Das armenische Tor. Wilfried Eggers

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Название Das armenische Tor
Автор произведения Wilfried Eggers
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783894257613



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sich um.

      Die Armenierin hatte sich erhoben. Mit tränennassem Gesicht und apathischem Blick stand sie da, sie schwankte, Speichel tropfte ihr aus dem Mund, ihre Mundwinkel zitterten und ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

      Er langte nach seinem Telefon, drückte Angelas Nummer, gleichzeitig die Lautsprechertaste. »Kommen Sie bitte, sofort, jetzt!«

      Die fünf Sekunden, die Angela bis zu ihrem Chef brauchte, schienen Schlüter ewig zu dauern. Endlich öffnete sich die Tür.

      »Nehmen Sie Frau Bedrosian in den Arm«, bat er, »bitte seien Sie so lieb.«

      Nur einen winzigen Augenblick lang flackerten Unsicherheit, Erstaunen und Zögern in Angelas Gesicht auf, dann hatte sie die Frau schon umarmt und hielt sie, schweigend. Schlüter verließ das Zimmer, drehte eine Runde durchs Büro, überlegte, ob er bei dem Gerechten hereinschauen sollte, ließ es aber, erwog, ob er einen Tee kochen sollte, ließ es ebenfalls, stellte sich vor Angelas Fenster und betrachtete abwesend die Kakteensammlung, die der Paragrafenluft das Leben abtrotzte, wippte auf den Zehenspitzen, ignorierte das klingelnde Telefon. Als er wieder denken konnte, dachte er, eine Vergewaltigung geht ja noch, jedenfalls, wenn er das Opfer vertrat. Doch Völkermord? Was hat das damit zu tun? Manchmal wusste man nicht, worauf man sich einließ, wenn man ein Mandat annahm.

      Nicht schon wieder, das ertrage ich nicht.

      Noch nie hatte er ein Mandat abgelehnt, nachdem er ein Gespräch angefangen und seine Poren geöffnet hatte. Er wusste nicht, ob das Feigheit oder Treue war.

      Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. Die beiden Frauen saßen sich auf den Besucherstühlen gegenüber, ihre Knie berührten sich und sie drückten sich die Hände.

      »Ich kann nicht damit leben«, flüsterte Anahid Bedrosian. »Wissen Sie, wie viele armenische Frauen von den Türken vergewaltigt worden sind? Es muss einmal ein Ende haben, es muss, es muss, es muss!« Ihr Gesicht war zu bleichem Teig geworden, die Augen trübe von Tränen.

      »Sie müssen zum Arzt. Sofort«, befahl Schlüter.

      »Aber ich …«

      »Zu Ihrem Frauenarzt. Bestimmt haben Sie einen. Oder eine?«

      »Aber ich weiß noch gar nicht, ob …«

      Schlüter dachte nach. »Dann fahren wir besser gleich zu Professor Püschel ins UKE nach Hamburg.« Püschel hatte schon den Barschel obduziert, er war eine Koryphäe, ein Mann, dem nichts unter dem Himmel verborgen blieb.

      Angela streichelte der Frau die Hände.

      »Sie müssen jetzt keine Strafanzeige erstatten«, fuhr Schlüter fort. »Der Professor dokumentiert. Absolut gerichtsfest. Und Sie haben danach Zeit. Wenn Sie heute nichts tun, ist die Sache entschieden, und wenn es Sie später reut, können Sie es nicht mehr umdrehen. Dann ist es zu spät und Strafanzeigen ergeben dann keinen Sinn mehr. Bitte! Ich fahre Sie hin.«

      »Gut«, sagte die Mandantin. »Ich nehme Ihr Angebot an.«

      Schlüter griff sich seine Jacke. »Unter einer Bedingung.« Er wartete, bis sie ihn ansah. »Dass wir erstens sofort losfahren und zweitens unterwegs kein Wort über die Tat sprechen. Alles nur bei Püschel, Sie allein, geheim, vertraulich, verschlossen. Schweigepflicht eben. Sie haben die Herrschaft und niemand anders. Mit mir: kein Wort. Okay?«

      Sie nickte.

      Schlüter warf sich in die Jacke und tastete nach dem Autoschlüssel. »Melden Sie uns bitte an, Angela. Püschel. Rechtsmedizin. UKE. Finden Sie im Netz. Und sagen Sie dem Gerechten, ich komme heute nicht wieder.« In der Tür drehte er sich um. »Und rufen Sie bitte meine Frau an und sagen ihr, dass ich nach Hamburg fahre.«

      Die Frage, die er hatte stellen wollen, hatte er vergessen.

      6

      Sie gingen die knarzende Treppe hinunter – Schlüter voran, die Hand am Rosenholzgeländer – und verließen das Haus. Schlüter hatte seinen japanischen Wagen hinter dem Kino geparkt. So konnte er stets ein paar Schritte an der frischen Luft gehen, vor oder nach der Arbeit, und außerdem war es der einzige einigermaßen erreichbare Parkplatz, der nichts kostete.

