Название | 1870/71 |
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Автор произведения | Tobias Arand |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955101763 |
Nüchterner als viele im Kriegstaumel schwelgende Zeitgenossen betrachten Karl Marx und Friedrich Engels die Julitage des Jahres 1870. Die beiden kommunistischen Exilanten in London und Manchester teilen die nationale Emphase in Deutschland keineswegs, sondern denken in anderen Kategorien als denen der ›Nation‹, ›Ehre‹ oder ›Rache‹. Marx wünscht dennoch einen deutschen Sieg gegen den ihm verhassten Napoleon III., allerdings hat er dabei ganz eigene Motive, wie er Engels am 20. Juli schreibt: »Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so ist die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht wird ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unserer Theorie über die Proudhons103 usw.«104 Engels, der in seinen ›Notes on the war‹, die ab 29. Juli 1870 in der ›Pall Mall Gazette‹ regelmäßig erscheinen, das Kriegsgeschehen für das englische Publikum kommentiert, schreibt am 28. Juli, vom deutschen Kriegsjubel angewidert, an Marx: »Der deutsche Philister scheint förmlich entzückt, daß er seiner eingeborenen Servilität jetzt ungeniert Luft machen kann.«105 Gleichzeitig sieht er in dem Krieg noch keine mögliche Gefahr für den von ihm und Marx propagierten Klassenkampf: »Glücklicherweise geht die ganze Demonstration von der Mittelklasse aus. Die Arbeiterklasse, mit Ausnahme der direkten Anhänger Schweitzers, nimmt keinen Anteil daran. Glücklicherweise ist der war of classes in beiden Ländern, Frankreich und Deutschland, so weit entwickelt, daß kein Krieg abroad das Rad der Geschichte ernsthaft rückwälzen kann.«106 Engels verweist mit der Erwähnung Johann Baptist Schweitzers, des Vorsitzenden des ›Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins‹, darauf, dass die Arbeiterklasse allerdings keineswegs einheitlich in der Ablehnung des Krieges steht. Schweitzer organisiert am 17. Juli in Berlin eine sozialdemokratische Kundgebung, die von immerhin 1000 Teilnehmern besucht worden sein soll. Ein zeitgenössischer Bericht eines Vertreters der Arbeiterklasse schildert diesen Ausbruch nationaler Emphase: »Die Befreiung der Sozialdemokraten, die Befreiung des Arbeiters von der politischen und sozialen Knechtung, sagte Dr. Schweitzer, würden durch diesen Krieg nicht beeinträchtigt, sondern in hohem Grade gefördert; der Sturz Napoleons müsse sich notwendigerweise zu einem Siege der Freiheit umgestalten.«107
Wie ist die Lage Mitte Juli außerhalb des ›Norddeutschen Bundes‹, in den süddeutschen Staaten? Am 16. Juli mobilisiert Bayern seine Streitkräfte, allerdings zeigt sich der in den Zollparlamentswahlen bezeugte Partikularismus auch hier. Viele Wehrpflichtige entziehen sich dem Ruf der Fahnen. Am 17. Juli allerdings feiert eine Menge von etwa 30 000 Menschen den König in München mit lautem Hurrageschrei und dem Absingen deutschnationaler Lieder. Am 18. Juli beantragt der bayerische Kriegsminister einen Gesetzentwurf über die Gewährung des Kriegskredits, über den am 19. Juli im Landtag zu München diskutiert wird. Für die bayerische Regierung liegt eindeutig der Bündnisfall vor. Die Sitzung ist stürmisch. Der Haushaltsausschuss, der zuvor über die Bewilligung der Kredite beraten hat, empfiehlt die Gewährung des Kredits, aber nur für die Aufrechterhaltung einer bewaffneten Neutralität. Mit diesem Entscheid ist der Skandal da. Viele Abgeordnete befürchten Kriegsfolgen für die an Frankreich grenzende Pfalz, andere schimpfen über den mangelnden Patriotismus ihrer Kollegen, im Landtag herrscht Tumult. Symptomatisch für die kritische Haltung vieler Vertreter im Bayerischen Landtag ist der Redebeitrag des Pfarrers und Abgeordneten Anton Westermayer. Theodor Fontane schildert Westermayers Rede und die Folgen: »Sein Herz, sagte er, bliebe kalt und ungerührt, wenn man immer von einem deutschen Kriege, einer deutschen Sache spreche. Die spanische Thronfrage habe mit Deutschland nichts zu schaffen; das seien bloß dynastische Interessen, die hier in Frage ständen. Auf beiden Seiten sei gefehlt worden und die Völker müßten nun für die Empfindlichkeit ihrer Fürsten bluten und sterben. Er spreche sich unter zweien Uebeln für das geringere aus. Er möchte den Pfälzern die Gräuel des Kriegs nicht zutragen (die Pfälzer Abgeordneten rufen: ›Wir scheuen sie nicht!