1870/71. Tobias Arand

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Название 1870/71
Автор произведения Tobias Arand
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955101763



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hingegen fürchtet die großen Sympathien vieler Deutschösterreicher für die ›deutsche Sache‹ und glaubt daneben, sich einen Krieg finanziell nicht leisten zu können. Auch die Gefahr, dass Russland bei einem Eingreifen Österreich-Ungarns seine Neutralität zugunsten Preußens aufgeben könne, erscheint dem k.u.k-Außenminister und Reichskanzler Friedrich Ferdinand von Beust als zu groß. Zar Alexander II. von Russland droht Österreich-Ungarn offen mit der Besetzung Galiziens, sollte sich Wien gegen Berlin stellen. Zum einen fühlt sich Moskau durch das 1863 in der ›Alvenslebenschen Konvention‹ ausgesprochene Hilfsangebot Preußens bei der Niederschlagung des polnischen Aufstands Berlin gegenüber moralisch verpflichtet, zum anderen fürchtet Russland für den Fall eines französisch-österreichischen Sieges eine neue Unabhängigkeitsbewegung in Polen. Schließlich ist der preußische König auch noch Onkel des Zaren, dessen Mutter Alexandra Fjodorowna, geborene Charlotte von Preußen, die ein Jahr jüngere Schwester Wilhelms I. ist.

      Am 18. Juli, einen Tag vor der schriftlichen Kriegserklärung an Berlin, fordert die französische Regierung, Wien möge Italien nun mit 70 000 bis 80 000 Mann ein Durchmarschrecht gewährten, eine eigene Armee von 150 000 Mann nach Böhmen senden und weitere 200 000 bis 300 000 Soldaten zur Verfügung stellen. Als Preis lobt Paris die Revision der Kriegsergebnisse von 1866 aus. Österreich-Ungarn lehnt jedoch ab. Schließlich wahren Italien und Österreich-Ungarn lediglich eine für Frankreich wohlwollende Neutralität. Opportunistisch wollen sie den Kriegsverlauf abwarten und sich bei einer günstigen Entwicklung für Frankreich ein späteres Eingreifen vorbehalten. Die raschen Erfolge der deutschen Truppen im August 1870 machen diese Überlegungen allerdings bald hinfällig. Dass die Regierung in Paris am 15. Juli eine informelle Kriegserklärung abgibt, ohne sich des militärischen Beistands Italiens oder Österreich-Ungarns tatsächlich versichert zu haben, ist fahrlässig. Die kurzfristige Forderung an Wien, einen Tag vor der schriftlichen Kriegserklärung, als schon alles zu spät ist, Frankreich zur Seite zu springen und dafür einen geradezu fantastischen Preis anzunehmen, ist hingegen in ihrem hektischen Ungeschick nur als diplomatische Peinlichkeit zu bezeichnen. Einen abenteuerlichen, geradezu verzweifelten Plan hat Frankreich dann noch mit Dänemark, dem Verlierer von 1864. Ein französisches Landungskorps soll an der norddeutschen Küste oder in Jütland abgesetzt werden und gemeinsam mit den relativ schwachen dänischen Truppen den Krieg an die Nord- und Ostsee tragen. Nach Druck aus Russland und England, die beide dringend Neutralität empfehlen, winkt Kopenhagen dankend ab.

      England schließlich, dessen Regentin Queen Victoria die Schwiegermutter des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm ist, hat sich von Frankreich seit dem Krimkrieg ohnehin entfremdet. Es steht für eine antipreußische Koalition erst gar nicht zur Debatte. Letzte englische Vermittlungsversuche zur Beilegung des Konflikts scheitern am Unwillen beider Seiten. Die kurzfristigen Bündnisverhandlungen des Herzogs von Gramont und seiner umtriebigen Diplomaten enden für Frankreich in einem bemerkenswerten Desaster.

      Auch Ollivier, immerhin Leiter der Regierung, deren Außenminister Gramont nur ist, trägt an diesem Ungeschick seinen Anteil. Er verhindert nicht, dass es zum Krieg kommt, Frankreich ohne Verbündete dasteht, das Ausland überwiegend Frankreich als Aggressor ansieht und das Kaiserreich nur Wochen nach Kriegsbeginn scheitert. Er fällt dem eigenmächtigen Gramont nicht in den Arm. Es spricht Bände für seine gescheiterte Politik und seinen Anteil daran, dass der mittlerweile demissionierte Ollivier im Oktober 1870 glaubt, aus dem italienischen Exil den preußischen König brieflich um Gnade für Frankreich anbetteln zu müssen. Verzichte Wilhelm auf Eroberungen, werde ein langer und schöner Frieden herrschen, erobere er aber, drohten, so Ollivier, schwerwiegende Konsequenzen. In Olliviers weitsichtigen Worten, die sich im Jahr 1914 erfüllen sollten, zeigt sich schon deutlich die nachträgliche Bitternis des deutschen Sieges: »Wenn Sie aber unser Territorium anrühren, beginnen Sie einen neuen Dreißigjährigen Krieg. […] Werden Sie ein Eroberer, bereiten Sie eine Allianz der slavischen und lateinischen Völker gegen Preußen. […].«117

      Bismarck hat später gern im Dienste seiner eigenen Legendenbildung und mit Wirkung bis in die Gegenwart darauf verwiesen, dass nur seine Redaktion des Abeken-Telegramms beim Abendessen mit Moltke und Roon den endlich glücklich herbeigeführten Kriegsgrund gebildet habe. Nur die ›Emser Depesche‹ habe nach dem Rückzug Leopolds und dem Friedenswunsch König Wilhelms seinen Kriegsplan noch retten können. Bismarcks später geäußerte Ansicht, die ›Emser Depesche‹ habe wie ein »rotes Tuch auf den ›gallischen Stier‹«118 gewirkt, überzeichnet die Rolle des Kanzlers des ›Norddeutschen Bundes‹ zumindest in diesem Punkt ein wenig. Doch auch die französische Kriegserklärung bezog sich auf die Depesche und schien Bismarck so zu bestätigen. Seine Mitverantwortung am Kriegsausbruch hat Bismarck also nie geleugnet, vielmehr war er stolz darauf.

