Frei - Land - Haltung. Группа авторов

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Название Frei - Land - Haltung
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783948675011



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auf dem Feld und bei der Betreuung von Geschwistern sowie vom Spielen im Freien geprägt ist. Zugleich wird eine seit den 1960er Jahren zunehmend auftretende „lokal-dörfliche“ Kindheit und Jugend registriert, die der Bedeutungsverlust bäuerlicher Landwirtschaft, das Anwachsen von Neubaugebieten mit (oft zugezogenen) Berufspendler*innen, der Rückgang von tradierten Strukturen dörflicher Kontrolle, die „Zonierung der Kindheit in feste Spiel-, Aufenthalts- und Bewegungsräume“ bei durchaus noch verbreitet vorhandener Nutzung naturnaher und unbeaufsichtigter Flächen kennzeichnet. Das jüngste Muster der „regional-dörflichen“ Lebensweise hat diese beiden Zeitkulturen zwar in den Hintergrund treten lassen, aber nicht völlig verdrängt. Ihre Merkmale sind vor allem die Privatisierung, Verhäuslichung und umfassendere (sowie im Vergleich zu früher stärker altersgetrennte) Institutionalisierung des Aufwachsens, die durch Mobilitätszuwächse und -erfordernisse, Mediatisierung und das Hereinbrechen regionaler, ja globaler Einflüsse in die lokale Kultur ergänzt werden (ebd.: 6–10). So konstatieren dann auch Becker und Moser (2013) in ihrer Online-Befragung von 2.600 14- bis 18-Jährigen in drei westlichen und drei östlichen Bundesländern für das Thünen-Institut, dass es „die“ Jugend in ländlichen Räumen nicht gibt und sich der Kommunikations- und Aktionsradius vor allem durch neue Beschulungstendenzen vom Lokalen ins Regionale, nicht zuletzt aufgrund verbesserter Mobilität und Mediatisierung, aber auch darüber hinaus auf Großstädte, das Ausland und Internetaktivitäten ausgeweitet hat.

      So entsteht für viele ein Lebenszusammenhang, der gleichermaßen ländliche wie städtische Prägungen aufweist, einerseits im Lokalen und in regionalen Besonderheiten verhaftet ist, andererseits Aspekte jener Welt integriert, die (z. T. weit) über diese Rahmungen hinausreicht (vgl. auch Vogelgesang 2013). Eben diese Doppelexistenz geben auch viele Interviews im vorliegenden Buch zu erkennen.

      Aber was wissen wir genauer über diese recht großrahmig zugeschnittenen Entwicklungen hinaus in Hinsicht auf die konkreten Lebensumstände und Lebenswelten von in ländlichen Strukturen aufwachsenden Kindern und Jugendlichen heute? Was lässt sich über die Beschaffenheit von Wohnformen, Familienkonstellationen, Arbeit, (Aus-) Bildung, Freundschaften, Vereinsbindungen etc. herausbekommen? Und: Wie wohl oder unwohl fühlen sich junge Menschen mit ihrem Leben auf dem Land? Fühlen sie sich tatsächlich benachteiligt durch ein Leben „am Arsch der Welt“? Leiden sie also unter Landfrust? Oder verspüren sie im Gegenteil so etwas wie Landlust? Zieht es sie weg oder wollen sie bleiben?

      Einige Antworten auf solche Fragen lassen sich bei einer Durchforstung der mehr oder minder aktuellen Fachliteratur zum Thema gewinnen.

       WOHN- UND FAMILIENFORMEN

      Kinder auf dem Lande sind im Vergleich zu Stadtkindern seltener Einzelkind, haben – vor allem in Westdeutschland – eher Eltern, die miteinander verheiratet sind, leben seltener in Alleinerziehenden-Konstellationen, besitzen weniger häufig Migrationshintergrund und wohnen mit ihrer Familie eher im eigenen Haus (das dann auch häufig einen Garten hat). Ihre Eltern verfügen zudem eher über einen oder mehrere Pkw, um damit die höheren Herausforderungen an Mobilität bewältigen zu können (vgl. Haumann 2013).

      Auch nach der jüngsten der alle zehn Jahre in ähnlicher Weise durchgeführten Studie (hier: unter gut 400 Mitgliedern) der Niedersächsischen Landjugend (Stein 2013) wachsen Landjugendliche deutlich häufiger als Kinder und Jugendliche in städtischen Gebieten mit beiden Elternteilen auf, und Alleinerziehenden-Haushalte sind unter ihnen viel seltener anzutreffen als in Deutschland insgesamt. Mit 30,4 %, die in Dreigenerationenhaushalten zu Hause sind, wird unter den hier Befragten der deutsche Durchschnittswert um das 34-Fache übertroffen. Auch die Geschwisterzahl ist deutlich höher. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass mehr als 35 % der Proband*innen unmittelbar landwirtschaftlich eingebunden sind und in diesen Kontexten Multi-Generationenfamilien traditionell besonders stark verbreitet sind. Mit dem Rückgang der bäuerlichen Lebensweise ist zukünftig auch eine Abnahme solcher Familien- und Wohnformen wahrscheinlich.