‹). Wenn aber im Nachbarhaus ein Dieb einsteigt, so muß ich mein eigenes Haus versperren und kann dem Nachbarn keine Hilfe bringen.«108 Dieser Beitrag endet in wildem Geschrei, linke Abgeordnete springen von ihren Sitzen auf, Pfuirufe hallen durch den Saal und auch auf den Besucherplätzen macht sich Unruhe breit. Nach beschwörenden Reden des bayerischen Ministerpräsidenten und des Kriegsministers werden jedoch am Ende der Kredit und der Einsatz an der Seite Preußens bewilligt. Am 20. Juli telegrafiert König Ludwig II. von Bayern seinem preußischen Kollegen: »Mit Begeisterung werden Meine Truppen an der Seite Ihrer ruhmgekrönten Waffengenossen für deutsches Recht und deutsche Ehre den Kampf aufnehmen. Möge er zum Wohle Deutschlands und zum Heile Bayerns werden.109 Diese überschwänglichen Worte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass neben vielen Begeisterten manche Bayern nur zähneknirschend an der Seite Preußens in den Krieg ziehen. Die bayerische Ambivalenz kommt deutlich in einem Leitartikel der ›Allgemeinen Zeitung‹ aus Augsburg zum Ausdruck, in der es am 17. Juli heißt: »Und kann, darf in solcher Fragen Entscheidung ein Theil der Nation sein Herz und sein Interesse von dem anderen scheiden und den Unbeteiligten spielen? Auf beide Fragen unser entschiedenstes, entschlossenstes Nein! Dieses Nein, wünschen wir, möge Widerhall finden in jedem deutschen Herzen und Munde. Vor allem freilich im deutschen Süden, wo der Schwankenden und Zagenden genug sind […]. Das ist aber nicht süddeutsche Schuld allein; es ist leider auch, und in noch viel höherem Maß, Preußens Schuld. […] Vieles gute und tüchtige hat die Großmacht des Jahres 1866 im verflossenen Lustrum110 geschaffen und geleistet, die Herzen hat sie nicht gewonnen, und Begeisterung kann sie heute nicht verlangen, denn die kommt aus dem Herzen. Herrisches Hochfahren, theokratische Gelüste, soldatische Rohheit und Willkür, zweierlei Recht und Gewicht für Bürger und Soldat, frömmelnde Bevormundung in Kirche und Schule – das sind Eigenschaften welche die großen Massen so gut abstoßen wie den frei, besonnen und gebildet denkenden Einzelnen. […] Zürne man uns. Aber das alles mußten wir aussprechen, wir mußten zeigen daß wir nicht blind und blöde, sondern mit klarem Bewusstsein von Wesen und Lage der Dinge den furchtbaren Gang mit antreten zu welchem Europa die Lenden gürtet. Wir wiederholen – alles ist jetzt Nebensache, verschwunden und vergessen, und nur das eine steht: die ernste Pflicht mit Preußen und jedem deutschen Stamme vereint für Deutschland zu gehen.«111 Dass sich die bayerische Regierung der zweifelhaften Rolle Bismarcks beim Ausbruch des Krieges durchaus bewusst ist, zeigt ein Brief des bayerischen Gesandten in Berlin, Maximilian Joseph Pergler von Perglas, an König Ludwig II.: »Ich darf aber in Erfüllung meiner Pflicht in meiner offiziellen Berichterstattung nicht verschweigen, daß den Eingeweihten in den politischen Dingen und Verhältnissen […] nicht entgehen kann und daß auf mancher kompetenten Seite hier es lebhaft beklagt wird, daß Preußen mit Leichtsinn die Veranlassung zum Kriege geboten hat […]. Wenn Preußen nicht siegt, werden schwere Anschuldigungen gegen Bismarck erfolgen.«112
Auch in Württemberg und in Baden bleibt die Begeisterung über den Krieg eher verhalten, dennoch geht man in diesen Ländern mehr oder minder freudig mit gegen einen Feind, der die Grenzen bedroht und von dem sich viele Bürger gekränkt fühlen. Im Königreich Württemberg gibt es – wie in Bayern – ebenfalls starke antipreußische Tendenzen, wie sich bei den Zollparlamentswahlen gezeigt hatte. Württembergs König Karl I., der um die Eigenständigkeit seines Landes fürchtet,