Gesammelte Werke. Heinrich Mann

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Название Gesammelte Werke
Автор произведения Heinrich Mann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783869923963



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das sozialdemokratische Gewerkschaftshaus verlangen.... So begab er sich, durchaus noch nicht hergestellt, in die Versammlung – und hier mußte er erleben, daß der Antrag betreffend das Gewerkschaftshaus soeben eingebracht worden war, und zwar von den Herren Cohn und Genossen. Die Liberalen stimmten dafür, er ging durch, so glatt, als sei er der erste beste. Diederich, der den nationalen Verrat der Cohn und Genossen laut geißeln wollte, konnte nur bellen: der tückische Streich hatte ihn abermals der Stimme beraubt. Kaum heimgekehrt, ließ er sich Napoleon Fischer kommen.

      „Sie sind entlassen!“ bellte Diederich. Der Maschinenmeister grinste verdächtig. „Schön“, sagte er und wollte abziehen.

      „Halt!“ bellte Diederich. „Wenn Sie meinen, Sie kommen so leicht los. Gehen Sie mit dem Freisinn zusammen, dann verlassen Sie sich darauf, daß ich unseren Vertrag bekanntmache! Sie sollen was erleben!“

      „Politik ist Politik“, bemerkte Napoleon Fischer achselzuckend. Und da Diederich vor so viel Zynismus nicht einmal mehr bellen konnte, trat Napoleon Fischer vertraulich näher, fast hätte er Diederich auf die Schulter geklopft. „Herr Doktor,“ sagte er wohlwollend, „tun Sie doch nur nicht so. Wir beide: – na ja, ich sage bloß, wir beide ...“ Und sein Grinsen war so voll Mahnungen, daß Diederich erschauerte. Schnell bot er Napoleon Fischer eine Zigarre an. Fischer rauchte und sagte:

      „Wenn einer von uns beiden erst anfängt zu reden, wo [pg 418]hört dann der andere auf! Hab’ ich recht, Herr Doktor? Aber wir sind doch keine alten Seichtbeutel, die immer gleich mit allem herausmüssen, wie zum Beispiel der Herr Buck.“

      „Wieso?“ fragte Diederich tonlos und fiel von einer Angst in die andere. Der Maschinenmeister tat erstaunt. „Das wissen Sie nicht? Der Herr Buck erzählt doch überall, daß Sie den nationalen Rummel nicht so schlimm meinen. Sie möchten bloß Gausenfeld billig haben, und denken, Sie kriegen es billiger, wenn Klüsing Angst wegen gewisser Aufträge hat, weil er nicht national ist.“

      „Das sagt er?“ fragte Diederich, zu Stein geworden.

      „Das sagt er“, wiederholte Fischer. „Und er sagt auch, er tut Ihnen den Gefallen und spricht für Sie mit Klüsing. Dann werden Sie sich wohl wieder beruhigen, sagt er.“

      Da wich der Bann von Diederich. „Fischer!“ versetzte er mit kurzem Gebell. „Merken Sie sich, was jetzt kommt. Den alten Buck werden Sie noch im Rinnstein stehen und betteln sehen. Jawohl! Dafür werd’ ich sorgen, Fischer. Adieu.“

      Napoleon Fischer war hinaus, aber Diederich bellte noch lange, im Zimmer umherstampfend, vor sich hin. Der Schuft, der falsche Biedermann! Hinter allen Widerständen stak der alte Buck, Diederich hatte es immer geahnt. Der Antrag Cohn und Genossen war sein Werk gewesen – und jetzt die infame Verleumdung mit Gausenfeld. Diederichs ganzes Innere bäumte sich auf, in der Unbestechlichkeit seiner kaisertreuen Gesinnung. „Und woher weiß er es?“ dachte er mit zornigem Entsetzen. „Hat Wulckow mich verkauft? Sie glauben wohl alle schon, ich treibe doppeltes Spiel?“ Denn Kunze und die anderen waren ihm heute merklich abgekühlt erschienen; sie hielten es scheinbar nicht mehr für nötig, ihn einzuweihen in das, was vorging? Diederich gehörte nicht dem [pg 419]Komitee an, er hatte der Sache das Opfer seines persönlichen Ehrgeizes gebracht. War er darum vielleicht nicht der eigentliche Gründer der Partei des Kaisers?... Verrat überall, Intrigen, feindseliger Verdacht – und nirgends schlichte deutsche Treue.

      Da er nur bellen konnte, mußte er in der nächsten Wahlversammlung hilflos zusehen, wie Zillich – es war klar, aus welchem persönlichen Interesse – Jadassohn reden ließ, und wie Jadassohn stürmischen Beifall erntete, als er gegen die Elenden und die vaterlandslosen Gesellen loszog, die Napoleon Fischer wählen würden. Diederich bemitleidete dieses wenig staatsmännische Vorgehen, er wußte sich Jadassohn hoch überlegen. Andererseits war es nicht zu verkennen, daß Jadassohn, je weiter er sich durch seinen Erfolg hinreißen ließ, desto lautere Zustimmung bei gewissen Zuhörern fand, die keineswegs national anmuteten, sondern sichtlich zu Cohn und Heuteufel gehörten. Sie waren in verdächtiger Menge erschienen – und Diederich, überreizt durch die Fallen ringsum, sah am Ursprung auch dieses Manövers wieder den Erzfeind stehen, ihn, der überall das Böse lenkte, den alten Buck.