      Aber die Stimmung in der französischen Öffentlichkeit, unter den Parlamentariern wie Ministern war bereits derart aufgeheizt, gleichzeitig waren die Kriegstreiber um Eugénie so fest zum Waffengang entschlossen, dass es der ›Emser Depesche‹ nicht mehr wirklich bedurft hätte. Die ursprüngliche Version des Abeken-Telegramms hätte vermutlich die gleichen Emotionen ausgelöst, da hier die Abweisung des Botschafters durch den König ebenfalls nur zu deutlich wurde. Die Wirkung der ›Emser Depesche‹ war daher weniger im Hinblick auf Frankreich als auf die süddeutschen Staaten von Bedeutung und darin liegt Bismarcks eigentliche ›Leistung‹. Der offene Versuch der Ehrverletzung des preußischen Königs, der forsche Auftritt Benedettis und die nationalistische Arroganz, die aus Gramonts Forderungen sprach, waren eine Beleidigung aller Deutschen oder wurden von vielen zumindest als solche aufgefasst. Mit dem Vorgang von Bad Ems und der Veröffentlichung der Depesche kippte die Stimmung in den süddeutschen Staaten. Hatte man bei den Zollparlamentswahlen 1868 vor allem in Württemberg und Bayern noch sehr deutlich Skepsis gegenüber Preußen zum Ausdruck gebracht, wollte man nun auch dort ›Satisfaktion‹. Preußen war nun nicht mehr isoliert, sondern wusste sich von einer Welle patriotischer Begeisterung getragen, die, wie in der Adresse des Reichstags vom 19. Juli mit Recht formuliert, von der Nord- und Ostsee bis zu den Alpen, vom Rhein bis an die Memel reichte.

      Die ›Emser Depesche‹ gab so beiden Seiten eine glaubwürdige Argumentation für die Notwendigkeit eines Krieges an die Hand. Anders als weite Teile der Öffentlichkeit in beiden Ländern, die tatsächlich glaubten, für die jeweils beleidigte nationale Ehre in den Krieg ziehen zu müssen, waren sich Gramont und Bismarck über die wahren Hintergründe vollständig im Klaren. Hätten die nationalistisch bewegten Franzosen im Juli 1870 gewusst, wie hoch der Preis sein würde, den sie ab August für ihre Erregung zahlen würden, hätten sie vielleicht gezögert, sich zum Spielball der Mächtigen machen zu lassen. Auch manche badische oder preußische Familie sollte noch die Opfer kennenlernen, welche die nationale Einheit ihnen abverlangen würde. Die Verluste der Jahre 1870 und 1871 sollten jene von 1864 und 1866 weit in den Schatten stellen.

      Die Chronisten beider Seiten bemühten sich in der Folge, den Kriegsausbruch als ein patriotisches Fest voller Begeisterung und Emphase darzustellen. Das aber war für den Juli 1870 genauso propagandistisch überzogen wie später für den August 1914. Sicher gab es den tagelangen Krawall auf den Straßen von Paris und den begeisterten Empfang König Wilhelms in Berlin. Ebenso in Süddeutschland wogte die Welle antifranzösischer Empörung. Aber man darf den veröffentlichten Meinungen während der Ereignisse und den Darstellungen nach dem Krieg nicht uneingeschränkt Glauben schenken – sie sind häufig bewusst verzerrt oder übertrieben. Reife Familienväter mit Verantwortung für Frau und Kinder, Bauern in Sorge um Feld und Vieh, Industrie- oder Hilfsarbeiter, Tagelöhner, die mit einer eventuellen Verwundung als Invaliden keine Anstellung mehr finden, ziehen niemals begeistert in einen Krieg – sie wissen, was auf dem Spiel steht. Der Mob, der sich auf den Straßen in einen nationalen Rausch grölt, ist 1870 wie 1914 derselbe: junge Männer ohne Familie und meist ohne berufliche Verantwortung und Lebenserfahrung, Angestellte, Schüler, Studenten. Sie glauben, in ein Abenteuer aus Männlichkeitsbeweisen und Heldentum zu ziehen. Mit ihnen laufen aber auch die alten Männer über die Straßen, welche die Jugend ins Feld brüllen, damit sie ihnen, den Biertischstrategen, die nationalen Lorbeeren nach Hause holen möge. Die meisten wehrpflichtigen deutschen Männer ziehen 1870 aus Pflichterfüllung und mit dem ernsten Bewusstsein der Gefahr in den Krieg. Die nationale Sache mag vielen, vor allem den Gebildeten und politisch nationalliberal eingestellten Städtern, am Herzen liegen, das eigene Leben ist