Devolution. Ralph Denzel

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Название Devolution
Автор произведения Ralph Denzel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941717190



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weg und überlegte eine Antwort.

      »Ich glaube nicht, dass der Herr dich deswegen strafen würde.« Er lehnte sich zurück, faltete die Hände über seinem Bauch. Er wirkte nicht mehr wie der alte Freund aus Kindertagen für die beiden anderen, sondern eher wie ein Philosoph, der die Weisheit des Universums eröffnen würde.

      »In unserem Glauben ist Gott der gütige Vater. Und genauso sehe ich es auch. In dieser Situation, glaubst du, dass dein Vater dich verstoßen würde, wegen dem, was du getan hast? Nein. Er wäre stolz auf dich. Er würde dich vielleicht sogar bewundern für das, was du deinen Mitmenschen gibst. Du hast geholfen – nicht getötet. Das Wort hast du da ganz richtig gewählt.« Er zögerte. »Ich finde es bewundernswert, was du getan hast. Hast du dich gegen Gott aufgelehnt? Bist du eigene Wege gegangen und eigenen Plänen gefolgt? Dann hör auf damit! Kehr deinen alten Leben den Rücken zu und komm zum Herrn! Er wird sich über dich erbarmen! Unser Gott vergibt uns, was auch immer wir getan haben! Jesaja 55,7.«Tom lachte kurz auf. »Im Endeffekt hast du ihnen wohl das gegeben, was ich den Menschen in der Kirche nur gepredigt und versprochen habe.«

      Tom fühlte sich gut, Chris so etwas sagen zu können. Chris hatte ihm wohl noch viel schlimmere Geschichten erzählt als das, was er nun vor Noah preisgegeben hatte. Aber Tom hatte eines im Auge gehabt: Er hatte Chris helfen wollen, ihm vielleicht wenigstens ein bisschen Hoffnung geben. Das war er ihm schuldig gewesen – und das war auch das einzige, was er in den letzten Monaten immer und immer wieder versucht hatte. Dabei war es wohl pure Ironie, dass er als einziger keine Hoffnung für sich sah.

      »Darauf ein Schluck Bier«, erwiderte Chris bitter. Er legte Tom die Hand auf die Schulter und ließ sie eine Weile liegen. Das Beben in seinen gräulichen Fingern wurde etwas weniger. Er schaute ihm nicht in die Augen, sondern blickte nur auf seine Füße.

      »Was hast du denn den Menschen versprochen?«, fragte Chris irgendwann.

      »Frieden. Ruhe. Keine Angst – genaugenommen das absolute Gegenteil von dem, was wir derzeit hier haben.«

      »Eine schöne Vorstellung«, murmelten sowohl Chris als auch Noah nachdenklich.

      »Aber jetzt mal im Ernst, werden wir jetzt den ganzen Abend so düstere Themen haben? Ich dachte, wir wollen Spaß haben! Das Leben genießen – solange wir es noch haben!«, brach Noah die Stille. Er wusste nicht, warum er das gesagt hatte. Vielleicht, weil ihm die letzten Eindrücke, die er gesammelt hatte, viel zu schwer vorkamen, als dass er die letzten Stunden mit so etwas verbringen wollte.

      Die beiden blickten ihn an und lachten. »Du hast recht«, grinsten beide. Sogar Chris wirkte dabei überzeugt.

      »Wir hätten uns vielleicht überlegen sollen, was wir tun, bis es so weit ist«, dachte Tom laut.

      »Hätten wir etwa Brettspiele mitnehmen sollen?«, meinte Chris schief.

      »Wir könnten ein Trinkspiel spielen«, schlug Noah vor.

      »Zu wenig Bier«, entgegnete Tom kopfschüttelnd.

      »Na super. Müssen wir jetzt etwa dem Ende der Welt nüchtern entgegentreten?«, entrüstete sich Chris.

      »Wir können ja noch in die Stadt gehen. Die meisten Wohnungen dürften eh leer stehen. Und vielleicht finden wir auch irgendwo in einem Keller oder einer Kneipe noch etwas Alkohol«, meinte Noah, der sich nun, da er wieder nüchtern war, nach nichts mehr sehnte, als wieder betrunken zu sein.

      Seit er nüchtern war, geißelten ihn die Bilder, die er in den letzten Stunden hatte sehen müssen. Und wenn die einzige Möglichkeit, diese Bilder verblassen zu lassen, die war, dass er sich betrank, dann musste es wohl so sein.

      »Wir müssen aber auf jeden Fall auf Mick warten«, gab Tom zu bedenken.

      Plötzlich kam Noah ein Gedanke. Wenn sie in die Stadt gingen, war die Möglichkeit, dass sie noch andere Menschen trafen, ungleich größer, als wenn sie einfach hier auf der Bank sitzen bleiben würden.

