Mein Bruder, Muhammad Ali. Rahaman Ali

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Название Mein Bruder, Muhammad Ali
Автор произведения Rahaman Ali
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783903183827



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jeden Feiertag mit der Familie Dundee.

      Ich war in meinem letzten Schuljahr, als mein Bruder den Vertrag mit der Louisville Group unterzeichnete und nach Miami Beach übersiedelte. Nachdem er ins Profilager gewechselt war, gab er einen großen Teil seines Geldes, das er von dem Konsortium aus Louisville erhielt, dafür aus, unseren Eltern ein neues Heim zu kaufen. Mutter hatte oft über die Dinge gesprochen, die sie gerne gehabt hätte – darunter auch ein neues Haus. Ich erinnere mich noch genau daran, wie glücklich unsere Mutter war. Nun konnte sich unsere Familie den einen oder anderen Luxus leisten, da mein Bruder eine erfolgreiche Zukunft vor sich zu haben schien. Es dauerte nicht lange, und Muhammad holte mich zu sich nach Miami. Trotz seines engen Verhältnisses mit den Dundees hatte mein Bruder kaum jemanden, dem er vertrauen konnte, und so holte er mich 1962 zu sich, da er jemanden aus der Familie um sich haben wollte. Für meinen Teil muss ich sagen, dass ich bis dahin nie einen ordentlichen Job hatte, und so ergriff ich die Gelegenheit mit beiden Händen. Meine erste Aufgabe war es, ein Mitglied von Muhammads Entourage und seinem Team zu sein. Unnötig zu erwähnen, dass ich sofort meine Koffer packte und bei ihm einzog. Ich lebte mich schnell bei meinem Bruder ein. Muhammad und ich verbrachten unsere Freizeit oft damit, im Wohnzimmer zu sitzen, Filme anzuschauen und uns zu entspannen. Um spätestens 11 Uhr nachts waren wir dann meist im Bett, da wir ja schon früh am Morgen rausmussten, um das Lauftraining zu absolvieren.

      Neben seiner Geduld im Umgang mit der Polizei war Angelo genau das, was mein Bruder brauchte. Er war ein wunderbarer Mensch, der die Herzlichkeit eines Lieblingsonkels mit einem ans Übernatürliche grenzenden Verständnis für die Psyche eines Boxers in sich vereinte. Er schaffte es, in die Köpfe seiner Schützlinge zu sehen und sie dazu zu bringen, Dinge zu vollbringen, ohne dass sie etwas davon mitbekamen, was genau das war, was mein Bruder zu diesem Zeitpunkt in seiner Karriere benötigte. Muhammad war immer dickköpfig gewesen, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, und so musste Angelo Mittel und Wege finden, ihn davon zu überzeugen, dass alles, was er tat, seine eigene Idee war. Angelo verbrachte viel Zeit damit, Muhammad zu manipulieren und ihm vorzugaukeln, dass er selbst die Entscheidung traf, mehr oder weniger zu trainieren, an einem bestimmten Schlag zu arbeiten oder sonst etwas. Wenn er wollte, dass mein Bruder mehr Uppercuts schlagen sollte, dann lobte er ihn für das eine Mal in der Runde, als er einen schlug, und in der nächsten Runde schlug Muhammad dann vielleicht sogar ein halbes Dutzend.

      Eine meiner Lieblingsanekdoten über Angelo hat allerdings mit einem anderen Boxer zu tun, den er zur selben Zeit wie meinen Bruder trainierte. Dieser Boxer hatte sein Selbstvertrauen in seine Schläge verloren und dachte, seine Schläge wären einfach nicht mehr hart genug. Wie wahrscheinlich jeder Boxer weiß, sind solche Zweifel pures Gift – wenn du dir nicht mehr zutraust, hart genug zu schlagen, traust du dir auch keinen Schlagabtausch mehr zu, und du gehst unter. Eines Tages also, vor Beginn des Trainings, lockerte Angelo die Verankerung an der Boxbirne, und als der besagte Boxer das erste Mal zuschlug, löste sich die Schraube, und die Boxbirne flog in hohem Bogen durch die Halle. Der verdutzte Boxer dachte, sein Schlag wäre wieder so richtig explosiv, und boxte von nun an wieder voller Selbstvertrauen.

      Es ist großartig, einen Coach wie Angelo an deiner Seite zu haben, jemanden, der einem im Hintergrund hilft. Und ich sah, welchen Unterschied dies machte – gelegentlich drehten Muhammad und ich ja auch ein paar Runden im Ring gegeneinander, und manchmal gewann er und manchmal ich. Doch ich fühlte, wie er schnell besser, schneller und stärker wurde.

      Aber auch Muhammad tat das seinige dazu. Jeder Boxer arbeitet hart, doch Angelo sagte immer wieder, dass er nie einen Kämpfer in seinem Boxstudio hatte, der so viel arbeitete wie Muhammad – und das aus dem Mund eines Mannes, der in seiner Karriere mehr als 15 Weltmeister trainierte. Tatsächlich meinte Angelo, dass Muhammad manchmal auch zu viel trainierte. Schon am Anfang seiner Karriere steckte Muhammad zu viele Schläge im Training ein. Angelo wusste genauso gut wie ich, dass Muhammad es absichtlich zuließ, dass seine Sparringspartner ihn am Kopf trafen. Selbst als er dann einen Kopfschutz trug, erduldete er weiter die harten Treffer, denen andere Boxer immer auszuweichen versuchten. Er war nämlich der Überzeugung, dass ihn dies auf richtige Kämpfe vorbereiten würde, was sich damals nicht halb so verrückt anhörte, wie es heute klingt. Wie man es auch betrachtet, mein Bruder war ein Vollprofi, der hart trainierte und alles tat, um sich auf seine Kämpfe gut vorzubereiten. Und seine härtesten Kämpfe standen ihm noch bevor.