      Der alte Buck hatte blaue Augen, ein menschenfreundliches Lächeln, und er war der falscheste Hund von allen, die die Gutgesinnten umdrohten. Der Gedanke an den alten Buck hielt Diederich noch im Traum besessen. Am folgenden Abend unter der Familienlampe gab er den Seinen keine Antworten; er führte eingebildete Streiche gegen den alten Buck. Besonders erbitterte es ihn, daß er den Alten für einen schon zahnlosen Schwätzer gehalten hatte, und jetzt zeigte er die Zähne. Nach all seinen humanitären Redensarten wirkte es auf Diederich wie eine Herausforderung, daß er sich nun doch nicht einfach fressen [pg 420]ließ. Die heuchlerische Milde, mit der er getan hatte, als verzeihe er Diederich den Ruin seines Schwiegersohnes! Wozu hatte er ihn protegiert und in die Stadtverordnetenversammlung gebracht? Nur damit Diederich sich Blößen gebe und leichter zu fassen sei. Die Frage des Alten damals, ob Diederich der Stadt sein Grundstück verkaufen wolle, stellte sich jetzt als die gefährlichste Falle heraus. Diederich fühlte sich durchschaut von jeher; ihm war jetzt, als sei bei seiner geheimen Unterredung mit dem Präsidenten von Wulckow der alte Buck, unsichtbar im Tabaksqualm, dabei gewesen; und als Diederich, in einer dunklen Winternacht an Gausenfeld hinangeschlichen, sich in den Graben geduckt und die Augen, die vielleicht funkelten, geschlossen hatte, da war droben der alte Buck vorbeigegangen und hatte zu ihm hinabgespäht ... Im Geiste sah Diederich den Alten sich über ihn beugen und die weiße, weiche Hand hinhalten, um ihm aus dem Graben zu helfen. Die Güte in seinen Zügen war krasser Hohn, sie war das Unerträglichste. Er dachte Diederich kirre zu machen und mit seinen Schlichen leise zurückzuleiten wie einen verlorenen Sohn. Aber man sollte sehen, wer schließlich die Treber fraß!

      „Was hast du, mein lieber Sohn?“ fragte Frau Heßling, denn Diederich hatte vor Haß und Angst schwer aufgestöhnt. Er erschrak; in diesem Augenblick betrat Emmi das Zimmer, sie hatte es, so meinte Diederich, schon mehrmals betreten – ging zum Fenster, streckte den Kopf hinaus, seufzte, als sei sie allein, und begab sich auf den Rückweg. Guste sah ihr nach; wie Emmi an Diederich vorbeikam, umfaßte Gustes spöttischer Blick sie beide, und Diederich erschrak noch tiefer: denn dies war das Lächeln des Umsturzes, das er an Napoleon Fischer kannte. So lächelte Guste. Vor Schrecken runzelte er die Stirn und rief [pg 421]barsch: „Was gibt es!“ Schleunigst verkroch sich Guste in ihre Flickerei, Emmi aber blieb stehen und sah ihn mit den entgeisterten Augen an, die sie jetzt manchmal hatte. „Was ist mit dir?“ fragte er, und da sie stumm blieb: „Wen suchst du auf der Straße?“ Sie hob nur die Schultern, in ihrer Miene geschah gar nichts. „Nun?“ wiederholte er leiser; denn ihr Blick, ihre Haltung, die merkwürdig unbeteiligt und dadurch überlegen schienen, erschwerten es ihm, laut zu sein. Sie ließ sich endlich herbei zu sprechen.

      „Es hätte sein können, daß die beiden Fräulein von Brietzen noch gekommen wären.“

      „Am späten Abend?“ fragte Diederich. Da sagte Guste: „Weil wir an die Ehre doch gewöhnt sind. Und überhaupt, sie sind schon gestern mit ihrer Mama abgereist. Wenn sie einem nicht adieu sagen, weil sie einen gar nicht kennen, braucht man bloß an der Villa vorbeizugehen.“

      „Wie?“ machte Emmi.

      „Na gewiß doch!“ Und das Gesicht überglänzt, triumphierend ließ Guste das Ganze los. „Der Leutnant reist auch bald hinterher. Er ist doch versetzt.“ Eine Pause, ein Blick. „Er hat sich versetzen lassen.“

      „Du lügst“, sagte Emmi. Sie hatte gewankt, man sah, wie sie sich steif machte. Den Kopf sehr hoch, wandte sie sich ab und ließ hinter sich den Vorhang fallen. Im Zimmer war Stille. Die alte Frau Heßling auf ihrem Sofa faltete die Hände, Guste sah herausfordernd Diederich nach, der schnaufend umherlief. Als er wieder bei der Tür war, gab er sich einen Ruck. Durch den Spalt erblickte er Emmi, die im Eßzimmer auf einem Stuhl saß oder hing, zusammengekrümmt, als habe man sie gebunden und dort hingeworfen. Sie zuckte, dann kehrte sie das Gesicht der Lampe zu; vorhin war es ganz weiß ge[pg 422]wesen und war jetzt stark gerötet, der Blick sah nichts – und plötzlich sprang sie auf, fuhr los wie gebrannt, und mit zornigen, unsicheren Schritten stürmte sie fort, sich anschlagend, ohne Schmerz zu fühlen, fort, wie in Nebel hinein,