Anja und andere. Dominik Riedo

Читать онлайн.
Название Anja und andere
Автор произведения Dominik Riedo
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783907301234



Скачать книгу

auch Aufputscher, damit du am Morgen wenigstens mal aufstehst, wenn kein Koks mehr geblieben ist. Hing ich also wieder auf den Strassen rum. Und bald wär ich doch noch auf dem Strich gelandet. Na ja, einmal hab ich für ein bisschen Stoff mit so einem Typen gepennt. Wenn man es wirklich braucht, bleibt dir nicht viel übrig.

      Aber davon hatt ich dann wieder so was, du weisst schon, so was, wo man zum Arzt muss. Immerhin durfte ich die behandeln. Und weh tat es auch nicht. Im Gegensatz zum Auskratzen.

      Was, dir sagt das nichts? Echt? Ach so.

      Na, eben, auskratzen sagen wir halt. Wenn du ein Kind bekommen würdest, aber das nicht haben kannst, natürlich. Geht ja auch nicht. Wie soll das gehen? Einige versuchen es zwar. Aber die nehmen sie dann gleich in ein Pflichtprogramm, da kannst du gar nichts mehr selber bestimmen. So kann ich wenigstens schlafen, wo ich will.

      Und dann war ich irgendwann ganz unten. Schreib, vor vier Monaten. Da war ich ganz tief unten. Also tiefer kannst du eigentlich nicht mehr gehen. Nein, das geht nicht, denke ich.

      Da blieb ich also in der Nacht einmal auf der Strasse liegen. Einfach so. War mir auch egal. Aber die Bullen, also die Polizei, hat mich aufgelesen, und weil ich wieder mal keine Adresse hatte, brachten sie mich in die Geschlossene. Da kam ich noch voll auf den Entzug. Schüttelte mich durch. Also bin ich auch da wieder abgehauen. In der Nacht, Fenster aufgebrochen, Gitter auseinandergeklemmt, das hab ich vom Tomü gelernt, wie man das macht, und dann ab.

      Doch nach einigen Tagen habe ich es mir anders überlegt. Hab mich gestellt, und gesagt, ich will einen Entzug machen. Da musste ich aber erst warten, bis sie ne Arbeit für mich gefunden haben. Jetzt werd ich dann wohl in einer Gärtnerei arbeiten.

      Aber erst nach dem Entzug. Doch ohne Arbeit nehmen sie dich gar nicht erst auf in der Klinik. Und eine Wohnung sollst du auch haben, für danach. Die wollen sie mir noch finden, haben sie vorhin gesagt. Keine Ahnung, wie das geht.

      Weisst du, schreib einfach, dass ich vieles gar nicht verstehe. Ich begreife nicht, wie die Welt funktioniert. Oder nicht so, wie ihr. Das macht ja eigentlich nichts. Aber es ist mühsam. Auch das Hin-und-her-geschoben-Werden ist mühsam. Und deswegen …

      Schreib, ich wurde quasi gelebt. So nenne ich das bei mir. Weil ich nie tun konnte, was ich wirklich tun wollte. Ich hatte ganz andere Pläne. Aber wenn der Tod so früh kommt, in die Familie, und du deine Kumpels alle gehen siehst, weil sie sich einen zu viel gesetzt haben, dann zweifelst du schon am Leben. Du verstehst plötzlich nicht mehr, warum man jeden Tag arbeiten soll, warum man so tun soll, als sei alles in Ordnung. Als gäbe es nichts Besseres als ein sauberes Heim.

      Dabei wollte ich gar nicht jammern.

      Weisst du, ich bin schön froh, kann ich jetzt den Entzug antreten. Sonst würd’s mein Körper nicht mehr lange machen. Schreib das auch. Ich bin der Gesellschaft schon dankbar, dass man so etwas finanziert wie diese Therapien. Also den meisten in der Gesellschaft. Alle würden das ja nicht wollen, wenn sie gefragt würden. Aber da geht es ihnen mal, wie es mir lange gegangen ist.

      Aber weisst du, ich habe auch Angst. Ich hab nämlich keine Ahnung, wie das gehen wird. Der Entzug. Die neue Stelle. Wenn die Chefin eine krasse Sklaventreiberin ist. Die sagen, sie sei in Ordnung. Aber wissen die denn, wie man behandelt wird, wenn man mal Abschaum war? Da muss ich sehen, dass ich gut reinkomme.

      Aber auch die Wohnung wird schwierig sein. Wenn du so lange keine mehr hattest, die dir allein gehört. Immer mit anderen gewohnt hast. Ich hoffe, ich werde von den alten Kumpels nicht bedrängt. Deswegen wollen sie mich eben auch in eine andere Stadt schicken. Das sei sogar der Hauptgrund, sagen sie. Aber wenn ich die Stadt nicht mal wählen darf, was ist das für ein Leben?