      Baumelnde Kinder, tote Menschen, kopulierende Körper. Hier waren alles, was sie sehen konnten, der See, ein wunderschönes Panorama und das Ende der Welt. Er überlegte kurz, ob er seinen Freunden diese Ängste erzählen sollte, entschloss sich aber dagegen.

      »Gut, dann sollten wir vielleicht warten, bis Mick da ist, dann können wir ja los«, meinte Tom und klang dabei wie ein Diplomat. »Vielleicht können wir ein Auto nehmen. Stehen ja genug rum.«

      »Ja. Können wir«, murmelte Noah, der immer noch die Bilder der Kinder vor seinem inneren Auge tanzen sah wie Derwische, die ihn quälten.

      »Was hast du eigentlich mit deinem Kater gemacht?«, fragte Chris nach einer Weile.

      Ein Schlag in die Weichteile wäre für Noah weniger schmerzhaft gewesen. Er zuckte zusammen und zündete sich eine neue Zigarette an, bevor er antwortete.

      »Ich hab ihm den Hals gebrochen«, sagte er trocken. Die beiden starrten ihn kurz entgeistert an. Selbst in dieser Zeit, in der ein Leben nicht mehr wert war als ein halbes Dutzend Stunden, wirkte es noch erschreckend, wenn jemand so kaltschnäuzig davon erzählte, was er mit seinem treusten Begleiter gemacht hatte.

      »Immerhin hat er es jetzt hinter sich – und muss nicht verbrennen«, schob Chris ein. Den letzten Teil des Satzes flüsterte er fast.

      Noah seufzte. Das Verlangen, seinen Freunden seine Angst zu offenbaren, brannte in seiner Brust, aber er hielt es mit stoischer Selbstbeherrschung zurück. Er sehnte sich in den leicht abgehobenen Drogenzustand zurück, der ihn zuvor wie eine Rüstung vor allen Ängsten beschützt hatte. Er war abhängig geworden, ziemlich sicher sogar, aber das war jetzt egal.

      Die drei blickten fast synchron auf ihre Armbanduhren.

      »Wann kommt Mick wohl endlich?«, fragte Tom halblaut mehr sich selbst als die anderen.

      »Kommt wohl nur darauf an, wie gut SIE ist«, versuchte Noah mit einem schlechten Witz seine Sorgen wenigstens ein bisschen abzulenken. Er wünschte sich, dass Mick nicht kommen würde. Dann müssten sie nicht in die Stadt und er müsste nicht noch mehr schreckliche Dinge sehen.

      Er setzte an, wollte seine Einwände formulieren, brach aber mitten in der Bewegung ab. Seine Freunde merkten es gar nicht.

      Sein Blick ging zum Himmel. Man sah ihn jetzt. Er war groß und hell, wie eine zweite Sonne, nahm immer mehr Platz am Himmel ein und schien mit jedem Wimpernschlag größer und bedrohlicher zu werden.

      Die beiden anderen lachten noch über seinen Witz, der Micks Verhalten in den letzten Monaten wohl am besten beschrieben hatte.

      Noah unterbrach die beiden mit einer weiteren Frage.

      »Sag mal, Tom, warum wolltest du eigentlich Pfarrer werden?« Wenn einem die Zeit weglief, mussten manche Fragen so schnell wie möglich gestellt werden, bevor es zu spät war.

      Tom blickte Noah an. Wieder hatte er dieses sanfte, friedliche Lächeln auf dem Gesicht, das wohl eher einem Buddhisten gestanden hätte als einem katholischen Priester in spe. Trotzdem wirkten seine Augen auf eine seltsame Weise traurig und nachdenklich.

      »Ich kam wegen des gratis Brotes, aber ich bin geblieben wegen dem Wein!«, verkündete er, was Noah seinerseits mit einem halb gelachten »Arschloch« quittierte.

      »Jetzt im Ernst. Wir sehen die Welt untergehen und ich hab nie erfahren, warum einer meiner besten Freunde Pfarrer werden will.«

      Tom wurde ernst.

      »Ich werde dir die Antwort geben, wenn ich dazu bereit bin, wenn dir das recht ist, ok?«

      »Klar, Mann. Kein Thema.« Sie stießen ihre Fäuste zusammen, eine Geste, die sie nicht mehr gemacht hatten, seit sie fünfzehn gewesen waren. »Solltest nur nicht zu lange warten.« Keiner der anderen beiden reagierte auf diesen Witz.

      Von Weitem hörten sie ein Geräusch, dass alle aufhorchen ließ. Verdutzt wandten sie die Köpfe nach rechts, in Richtung Innenstadt. In den letzten Monaten hatte man kein Auto gehört, nicht mal ein leises Motorenbrummen. Nun jedoch heulte auf der Rheinbrücke ein lautes, schrilles Motorengeräusch