      Der zweite Tag der Woche ging zur Neige, die schwarze Hand der Nacht senkte sich herab. Anahid Bedrosian folgte ihm schweigend. Sie stiegen ein und Schlüter startete den Wagen. Bevor er den ersten Gang einlegte, drehte er den Zündschlüssel wieder zurück.

      »Was ist?« Anahid Bedrosian war irritiert.

      »Wo sind Ihre Sachen?«, fragte Schlüter. »Ich meine die, die sie anhatten, als …«

      »Mülltonne.«

      »Und die Müllabfuhr?«

      »War noch nicht da. Ich habe nur alle vier Wochen Abfuhr. Kommt nächste Woche.«

      »Gut. Müssen wir holen. Jetzt. Wegen der DNA.« Schlüter atmete auf.

      Anahid Bedrosian wohnte am Rand der Auewiesen in einer Reihenhaussiedlung aus den Siebzigern, im Süden der Stadt, nicht weit vom Krankenhaus entfernt am Fuß eines Geestbergs, den die nordeuropäischen Eismassen vor zwölftausend Jahren aufgeschoben hatten.

      Schlüter wies seine Mandantin an, die Kleidung in einen neuen Müllsack zu stecken. Er parkte den Wagen vorm Haus, folgte ihr bis zur Gartenpforte und wartete dort, bis sie mit blassem Gesicht wiederauftauchte, einen blauen Müllbeutel in der Hand, und beobachtete, wie sie den Deckel der Mülltonne in der Garage vor dem Haus aufklappte, einen zweifelnden Blick hineinwarf, hineinlangte und schließlich die weggeworfenen Kleidungsstücke mit spitzen Fingern hervorzog und in den Beutel fallen ließ.

      »Auf geht’s«, verkündete Schlüter.

      Nach wenigen Minuten waren sie an der Kreuzung der beiden Bundesstraßen, wo Schlüter Richtung Hamburg abbog. Das Wetter war umgeschlagen. Es gab nichts zu sehen außer den Nebeldrachen, die den Lastwagen nachwirbelten, und den Milchaugen der Fahrzeuge. Es gab keine grünen Wiesen, keine Obstplantagen, keine Waldränder und keine Blicke auf die Niederungen der Elbmarschen. Alles war im Dunst verschwunden, alles war nass und grau und mehr Winter als Frühling. Und doch saßen sie trocken im Auto.

      Schlüter erklärte seiner Mandantin, weshalb er mit ihr über die Straftat nicht reden wolle und warum es das Beste sei, wenn sie mit niemandem sonst darüber spräche, auch nicht mit nahestehenden Personen, es sei denn, sie entschlösse sich, endgültig und unwiderruflich von einer Strafanzeige abzusehen. Das Dilemma des Opfers. Einerseits half es, wenn man erzählen durfte, was einem widerfahren war. Andererseits war die Erinnerung ein unzuverlässiger Freund, denn mit jedem Wort, das man daherredete, verschob sie sich ein wenig.

      Besonders wenn du engagierte Zuhörer hast, die fleißig nicken und dich bestätigen. Je öfter und mit je mehr Leuten du darüber sprichst, desto weniger wirst du dich erinnern können an das, was tatsächlich geschehen ist. Zuletzt erzählst du nur noch, was du dir selbst erzählt hast, du betonst, was bei deinen Zuhörern besonders gut angekommen ist, du kannst flüssig berichten, aber dein Bericht enthält nichts Authentisches mehr. Ein Richter hat keine Lebenserfahrung, denn er kennt nur den Gerichtssaal und verwechselt ihn mit dem Leben draußen. Er freut sich über deine glatte Aussage, nur wehe, es gibt einen Verteidiger, der dich auseinandernimmt, und einen Gutachter, der dich seziert. Im Zweifel für den Angeklagten. Dem Strafgesetzbuch ist das Opfer egal, es kümmert sich nur um den Täter, es schützt ihn vor Willkür. Das Opfer muss sich selbst helfen. Opfer sind noch unbeliebter als Täter. Und das Ganze nennt man ›Gerechtigkeit‹.

      Anahid Bedrosian würde lange schweigen müssen, denn der Staat hatte zwar das Monopol übernommen, die Übeltäter zu bestrafen, ließ sich allerdings eine Menge Zeit dabei. Zeit, in der das Opfer in der Macht des Täters stand. Nicht einmal eine vielleicht notwendige Therapie sei möglich, erläuterte Schlüter. Denn eine wahrheitsgemäße und authentische Zeugenaussage müsse, wolle sie Erfolg haben, die erste Priorität sein. Auch in der Therapie müsse sie über das Geschehen sprechen, und das könne das Erinnern vernebeln, verändern, verfälschen, verschieben. Warten also, die Pein ertragen. Das Opfer sei der Wirt des