Название | 1870/71 |
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Автор произведения | Tobias Arand |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955101763 |
Das Interesse an Militärgeschichte ist nach zwei verlorenen Weltkriegen und einer entsprechend kritischen Geschichtskultur in Deutschland – anders als im europäischen Ausland – nicht ohne Grund auch gegenwärtig wenig ausgeprägt. Doch wie stünde die deutsche Geschichtswissenschaft da, wenn sie sich nur solchen Themen widmen würde, die sie glaubt, moralisch verantworten zu können? Man muss Kriege nicht mögen, um in ihrem Studium trotzdem Erkenntnisse zum Verständnis der Gegenwart und zu ihrer kritischen Beurteilung zu gewinnen.
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Dieses Buch wendet sich weniger an den professionellen Geschichtswissenschaftler, sondern an jeden historisch Interessierten. Es versucht, komplizierte Zusammenhänge ohne unnötigen Ballast verständlich zu machen und so den Vorbildern Fontanes und Hornes nachzueifern. Dabei kommt es zwangsläufig zu Verknappungen, Auslassungen, vielleicht sogar zu unstatthaften Verkürzungen. Auch auf die im wissenschaftlichen Kontext üblichen Literaturverweise durch Fußnoten im Text wird hier – außer bei direkten Zitaten – im Interesse der Verständlichkeit und Lesbarkeit verzichtet. Die gesamte Literatur und alle Quellen – darunter vor allem gedruckte Erinnerungsbücher, Regimentsgeschichten, edierte Briefe –, die hier Verwendung fanden, werden in der angehängten Literaturliste aufgeführt. Selbstverständlich stützt sich jede historische Erzählung auf Quellen, aber ebenso auf die älteren historischen Erzählungen anderer. Dieses Buch versteht sich weniger als ein wissenschaftliches Werk, es will ein Lesebuch im Wortsinne sein.
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Nicht nur Verknappung, auch Personalisierung ist eine mit Recht in der Fachwissenschaft kontrovers diskutierte Methode, um das Handeln und Fühlen schon lange verstorbener Menschen dem heutigen Leser näherzubringen. In der Personalisierung liegen die Gefahren der Eindimensionalität, der übertriebenen Emotionalisierung und des Verlustes eines scharfen Blicks für die Strukturen. In der Personalisierung liegt aber überdies der Vorzug, nicht von Abstraktionen, sondern Menschen, die tatsächlich gelebt haben, ihren Sorgen, Freuden, ihrem Alltag für jedermann verständlich schreiben zu können. Und wie soll eine solch fundamentale Erfahrung, wie sie ein Krieg darstellt, geschildert werden, wenn nicht über die Erlebnisse, Gefühle und Ansichten der unmittelbar am Krieg beteiligten Menschen? So begleiten den Leser nun viele Zeitzeugen, die den Krieg von 1870/71 erlebt haben: Könige, hohe Militärs, Krankenschwestern, Maler, Geistliche, einfache Soldaten, Diplomaten, Gesellschaftstheoretiker, Journalisten, Literaten, Handwerker … Hören wir ihnen zu und schauen, was sie uns noch zu sagen haben.
