Название | Anja und andere |
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Автор произведения | Dominik Riedo |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783907301234 |
Ah, genau, noch was: Mir fällt noch etwas ein: Ich habe nie gesagt, dass ich 120 Jahre alt werden will.
Was? – Nein, wart jetzt. Ich habe gesagt, dass ich 120 Jahre alt werde. Das ist doch ein Unterschied!
Wie ich das mache? Na ja, ein Mal im Tag den Puls hochjagen lassen, gesunde Nahrung, keinen Stress, viel Ruhe, Wasser, sich bewegen, draussen in der Natur, dann reiten und –
Wie? Ja, das schon, das hast du gut in Erinnerung.
Aber nochmals: Du musst mich verwechseln! Wirklich. Ich war das nicht. – Also ich bin das nicht. Wirklich.
Das muss jemand erfunden haben.
Das mache ich doch nicht.
Als Schutz?!
Nein!
Ich wurde gelebt
Schreib, mein Leben begann mit dem Tod. Schreib, der Tod hat meine Familie ausgelöscht, bevor ich fähig war, selber für mich zu sorgen. Schreib, dass nur der Vater übrigblieb. Er hat mich missbraucht. Jeden Tag.
Hast du das? Gut.
Schreib, dass er mich in ein Kinderheim einweisen liess. Ich wollte halt nicht mehr alles ruhig über mich ergehen lassen. Nicht mehr jeden Tag leiden. Nein, ich weiss nicht, wie das gegangen ist, dass er mich einfach einweisen konnte. Er musste auf jeden Fall erst später ins Gefängnis. Das habe ich dann noch gehört, irgendwo. Also frag nicht.
Schreib, dass das Kinderheim wegen schlechter Führung einige Jahre später geschlossen wurde. Wir Kinder haben dazu nichts mehr gesagt. Es war ja doch alles geschehen. Und die Tränen konnte man nicht mehr wieder reinpressen. Aber immerhin leidet jetzt dort niemand mehr.
Vom Kinderheim kam ich in ein Töchterheim in Zürich. Das war eine Art Ersatzfamilie. Dort lernte ich, wie man Heroin zubereitet und wie man es einnimmt. Und glitt eben in eine Sucht ab. Wie das halt so kommt. Du weisst, wie das ist.
Ne, vermutlich weisst du es nicht, entschuldige.
Im Töchterheim ging es also einige Zeit ganz gut. Ich lernte ein bisschen was, hatte Kameradinnen, die mir auch mal zuhörten, und fiel nach aussen nicht gross auf. Damals liefen ja fast alle mit gefärbten Haaren rum und überhaupt.
Irgendwann ging es dann aber doch nicht mehr. Irgendwann hältst du das ganze Schauspielern einfach nicht mehr aus. Irgendwann hast du genug.
Schreib, dass ich also abgehauen bin. Weg von den Lebenslügen der Menschen. Vom Lehrer, der immer so freundlich tat, aber den Mädchen ständig in den Ausschnitt glotzte. Vom Hausverwalter, dessen Frau sadistisch veranlagt war. So kam er manchmal abends zu uns, was aber die Mädchen wieder störte. Man will ja auch mal allein sein, nicht? Die Bücher hat er uns aber dennoch weggenommen, jene, die wir nicht lesen sollten. Na ja, wir waren uns alle schon lange Schlimmeres gewohnt.
So bin ich also abgehauen.
Hast du das?
Und da kam ich nach Luzern. Hier lebte ich zuerst mal auf den Gassen. Schlief in der Nacht auf einem Karton am Boden oder auf der Bank. Den Platz unter der alten Langensandbrücke hab ich gemocht. Da trösteten mich die Züge darüber hinweg, dass ich eigentlich alleine war. Ich hatte das Gefühl, noch irgendwie zur Welt zu gehören. Aber meist sitzt du doch nur auf dem Boden und sprichst plötzlich zu den Ameisen, die auf dir rumkrabbeln. Aufpassen musst du bei den Ratten. Die können dir ganze Ohren abfressen. Oder die Nase. Ich hatte wenigstens damit Glück.
Etwas besser waren besetzte Häuser. Da hast du wenigstens eine Zeit lang dieselbe Adresse. Die kannst du dann angeben, wenn du mal Hilfe brauchst. Versuch mal bei einem Arzt was zu bekommen, wenn du nicht mal eine Adresse hast! Dafür gibt’s da immer Stunk mit den Besitzern und der Polizei. Die verstehen einfach nicht, dass wir diese Häuser brauchen. Wie soll man sich denn eine Wohnung mieten, wenn man gesucht wird? Keinen Job hat. Und Geld sowieso keins. Ich musste ja immer sehen, dass ich zu meinem Stoff komme. Und dann klauen ihn dir auch noch die Mitbewohner ab und zu.