       SCHULE, AUSBILDUNG UND ARBEIT

      Nach dem Thünen-Report 12 (Becker/Moser 2013) sind Jugendliche auf dem Lande in erstaunlichem Maße mit dem jeweiligen regionalen Schulangebot überwiegend oder völlig zufrieden (63 % bzw. 53 %). Auch die Schulwege sind danach weniger lang als vielfach angenommen. Je nach Untersuchungsregionen unterschiedlich geben zwischen 69 % und 89 % an, weniger als 30 Minuten zu benötigen. Eine Regionalstudie in Brandenburg kommt freilich zu anderen Ergebnissen: 16,4 % der Schüler*innen brauchen demnach mehr als eine Stunde, um von daheim zur Schule zu gelangen (vgl. Hoffmann/Sturzbecher 2012: 191), und im Gegensatz zu den Befunden des Thünen-Reports, der diesbezüglich keine Unterschiede feststellt, müssen nach einer Studie im Westerwald dort junge Menschen aus kleinen Dörfern besonders zeitintensive Schulwege zurücklegen (AWO Kreisverband Westerwald 2001: 27). Offenbar gibt es also deutliche regionale und lokale Unterschiede.

      Die Beurteilung der wirtschaftlichen Situation fällt nach den schon 2009 (!) erhobenen Daten des Thünen-Reports ebenso unterschiedlich aus, besonders deutlich zwischen ost- und westdeutschen Regionen. Zwar geht eine Mehrheit in allen Untersuchungsregionen davon aus, in der Region, in der man zurzeit lebt, „sicher“ eine Arbeit finden zu können, aber auch hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen Ost und West bzw. prosperierenden und eher abgehängten Regionen (vgl. Becker/Moser 2013: 77). Je nach Region zweifeln 25 % bis zu 44 % daran, dass sich die eigenen Zukunftspläne in der Region verwirklichen lassen. Danach gefragt, wo sich Lebensziele vermutlich am ehesten realisieren lassen, wird „Karriere machen“ von 95 % als eher in der Stadt umsetzbar angenommen.

       FREUNDE, FREIZEIT, MEDIEN UND MOBILITÄT

      Freunde erschließen (auch) Jugendliche auf dem Lande vorrangig über den gemeinsamen Schulbesuch. Insofern dieser ab dem Nach-Grundschulalter vielfach nicht mehr vor Ort stattfindet, hat sich im Vergleich zu früher das Freundschaftsnetz junger Menschen geografisch in die Region hinein ausgeweitet. Höchstens (noch) jede*r Fünfte gibt in der Thünen-Studie an, im eigenen Wohnort einen „besten Freund“ bzw. eine „beste Freundin“ zu haben. Mehrheitlich haben die Jugendlichen Freund*innen (auch) in einer Großstadt oder über Internetkontakt (regional unterschiedlich zwischen 58 % und 89 %). Nur zwischen 11 % und 20 % sind mit ihrem Internetzugang „wenig“ oder „gar nicht“ „zufrieden“, wobei unklar bleibt, inwieweit diese Prozentzahlen mit den regional bzw. örtlich vorhandenen Internetempfangsmöglichkeiten, Fragen der Versorgung des Haushalts mit entsprechenden Anschlüssen oder elterlichen Regelungen zusammenhängen (zu den Daten vgl. Becker/Moser 2013: 32–35).

      Internetaktivitäten stellen wie für Jugendliche in Deutschland im Allgemeinen nach „sich treffen mit Freunden“ und noch vor Musik hören dieser Studie zufolge wichtige Freizeitbeschäftigungen dar, wobei die tägliche Nutzungsdauer des Internets bei Landjugendlichen sogar höher ist als bei Gleichaltrigen in der Stadt; einen Jugendclub besucht nicht einmal jede*r Zehnte. Konkrete Freizeitinteressen fallen aber sehr unterschiedlich aus. So sind zum Beispiel die Dorf- und Gemeindefeste je nach Region mal für 29 %, mal für fast doppelt so viele Befragte, nämlich 53 % „wichtig“ oder „sehr wichtig“, wohingegen sich – wiederum regional unterschiedlich – zwischen 22 % und 37 % für solche Formen der Ortsverbundenheit nicht interessieren. Etwa 3/4 bis 4/5 der Befragten sind in Vereinen aktiv, meist in Sportvereinen – hier vor allem die Jungen. In Kultur- und Musikvereinen bzw. Einrichtungen der Jugendarbeit engagiert sich – wiederum mit erheblichen regionalen Differenzen – ein Zehntel bis ein Drittel der jungen Menschen. Das kirchliche Engagement schwankt noch stärker, nicht zuletzt je nach religiösen Traditionsbezügen der Gegenden (7 % bis 28 %) (vgl. Becker/Moser 2013: 35–43). Insgesamt ist wohl trotz sinkender Mitgliedszahlen und erheblichen Nachwuchsproblemen der meisten Vereine noch immer davon auszugehen, dass derartig institutionalisierte Formen der Freizeitbeschäftigung mehr auf dem Lande als in städtischen Räumen verbreitet sind.

      Mangelnde Mobilität ist trotz objektiv vergleichsweise ungünstiger Ausgangssituationen in dünn besiedelten Gebieten nur für eine Minderheit von 1 % bis 8 % ein schwerwiegendes Problem. Da der ÖPNV allerdings meist nicht befriedigend ausgebaut ist, wird, um