Teilsatz, der durch and eingeleitet wird, noch ein Personalpronomen he (3SG.M.NOM), so dass wir and he hyne gebletsode bekommen. Die korrekte Interpretation bliebe dieselbe. Anders als beim Reflexivpronomen muss die Interpretin den Vorstellungsinhalt eines Personalpronomens oft von außerhalb des (Teil-)Satzes holen.2 In der obigen fingierten Äußerung finden wir nun (das fingierte) he und hyne. Den Vorstellungsinhalt zu beiden Pronomen muss die Interpretin aus dem Kotext holen. In Frage kommen Ausdrücke, die, wie diese Pronomen selbst, das Maskulinum und den Singular aufweisen. Da neben se hælend auch der Ausdruck für Brot, hlaf, im Altenglischen das Maskulinum aufweist, kommen sie beide jeweils als Partnerausdrücke zu he und hyne in Frage. Es wäre also für die fingierte Äußerung möglich, dass die Interpretin ‚und es (das Brot) segnete ihn (den Heiland)‘ interpretiert. Das AltenglischeAltenglisch weist außerdem kein eigenes Reflexivpronomen auf. Das Personalpronomen kann auch reflexiv verwendet und interpretiert werden. Insofern wäre es für die Interpretin auch möglich, and he hyne gebletsode als ‚und er segnete sich‘ beziehungsweise ‚und es segnete sich‘ zu interpretieren. Dass sie hier zugunsten der richtigen Interpretation von hyne den Vorstellungsinhalt von hlaf heranziehen muss, kann also prinzipiell nicht mehr auf die sprachliche Eigenstruktur zurückgeführt werden.

      Ich habe die fingierte Äußerung verwendet, um das Pronomeninhaltsproblem einigermaßen getrennt von dem zweiten Phänomen behandeln zu können. Es handelt sich dabei meistens um koordinierte (Teil-)Sätze, in denen bestimmte Vorstellungsinhalte nicht ausgedrückt sind. Ich lasse nun das fingierte he wieder verschwinden und belasse die Äußerung in (10) in ihrer ursprünglichen Form. Was dadurch passiert, ist, dass wir nun tatsächlich wieder darüber diskutieren können, ob die Interpretin hyne auf hlaf nicht nur beziehen kann, sondern sogar muss. Dies hat aber nichts mit dem Gebrauch des Pronomens hyne zu tun, sondern mit der Abwesenheit eines Subjektausdrucks. In den bisher diskutierten Äußerungen konnten wir jeweils Ausdrücke finden, die dem Was?, dem Womit? und dem Welche Beziehung? aus der Vorstellung des Schreibers entsprachen. Die Interpretin konnte sozusagen imaginäre Linien zwischen den Ausdrücken in der Äußerung und ihren W-FragenW-Fragen ziehen. Ihr Know-howKnow-how über die eigenstrukturellen Mittel half ihr dabei – außer im Hochalemannischen – die Linien zu den richtigen Ausdrücken in der Äußerung zu ziehen. Nun haben es Interpretinnen, wenn sie sich nicht mehr nur Einzeläußerungen anschauen, kaum jemals mit Texten zu tun, in denen dies durchgängig möglich wäre, denn sie begegnen Äußerungen, mit denen die Schreiber zwar ein WasWas steht womit in welcher Beziehung? steht womit in welcher Beziehung? gemeint, aber nicht alles davon geäußert haben, so dass es auch nicht öffentlich und wahrnehmbar geworden ist. Dies ist in der Äußerung in (10) der Fall. Die Äußerung