1870/71. Tobias Arand

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Название 1870/71
Автор произведения Tobias Arand
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955101763



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Fahne, die wir noch einmal denen gegenüber entfalten, die uns herausfordern, ist dieselbe, die durch Europa die zivilisatorischen Ideen unserer großen Revolution trug. Sie vertritt dieselben Prinzipien; sie wird dieselben Gefühle der Hingebung einflößen.«5 Der Aufruf Wilhelms I. vom 31. Juli atmet hingegen preußische Nüchternheit und protestantische Frömmigkeit. Um die innere Einheit herzustellen, erlässt er eine Amnestie für politische Gefangene: »Indem ich heute zur Armee gehe, um mit ihr für Deutschlands Ehre und für Erhaltung unserer höchsten Güter zu kämpfen, will Ich, im Hinblick auf die einmütige Erhebung Meines Volkes, eine Amnestie für politische Verbrechen und Vergehen erteilen. […] Mein Volk weiß mit mir, daß Friedensbruch und Feindschaft wahrhaftig nicht auf unserer Seite war [sic!]. Aber herausgefordert, sind wir entschlossen, gleich unseren Vätern und in fester Zuversicht auf Gott, den Kampf zu bestehen zur Errettung des Vaterlands.«6

      Auf beiden Seiten kämpfen aktive Wehrpflichtige, Berufssoldaten, Freiwillige und Reservisten. Im ›Norddeutschen Bund‹ und in den Ländern, die mit Preußen ab 1867 Militärkonventionen abgeschlossen haben, herrscht theoretisch Wehrpflicht für alle Männer vom vollendeten 17. bis zum 45. Lebensjahr. Nach der aktiven Zeit, die je nach Truppengattung zwei bis drei Jahre beträgt, hat jeder ehemalige Wehrpflichtige noch eine Reservepflicht von in der Regel vier bis fünf Jahren abzuleisten. Da allerdings mehr Wehrpflichtige als Wehrstellen zur Verfügung stehen, wird gelost, wer zum Wehrdienst antreten muss. Durch das Los bestimmte, taugliche Wehrpflichtige eines Jahrgangs unterliegen bis zum 32. Lebensjahr der Ersatzreservepflicht. Allerdings sind es häufig junge Männer aus dem gehobenen Bürgertum, die von der Wehrpflicht freigestellt werden. Von den wehrpflichtigen Jahrgängen werden in Friedenszeiten nie mehr als 50 Prozent in die Kasernen einberufen. Alle ehemaligen Aktiven und Reservepflichtigen treten nach Ablauf ihrer Dienstpflichten dem Landsturm bei. Im zivilen Leben vielleicht Lehrer, einfacher Arbeiter oder Bankkaufmann müssen viele Reservisten nun ihre vor Jahren im Wehrdienst erlernten militärischen Kenntnisse bemühen, wollen sie den Krieg überleben. Auch die körperliche Verfassung vieler ›Teilzeitsoldaten‹ wird jetzt durch Gewaltmärsche und die Unbilden des Wetters häufig auf die Probe gestellt. Doch nicht nur Menschen, ebenso Pferde, Munition, Verpflegung und Gerät müssen in kurzer Zeit organisiert und an die Grenze des jeweiligen Feindes gebracht werden. Reservisten erhalten eine Nachricht von der für sie zuständigen Dienststelle, den sogenannten ›Gestellungsbefehl‹. In ländlichen Gebieten ergeht der Gestellungsbefehl für die Männer eines Dorfes oft an den jeweiligen Ortsvorsteher, der dann von Haus zu Haus geht, um die Nachricht zu überbringen. Der Gestellungsbefehl gibt genaue Angaben, zu welchem Ort der Wehrpflichtige kommen muss, um gemustert, eingekleidet und für den Kriegsfall vorbereitet zu werden. Viele Reservisten trifft der Gestellungsbefehl im Ausland oder bei wichtigen Geschäften. Dem Gestellungsbefehl ist jedoch unter allen Umständen Folge zu leisten. Fernbleiben gilt als Fahnenflucht und wird mit Gefängnis, manchmal mit dem Tod bestraft.