      Siehst du, es ist eben nicht alles nur gut.

      Na ja, schlimmer werden die Nächte sein. Das ist echt krass. Da träume ich immer wieder von meinem Vater, dem grossen Schatten. Also er kommt da als Schatten. Mit meinen Schreien hab ich sogar die Kumpels geweckt jeweils, obwohl die meist völlig weg waren. Aber so extrem ist das. Und das soll ich jetzt allein aushalten.

      Dafür haben sie mir die Psychotherapie verschrieben. Bereits im Entzug. Und danach weiter. Muss ich besuchen. Die wollen dann alles wissen. Dabei, also dabei kann ich ja dir nicht mal alles sagen. Also schon fast alles, aber eben nicht ganz alles. Du weisst schon.

      Aber schreib, dass mir das echt Angst macht, all das Neue. Auch wenn ich mich drauf freue. Also gespannt bin ich. Und zugleich ist da die Angst. Aber das hab ich schon gesagt.

      Als Letztes wollen sie mich dann auch noch in einen Sportverein schicken. Ich soll mir eine Sportart aussuchen, die ich gerne machen würde. Das soll meinem Körper guttun. Dem Geist auch. Sagen sie.

      Jetzt, glaub ich, hab ich alles erzählt. Da ist nicht viel mehr. Also, es gäbe schon mehr, es gäbe ganze Bücher, aber das sind alles so kleine Geschichten. Wie ich von einem Tag auf den andern überleben musste. Was man von den Leuten alles so ertragen muss. Wie man jeden Tag tiefer sinkt, wenn es einem immer und immer wieder nachgerufen wird, dass man nichts könne. Wenn einen die Augen so anblicken hinter den Kassen, als hätte man sowieso geklaut. Aber auch, dass ich noch nie im Ausland war. Einmal sollte mich einer mitnehmen. Aber es hat dann nicht geklappt. Doch das ist wieder eine andere Geschichte.

      Immerhin gibt es auch die schönen Seiten, weisst du. Einmal habe ich einen kleinen Igel gerettet. Der lief da im Winter einfach so rum, fast schon erfroren. Also habe ich ihn ins Haus genommen, also in ein besetztes Haus. Aber Heizung hatten wir da. Dort legte ich ihn nahe der Heizung in ein Häuschen, so ein Nest, das ich ihm gebaut hatte. Damit er seinen Winterschlaf machen konnte. Das braucht der, sonst überlebt er nicht. Und im Frühling ist der hochgesprungen. Weisst du, dass die echt hoch springen können? Dazu machen sie meist so ein seltsames Geräusch.

      Also, wo war ich?

      Eben: Es gäb schon noch viel zu erzählen. Aber so die wichtigsten Sachen hast du. Zumindest, was nach aussen so zählt. Ne, zählt ist falsch. Was die so wissen wollen.

      Aber jetzt hören wir auf. Denn ich will, das kannst du auch noch schreiben, meine letzte Zigarette rauchen, die ich mir extra aufgehoben habe, bevor sie mich holen. Denn wenn ich da bin, also im Entzug, darf ich nicht einmal mehr das. Drum will ich hier meine letzte rauchen.

      Schreib, nun muss ich also fort von mir. Also nach der Zigarette. Fort von all dem, was ich war. Ja.

      Glaubst du, dass ich das schaffe?

       Ein Wunder

      – – – x x x– – –

      Was sie sagt? Du musst ganz nah hingehen oder ihr auf die Lippen sehen. Wir sprechen hier alle im Flüsterton.

      – – – x y x– – –

      Siehst du, sie hat es gesehen und möchte es selbst erklären, schau mal genau hin. Oder hör auch ganz genau hin.

      Sie xxx allx xxgxx mirx.

      – – –

       Was sie genau sagte? Was hast du denn verstanden?

       Ach so. Schau, eben: Wir flüstern alle, damit wir trainiert bleiben im Lippenlesen. Ihre beiden Geschwister sind ja so aufgewachsen und wir zwei haben es auch erlernt. Jetzt, wo sie noch als Einzige bei uns ist, versuchen wir noch härter, ihr zu vermitteln, dass sie dazugehört. – Siehst du, sie hat alles gleich mitbekommen!

       Was?

      Also: Sie meinte vorher, dass sie sicher sein muss, dass es ausschliesslich in ein Buch kommt. Wir haben zum Beispiel nichts auf Facebook gestellt, bis sie 18 Jahre alt war und es selbst entscheiden konnte. Und auch Anfragen von Journalisten und vom Fernsehen haben wir immer abgelehnt. Da muss man seine Kinder davor schützen. Nicht nur Rima, weil sie eben einige challenges hatte im Leben. Sondern eigentlich allgemein. Ich kann Eltern, die Bilder ihrer Kinder öffentlich machen, so quasi als Präsentation für Pädophile, nicht verstehen.

      Also, sie will also, dass der Text