Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Ricarda Huch |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 4064066388829 |
Wäre es aber selbst bei mehr gutem Willen und geringerem Eigennutz aller Beteiligten möglich gewesen, das mittelalterliche Reich wieder zur Blüte zu bringen? Ließen sich die Verhältnisse zurückbringen, auf Grund deren Karl der Große, Otto der Große und Friedrich Barbarossa geherrscht hatten? »Keine Macht auf Erden läßt Gott auf ewige Dauer bestehen.« Alle Ideen, die sich unter Menschen, in einem Volke auswirken, wachsen, bis sie alles, was in ihnen lag, hervorgebracht und ausgebildet haben. Da das niemals alles sein kann, was in der menschlichen Natur oder in einem Volke als Keim liegt, werden sich ergänzende und entgegengesetzte Kräfte einstellen, die das Entstandene und zur Herrschaft Gelangte angreifen, desto heftiger angreifen und zersetzen, je mehr es einseitig auf die Spitze getrieben ist, wozu die herrschenden Ideen naturgemäß geneigt sind. So waren im Schoße des Reiches Kräfte erwachsen, die anfangs nicht beachtet oder als ketzerisch unterdrückt wurden, die allmählich in alle Lücken und Ritzen eindrangen, die das, was unerschütterlich schien, zertrümmerten, und in deren Frische sich das Alte als schadhaft, mängelvoll, sinnlos spiegelte. Nikolaus von Cusa beschwor den Kaiser Sigismund, seinen Plan ins Werk zu setzen. Aber war dieser Weltherrscher, dem niemand gehorchte, dessen Acht und Aberacht niemand vollzog, der sich das Geld für seine Wirtschaft zusammenborgen mußte, nicht eine lächerliche Person? Und war nicht ebenso lächerlich der Papst, der sich Gott gleich dünkte und auf einem Konzil wegen schändlicher Verbrechen abgesetzt, auf einem anderen überhaupt nicht mehr beachtet wurde? Und hatte nicht dies Konzil zu Basel die Hussiten, die ihres verbrannten Meisters Lehre bekannten und Deutschland verwüstet hatten, ehrenvoll empfangen, und hatte nicht der Papst sie vom Banne befreien und in die Kirche aufnehmen müssen?
Schon seit langer Zeit war es namentlich in den Städten üblich, die Pfaffen und Mönche wegen ihres unsittlichen Lebens zu verspotten und zu verachten, der Kirche Habgier und listige Ausbeutung der Deutschen zum Vorwurf zu machen. Bedeutungsvoller noch als solche Anfeindungen aber war das Aufkommen von Ansichten, die der kirchlichen Lehre widersprachen oder sich jenseits derselben bewegten. Nikolaus von Cusa, Bischof von Brixen und Kardinal, hatte Anschauungen, die von dem, was innerhalb der Kirche geläufig und gebräuchlich geworden war, weit abwichen. Als in Wilsnack eine geweihte Hostie aufgefunden wurde, an der sich Spuren des Blutes Christi gezeigt haben sollten, und daraufhin das Dorf ein besuchter Wallfahrtsort wurde, was die Fürsten duldeten, verbot Cusa die Wallfahrten und ließ die Hostie verbrennen, bevor noch die päpstliche Entscheidung erfolgt war. Er befahl den Geistlichen, dergleichen irreführende Wunder nicht zu verbreiten; denn der katholische Glaube lehre, daß der verklärte Leib Christi in verklärten Adern verklärtes Blut enthalte. In seinen Verordnungen gegen den Bilderdienst ging er so weit, daß er die Bilder ganz abgeschafft wissen wollte, wenn sich zeige, daß das Volk mehr an den Bildern hänge, als mit der gesunden Glaubenslehre verträglich sei. Er tadelte die Auffassung der Religion als einer Anstalt für Magie, wozu Volk und Geistlichkeit sie wetteifernd gemacht hätten. Über den Ablaß suchte er richtige Ansichten zu verbreiten und sprach seine Verwunderung darüber aus, daß die Geistlichen soviel Wesens davon machten, da doch ein zerknirschtes und demütiges Herz Vergebung aller Sünden habe. Mit solchen Auffassungen stand Cusa nicht etwa allein: der Grund zu ihnen wurde bei ihm wohl in der Schule von Deventer gelegt, die Gerhard Groot oder de Groot, der von 1340 bis 1384 lebte, gegründet hat. Dieser selbst war beeinflußt von seinem Freunde Heinrich Aeger von Kalkar und von Johann Ruysbroek, so genannt nach einem Dorf in der Nähe von Brüssel, wo er 1293 geboren war. Ruysbroeks Gedankengänge zielten nach Art der Mystiker auf ein Einswerden der menschlichen Seele mit Gott, wobei die Seele nicht in Gott zerfließe, sondern ihre Selbständigkeit behalte. Die beständige Vernichtung unseres Ich in der Liebe ist nach ihm das Wesen der Seligkeit. Das Zusammenleben der Brüder in Grünthal, einem Augustinerkloster, wohin Ruysbroek sich zurückgezogen hatte, machte solchen Eindruck auf Gerhard Groot, daß er nach diesem Muster in seiner Vaterstadt Deventer eine Genossenschaft junger Leute begründete, die ihren Lebensunterhalt durch Abschreiben von Büchern verdienten. Diese »Brüder vom gemeinsamen Leben«, die sich rasch ausbreiteten, unterschieden sich von den Mönchen durch Freiwilligkeit, von der Kirche schied sie ihre Gesinnung, ohne daß sie sich dessen bewußt waren oder darüber nachdachten. Der scholastischen Wissenschaft setzte Gerhard einen Unterricht entgegen, der von der Anschauung des Lebens ausging, etwa vom Leben der Heiligen, namentlich vom Leben Christi. In der Heiligen Schrift, deren Studium er für die wichtigste Aufgabe hielt, suchte er vor allem Christus, Christus als Vorbild und Gegenstand der Liebe, aus der, wenn sie im Menschen entzündet