       EIN BRUDER AUF MISSION

      Vorurteile und Rassentrennung waren alltäglich im Leben aller Farbigen in Amerika in den 1960er-Jahren, doch in einigen Gegenden

      war es schlimmer als in anderen. Während die schleichenden Auswirkungen des Rassismus in Louisville sicherlich spürbar waren, so gab es in Miami überhaupt kein Entkommen. Dort erstreckte sich die Rassentrennung nicht nur auf Nachtclubs und Cafés, sondern auch auf den Strand: Den weißen Einwohnern Miamis waren die schönsten und saubersten Abschnitte des Strands vorbehalten, farbige Menschen mussten sich mit jenen nahe der Abwasserrohre zufriedengeben und dort schwimmen, oder der Zutritt wurde ihnen überhaupt verweigert. Restaurants, die sich weigerten, Afroamerikaner zu bedienen, waren bis weit in die 1960er-Jahre hinein verbreitet, und als die Rassentrennung an den Schulen offiziell aufgehoben wurde, gab es wilde Proteste vonseiten der lokalen weißen Bevölkerung.

      Das war die Stimmung in der Stadt, als mein Bruder 1960 nach Miami zog. Für eine Person mit schwarzer Hautfarbe waren diese Regeln ein fester Bestandteil ihres Lebens in einem angeblich freien Land – selbst für einen Olympiasieger. Zwar ließ sich Muhammad beim Training nicht von den Vorurteilen der anderen behindern – dafür hatte er eine zu dicke Haut –, doch mein Bruder und ich machten von Zeit zu Zeit Bekanntschaft mit der hässlicheren Seite des Landes, wenn wir uns in Miami unter die Leute mischten. Jedes Mal, wenn du aus der Reihe tanztest, war schon jemand zur Stelle, der dich direkt oder hinter deinem Rücken darauf aufmerksam machte, dass du anscheinend vergessen hast, wo du hingehörst. Das traf nicht nur auf die Öffentlichkeit zu. Man zog auch die Aufmerksamkeit der alteingesessenen Institutionen und Behörden im Mainstream-Amerika auf sich. Muhammad sagte zu mir: „Solange unsere Leute ihren Platz in der Gesellschaft nicht verlassen, ist alles okay. Aber wenn sie einmal aus der Reihe tanzen, laufen sie Gefahr, umgebracht zu werden.“

      Mit seinem typischen Selbstbewusstsein war Muhammad bereit, dieser Art von Behandlung offen mit Verachtung entgegenzutreten. Als sachkundiger Experte für die Geschichte des Boxsports verfolgte er diese verächtliche Einstellung gegenüber schwarzen Athleten bis zu Jack Johnson zurück, der gejagt und aufgrund der lächerlichen Anschuldigung, eine weiße Frau rechtswidrig über die Bundesstaatsgrenze gebracht zu haben, sogar eingesperrt wurde. Auch kannte er das traurige Schicksal von Joe Louis und Jesse Owens, die ihr ganzes Leben lang vom Finanzamt wegen angeblicher Steuervergehen verfolgt wurden. Und er war sich der Gefahr bewusst, in der sich Jackie Robinson befand, der Morddrohungen erhielt, als er als erster farbiger Spieler in der modernen Major League Baseball spielte.

      Jim Brown, den eine langjährige Freundschaft mit Muhammad verband, galt als der böseste und gemeinste Farbige in Amerika und sah sich allen möglichen erfundenen Anschuldigungen, speziell von Frauen, gegenüber. Die Botschaft war eindeutig: Jedes Mal, wenn du als Schwarzer in der amerikanischen Gesellschaft aus der Reihe tanzt, wirst du attackiert und an den Pranger gestellt. Das war definitiv der Fall, auch bei Muhammad, der im Zuge seines Olympiasiegs unendlich viel Aufmerksamkeit in den Medien bekam. Denn genauso wie man meinen Bruder auf seinen Platz verwies, war er als Weltmeister im Schwergewicht ein wichtiges Instrument für politische, wirtschaftliche und andere Interessen der Weißen. Als Muhammad sich dazu entschloss, gegen das System anzukämpfen, wusste er, dass er sich zur Zielscheibe machen würde. Aber so wie jeder andere farbige Sportler auf irgendeine Art und Weise unter Beschuss des amerikanischen Establishments kam, wusste auch er, dass es ihm ebenfalls so ergehen würde, egal was er tat.

      Berücksichtigt man all dies, dann ist es vielleicht einfacher zu verstehen, was das Interesse meines Bruders an der Black Power Bewegung – vor allem an der Nation of Islam (NOI) – erweckte. Es ist eine irrige Annahme, dass Malcolm X meinen Bruder zur Nation of Islam gebracht hatte und für die Konversion meines Bruders zum Islam verantwortlich war. Zweifellos hatte Malcolm einen großen Einfluss darauf, doch er war nicht derjenige,