      Für viele Familien ist der zeitweilige Verlust des Ernährers ein großes Problem, so zum Beispiel für die Familie des Tischlergesellen Albert Böhme. Böhme ist 24 Jahre alt und hat gerade seine Frau Friederike geheiratet. Friederike ist schwanger. Ein erstes, noch uneheliches Kind der beiden ist bereits verstorben. Beide Eheleute müssen hart arbeiten, um sich einen sehr bescheidenen Lebensunterhalt am Rande des Existenzminimums sichern zu können. Friederike Böhme, geborene Oppermann, arbeitet in der Buchdruckerei und Verlagsbuchhandlung von Georg Westermann in Braunschweig. Die Böhmes leben im Herzogtum Braunschweig, dessen Truppen als Teil des norddeutschen Kontingents preußischem Oberbefehl zugeordnet sind. Am 16. Juli wird auch im Herzogtum Braunschweig mobil gemacht und Albert Böhme rückt nach kurzer Übungszeit als Soldat der 1. Kompanie des 1. Bataillons des Braunschweigischen Infanterie-Regiments Nr. 92 am 28. Juli mit der Eisenbahn aus Braunschweig aus. Für die schwangere Friederike ist die Todesgefahr, in der sich ihr junger Ehemann nun befindet, eine existenzielle Bedrohung. Nicht einmal verabschieden kann sich Friederike von ihrem Mann. Albert und Friederike Böhme verpassen sich. In einem Brief an ihren Mann vom 4. August 1870 beklagt sich Friederike Böhme: »Mein lieber Albert ich hätte dich doch so gern nochmal gesehen doch mir war die Freude nicht vergönt denn Deine und meine Mutter und die Tante wir standen auf der anderen Seite nach Deiken seiner Fabrick hin wo Du heraus sehen wolltest und es doch nicht getan hast es wahr ja aber nicht zuändern denn wir konnten dich nicht wieder umrufen und musten also zu Haus gehen ohne Dich noch einmal gesehen zu haben.«7 Im Hause Böhme herrscht keine Begeisterung, bestenfalls duldender Gehorsam gegenüber den Autoritäten, die den Kriegseinsatz befehlen. Völlig anders sieht es bei vielen Kriegsfreiwilligen aus, die sich im patriotischen Überschwang zu den Waffen melden. Diese rekrutieren sich aus unterschiedlichen Gruppen von eigentlich nicht wehrpflichtigen, zurückgestellten, wehrdienstbefreiten oder nicht wehrfähigen Männern. Nicht allgemein wehrpflichtig sind zum Beispiel Studenten der katholischen Theologie und alle süddeutschen Jahrgänge vor Abschluss der Militärkonventionen mit Preußen. Die Kriegsfreiwilligen, die zumindest im ›Norddeutschen Bund‹ und in Bayern wegen der ausreichenden Zahl regulärer aktiver Wehrdienstleistender und Reservisten eigentlich überflüssig sind, werden nicht überall mit Begeisterung in die Armee aufgenommen. Sie besitzen meistens keinerlei militärische Vorbildung und werden deshalb am Anfang häufig von Offizieren und Ausbildern als Ballast wahrgenommen. Länder, die es sich leisten können, lehnen viele Kriegsfreiwillige anfangs als untauglich ab. Im Verlauf des Krieges werden allerdings bald Freiwillige auch in den zunächst kriegskritischen Ländern mit größerer Bereitschaft ausgebildet und in die kämpfenden Truppen integriert, da sich auf diese Weise die enormen und nicht vorhergesehenen Verluste ausgleichen lassen, ohne die älteren Jahrgänge zu stark zu belasten. Das Königreich Württemberg nimmt sogar Freiwillige auf, die in anderen deutschen Ländern zuvor ausgemustert worden sind.

      Auch Karl Zeitz meldet sich freiwillig. Der 26-jährige Zeitz stammt aus Salzungen im Herzogtum Sachsen-Meiningen und hat im Jahr 1870 schon eine bewegte Jugend hinter sich. Vor dem Abitur vom Gymnasium geflohen, hat der Sohn aus gutbürgerlichem Haus erst eine kaufmännische Lehre absolviert, bevor er für einige Jahre in wechselnden Berufen in französischen Handelshäusern tätig war. Als der Krieg ausbricht, verdient Zeitz mit dem Vertrieb ›Nürnberger Zinnsoldaten‹ in Frankreich sein Geld. Als er einige Jahre vor der ›Julikrise‹ in Frankreich durch einen väterlichen Brief in die Heimat zur Musterung gerufen wurde, konnte er sich vom Militärdienst freikaufen. Freikauf ist in vielen deutschen Ländern vor Gründung des ›Norddeutschen Bundes‹ und dem Abschluss der Militärkonventionen mit Preußen eine übliche Praxis höhergestellter junger Männer, den Wehrdienst zu vermeiden. In manchen deutschen Ländern können Bessergestellte obendrein Stellvertreter zum Dienst schicken. Zwar hat auch Sachsen-Meiningen 1867 als Mitglied des ›Norddeutschen Bundes‹ mit Preußen eine Militärkonvention abgeschlossen, mit der die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und Freikauf unterbunden wurde, doch Zeitz wurde vorher gemustert und kehrte glücklich noch am Tag der Untersuchung nach Paris zurück. Die Möglichkeit für Zeitz, sich mit einem nicht unerheblichen Betrag vom Wehrdienst freikaufen zu können, zeigt seinen gehobenen sozialen Status. Doch einige Jahre später, im Sommer 1870, will Zeitz endlich doch noch Soldat werden. Er reist über Nacht aus Frankreich ab in seine Heimatstadt. Dort muss er sich im Rathaus Papiere besorgen, die ihm bestätigen, nicht wehrpflichtig zu sein. Anschließend fährt er sofort nach Mainz, wo das Regiment seines Bruders Theodor, das 2. Thüringische Infanterie-Regiment Nr. 32, kurz vor der Abfahrt an die Front steht. Heimatstandort des Regiments ist Meiningen. Mit knapper Not erreicht Zeitz das Regiment mit einem späten Zug noch rechtzeitig. In Zivil tritt der durch das Kaufmannsleben in Frankreich an gutes Essen gewöhnte, körperlich untrainierte Zeitz auf dem Kasernenhof vor den Bataillonskommandeur. Zuvor hat er sich über Beziehungen an den Regimentskommandeur gewandt und dessen Einverständnis zur Feldzugsteilnahme abgeholt. Zeitz schildert die Szene in seinen ›Kriegserinnerungen‹: »›Feldzugsfreiwilliger?‹, fragte er mich. ›Ja‹, antwortete ich. ›Wo haben Sie früher gedient?‹ ›Ich habe noch gar nicht gedient.‹ Der Major drehte sich nach dem Regimentsadjutanten herum: ›Noch gar nicht gedient? Da kann ich ja den‹ – es war mir, als hörte ich etwas von ›Kerl!‹ – ›garnicht gebrauchen.‹ ›Verzeihung, Herr Oberstwachtmeister, Befehl vom Herrn Oberst,‹ entgegnete der Regimentsadjutant […]. ›Ja, wenn es Befehl vom Herrn Oberst ist, dann muß ich freilich den‹ – jetzt hörte ich ganz deutlich – ›den Kerl mitnehmen,‹ sagte unwillig