»Es prickelte mich ordentlich […]« – Menschen ziehen in den Krieg
Eine scharf kritisierende Darstellung des Kriegsausbruchs und der Stimmung in Paris im Juli 1870 gibt wenige Jahre später der berühmte literarische Chronist des Zweiten Kaiserreichs, Émile Zola. Wie schon in seinen anderen Werken, zum Beispiel im Bergarbeiterepos ›Germinal‹, schildert er auch in seinem 1879 erschienenen Roman ›Nana‹ mit genauem Blick die Jahre unter Kaiser Napoleon III. ›Nana‹ erzählt das Leben der gleichnamigen Kurtisane, die sich durch die moralisch verdorbene, dekadente Pariser Oberschicht des Kaiserreichs ›schläft‹. Die vergnügungssüchtigen letzten Jahre des Second Empire, angefüllt von Jacques Offenbachs Operettenmelodien und Cancan-Tänzen, finden hier ihre ätzende Kritik. Während die an den Blattern qualvoll verstorbene Nana auf dem Totenbett liegt, dringt der durch die Kriegserklärung an Preußen verursachte patriotisch-lärmende Aufruhr auf den Straßen von Paris in ihr Sterbezimmer. Nanas schon verwesender Körper ist das Symbol für das gleichsam verwesende Kaiserreich und die Schreie der Kriegstobenden sind nur die letzten Zuckungen eines Regimes, das in wenigen Wochen in einem Chaos aus Tod, zerrissenen Körpern und Kanonendonner versinken wird. Die Kurtisane Lucy blickt nachdenklich aus dem Fenster zum Boulevard hinunter: »Traurigkeit schnürte ihr nach und nach die Kehle zu, als stiege eine tiefe Melancholie von dieser heulenden Menge auf. Noch immer zogen Fackeln vorbei und sprühten einen Funkenregen hinter sich her; in der Ferne wogten die Menschenhaufen und drängten sich bis weit in die Finsternis hinaus wie Viehherden, die man des Nachts zur Schlachtbank führt; und dieses Getümmel, diese wirren Massen, dahingetragen von der Flut, hauchten Entsetzen und maßlose Angst vor künftigen Metzeleien aus. Sie betäubten sich, ihre Schreie zerschellten in fiebrigem Wahnsinn, und so stürzten sie auf das Unbekannte zu, das dort fern hinter der schwarzen Wand des Horizonts lag: ›Nach Berlin!, Nach Berlin!, Nach Berlin!‹«3 Es sind die letzten Worte des Romans, die mit dem Zweiten Kaiserreich bildhaft abrechnen: »Nana blieb allein, das Gesicht nach oben gekehrt im hellen Schein der Kerze. Es war nur noch ein schmählicher Überrest, eine feuchte, blutige Masse, ein Haufen verfaulendes Fleisch, das dort hingeworfen auf dem Kissen lag. Die Blattern hatten das ganze Gesicht überzogen, eine Eiterbeule saß dicht neben der andern; vertrocknet und eingesickert wirkten sie schon, wie wenn Schimmel über die Erde wächst auf diesem formlosen Brei, der keine Gesichtszüge mehr erkennen ließ. […] Und über diese grauenhafte, groteske Maske des Nichts flutete das Haar, ihr herrliches Haar, und schimmerte noch immer in seinem Sonnenglanz wie ein Geriesel von Gold. Venus löste sich auf. Es schien als wäre das Gift, das sie vom Aas aus der Gosse mitgebracht, dieser Gärstoff, mit dem sie ein Volk verseucht hatte, ihr jetzt ins Gesicht gestiegen und hätte es in Fäulnis zersetzt. Das Zimmer war leer. Ein ungeheurer Hauch der Verzweiflung stieg vom Boulevard empor und bauschte den Vorhang: ›Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!‹«4
Als in der zweiten Julihälfte 1870 der Krieg erklärt ist, werden in Frankreich und in allen deutschen Ländern Millionen Männer im wehrfähigen Alter in Bewegung gesetzt, um sich auf den noch unbekannten Schlachtfeldern gegenseitig umzubringen. Am Ende des Krieges werden insgesamt fast drei Millionen Männer mobilisiert worden sein. Sie bilden die größten Armeen ihrer Zeit. Pathetische Proklamationen in Frankreich, nüchterne Appelle an die Pflicht, aber auch die Beschwörung göttlichen Beistands in Deutschland gehen der Mobilisierung voraus. Die Propaganda beider Seiten gibt jedem Kämpfer die Argumentation für seine Kriegsteilnahme vor. Napoleon III. lässt am 22. Juli in gewagter Logik verkünden, Krieg führen zu wollen, um künftige Kriege zu verhindern – ein so unaufrichtiges wie naives Konzept, unter dem Jahrzehnte später im Ersten Weltkrieg wieder alliierte Soldaten in den Kampf gegen die Mittelmächte gehetzt werden sollten. Wie schon die Truppen der Französischen Revolution des späten 18. Jahrhunderts werden auch Napoleons Soldaten dazu aufgerufen, den Deutschen die ›Zivilisation‹ zu bringen: »Wir führen den Krieg nicht gegen Deutschland, dessen Unabhängigkeit wir achten. Wir sind von dem Wunsche beseelt, daß die Völker, welche die große germanische Nationalität ausmachen, frei über ihre Geschicke verfügen sollen. Was uns angeht, so verlangen wir die Herstellung eines Standes der Dinge, der unsere Sicherheit gewährleistet und die Zukunft sichert.