Das war eh ein Mist. Einigen Kumpels musste ich mich, also ich musste mich hingeben. Ich mein, ich hab das sonst nie gemacht. Ich hab mich nie gegen Geld verkauft. Die Selbstachtung hab ich bis heute. Die fetten Familienschweine sollen gefälligst zuhause ihre Frauen vögeln. Aber nein, sie schimpfen auf die Hausbesetzer, um dann abends ums Haus zu schleichen auf der Suche nach billigem Sex. Diese Würste. Manchmal frage ich mich schon, ob eigentlich ich krank bin. Was meinst du?
Ach, ist egal.
Die Gesellschaft urteilt sowieso, wie sie urteilt. Wenn du in ihr leben willst, musst du dich anpassen. Aber das andere macht dich eben auch fertig.
Ich wollte dir von den Kumpels erzählen. Also, die leisten ja da ganz schön was. Die beschützen dich vor den blöden Typen, die aufkreuzen, auch vor der Polizei, wenn die dich mal so richtig belästigt und vor anderen Dingen. Was halt so abgeht.
Dafür darfst du dann mit ihnen schlafen. Ist natürlich zynisch gemeint. Du musst quasi. Sonst schmeissen sie dich in der Nacht raus, wenn sie schlecht drauf sind. So aber darfst du sogar mitessen, wenn sie wieder mal was aufgetrieben haben. Obwohl du es besser gleich selber kochst. Man will schliesslich wissen, was auf dem Teller so alles drin ist. Und die Kumpels können meist gar nicht kochen. Zumindest nicht richtig. Aber das ist auch noch so was, was ich im Töchterheim gelernt habe. Immerhin.
Hast du das? Ich könnte das nicht so schnell. Aber das ist ja dein Beruf. Also.
Dann kommt da noch die Scheisse mit den Deppen, die sich zu viel spritzen. Dabei ist es gar nicht so schwer. Selbst wenn du mischst. Man hat doch das Gespür dafür, wie viel man verträgt. Hat man doch. Aber eben. Die eben nicht. Die Typen. Es sind immer wieder dieselben. Und dann hast du den Stress am Hals. Musst sie zu retten versuchen, oder gleich die Ambulanz rufen. Aber die machen dann wieder Ärger. Zumindest hinterher. Kommen da mit Fragebogen angerannt. Packen die einen in jenes Heim, andere in dieses. Ich bin ein paar Mal so hin- und hergeschoben worden. Hab einiges gesehen. Auch Gefängnis, natürlich. Aber so richtig was hatten sie gegen mich ja nie in der Hand. Hab ja nie was gemacht. Nichts Schlimmes. Bisschen was geklaut im Laden. Oder mal etwas Geld mitlaufen lassen.
Ach ja, das war noch.
Einmal haben sie mich von der Strasse wieder in eine überwachte Notschlafstelle gebracht. Da zahlst du was, damit sie dich überwachen können. Na ja, ganz so ist es zwar nicht. Sie meinen es schon gut. Aber warum man da noch zahlen muss, wo doch all die reichen Säcke Geld genug haben. Und wenn auch einige hart arbeiten, gibt es doch solche, die müssen fast nichts tun. Nicht alle haben im Leben so ein Schwein. Denen gelingt es einfach, während solchen wie mir die Mutter stirbt, wenn man ganz klein ist.
Also von der Notschlafstelle aus hab ich in einem Kino gearbeitet. So die Eintrittstickets kontrolliert, Platz angewiesen, vor allem, wenn sie verspätet eintreffen. Oder in der Pause Getränke verkauft hinter der Bar. Und anderes.
Das ging eine Weile ganz gut. Aber dann wurde es mir eines Tages zu blöd, weil ich doch viel zu wenig verdiente, während der Chef bloss einmal am Tag kurz reinschaute, ob man auch alles richtig mache. So hab ich denn das Geld von den Pausenverkäufen fast jeden Abend zur Hälfte behalten. Man musste nur die Deckelchen der Flaschen nicht richtig abzählen. Denn so zählten wir, wie viel wir wovon verkauft hatten. Wenn du die aber einfach wegschmeisst, merkt das lange keiner.
Aber am Jahresende haben sie dann Inventur gemacht. Alle Rechnungen, die der Chef bezahlt hat verglichen mit dem, was reingekommen ist. Und dann haben da halt viele Flaschen gefehlt. Und natürlich haben sie zuerst an mich gedacht. Gleich an mich. So ist es immer. Okay, hier war ich ja schuldig. Trotzdem.
Danach hab ich echt gedacht, ich mag nicht mehr. Bist da in einem harten Leben aufgewachsen, nichts lief, wie es den anderen läuft, aber dennoch wird man immer als Dreck behandelt.
Na gut, da war ich schon längst selber schuld. Zumindest ein wenig. Aber es ist halt hart, weisst du.
Also bin