Taubenblut. Lutz Kreutzer

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Название Taubenblut
Автор произведения Lutz Kreutzer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969690000



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Bruder auf den rechten Weg zu bringen. Noch heute hatte Sentlinger Striemen an seinem ledrig gewordenen Hinterteil, die von dem verhassten Rohrstock rührten. Jede Sünde hatte er auf diese Weise büßen müssen. Jedes Mal mit der Konsequenz, dass er kaum sitzen konnte. Das hatte in der Schule zusätzlich zu Schwierigkeiten mit den Lehrern geführt.

      Aber es hatte ihn hart gemacht. Hart fürs Leben. Disziplin und Ordnung waren ihm mit dem Stock eingetrichtert worden. Er hatte viel gelitten und fand es absolut in Ordnung, dass auch andere leiden sollten, um zu lernen. Das hatte sich bewährt, seit Jahrtausenden. So hatte er es sich zurechtgelegt. Denn der Gedanke, dass ihm als Kind Unrecht geschehen sein könnte, wäre unerträglich für ihn.

      »Guten Morgen«, sagte seine Sekretärin Liese strahlend. »Na, Chef, worüber sinnieren Sie denn heute?«, fragte sie, als sie ein paar Akten auf seinen Tisch legte und einen Tee brachte. Liese war seit ewigen Zeiten bei ihm. Früher fand er sie umwerfend. In den letzten Jahren aber hatte seine erotische Zuneigung zu ihr abgenommen. Manchmal aber, da flammte sie wieder auf. Als sie sich näherte und er ihren vertrauten Duft wahrnahm, durchzuckte es ihn. Als er ihren Namen seufzte, »Ach, Liese …« Seine Wonne war so groß, dass er einen Kloß im Hals spürte.

      Er schlürfte den Tee und sah aus dem Fenster. Seine ganze Liebe hing an seiner Heimat Bayern. Und mittendrin diese verkommene Stadt! In München war die Staatskanzlei so etwas wie eine Fluchtburg für ihn. Der erhabene Blick über den Hofgarten im Schatten der Residenz gab ihm jeden Morgen das Gefühl von Sicherheit und Macht.

      »Die Menschen«, sagte er mit Schwermut in der Stimme. »Sie sind mir so fremd. Sehen Sie, Liese, wie sie arglos in unserem Park herumirren, ohne zu wissen, was sie wollen, wohin ihre Reise geht. Taugenichtse und Herumtreiber.«

      »Ach, Chef, seien Sie nicht so streng mit den Leuten. Sie tun nichts Verwerfliches. Sie wollen leben, und sie wollen, dass es ihnen gut geht. Und dafür sorgen Sie!«, sagte sie lächelnd. In ihrer Stimme klang viel Trost mit. »Es ist Ihre Aufgabe, Sie machen das schon. Und heute ist ein wunderbarer Tag dazu. Ich weiß doch, dass Sie für Ihr Land alles geben.«

      »Ach ja«, sinnierte er mit abwesendem Blick, »die duftenden Wiesen, die sanften Hügel der Voralpen. Die Kirchen mit den Zwiebeltürmen. Die Kühe auf den Weiden. Bayern, das würde ich mir durch nichts und niemand nehmen lassen.«

      »Ja, es ist Ihr Bayern«, sagte Liese. Und sie wusste, er hatte es sich einfach genommen. Jedenfalls insgeheim. Mit seinen Gleichgesinnten vom katholischen Herrenorden.

      »Wir müssen Bayern erhalten!«, sagte Sentlinger salbungsvoll.

      Liese wusste, dass Sentlinger und seine Kumpanen vor allem dafür sorgen wollten, es niemals an diese linken Klugscheißer abgeben zu müssen, wie er einmal gesagt hatte. Als Gutmenschen, Pädagogenheinis, Ökofritzen und Sozialromantiker hatte er sie beschimpft. Widerliche Geschöpfe hatte er sie genannt. Und dann die ganzen Menschen aus aller Welt, die unkontrolliert ins schöne Bayern strömten, hatte er gestöhnt. Aber der Herrgott hatte auch sie erschaffen, so wie ihn und seine Welt, hatte er postuliert. Also müsse er ihre Existenz hinnehmen; aber bekämpfen dürfe er all diese Antichristen, das hatte der Herrgott ihm nicht verboten. Es war sein Bayern, das katholische, oder besser, was er für katholisch hielt.

      »Wird schon werden«, sagte Liese und ging hinaus.

      In diesem Moment kam Sentlingers Schwester geradewegs ins Büro. Ihr schwarzer Habit verlieh ihr einen würdevollen Stolz. Ohne Liese zu grüßen, schritt sie direkt zu Sentlingers Schreibtisch. Schwester Irmentrud sah besorgt aus. »Bruder, du musst uns helfen.«

      Ihr Körper war immer noch schlank. Über ihren dichten Augenbrauen waren ein paar Grübelfalten zu sehen. Ihre vollen Lippen hatte sie ein wenig gespitzt, als sie vor ihm stand. Sie wirkte auf ihren Bruder ohnehin streng und kompromisslos, aber er spürte sofort, dass ihr Stimmungsbarometer heute auf Schlechtwetter stand.

      Erwin Sentlinger ging auf sie zu, nahm sie in die Arme und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Trude, meine liebe Trude!« Auch nach all den Jahren wolle er sich immer noch nicht an ihren eigens gewählten Ordensnamen gewöhnen. »Ich bin so froh, dich zu sehen!«, rief er mit vorgespieltem Überschwang. Er betrachtete ihr schön geschnittenes Antlitz, in dem er trotz ihres Alters immer noch keinen Makel erkennen konnte. Rechts und links ihrer tiefbraunen Augen hatten sich zwar ein paar Krähenfüße einen Weg gesucht. Sie konnten jedoch ihrer Anmut nichts anhaben. Erwin Sentlinger erstaunte das immer wieder, wenn er seiner Schwester begegnete. Sie wollte einfach nicht alt werden.

      »Der Teufel ist auf die Insel gekommen!«, sagte sie mürrisch und ohne jede Einleitung.

      Sentlinger zog die Brauen zusammen. »Der Teufel? Was denn, übertreibst du nicht?« Er hielt sie an den Schultern. »Setz dich doch bitte!« Er bot ihr einen Stuhl an. »Was bedrückt dich, liebe Schwester?«

      »Der Satan! Im Körper eines Mannes, der wie eine Frau daherkommt.«

      Sentlinger kannte seine Schwester nur zu gut. Sie konnte rasend werden vor Wut, aber auf der anderen Seite war sie lammfromm. Ihr oftmals aufbrausender Gemütszustand hatte sie am Leben scheitern lassen. Obwohl sie immer sehr hübsch gewesen war, hatte es kein Bursche lange mit ihr ausgehalten. Sie konnte unberechenbar böse werden. Ihre Verzweiflung am Leben hatte sie schließlich ins Kloster getrieben. Und dort hatte sie sich ebenfalls lange den Aufstieg durch ihre zügellosen Wutausbrüche verbaut. Denn trotz ihrer Intelligenz hatte ihre mangelnde Selbstkontrolle sie nur zur stellvertretenden Oberin werden lassen. Und das wurmte sie. Doch insgeheim zog sie die Fäden in ihrem Kloster durch ihre stets erfolgreich eingefädelten Intrigen.

      »Diese widerliche Schwuchtel!«, schrie sie und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.

      »Trude! Du trägst den Habit. Vergiss das nicht!«, ermahnte sie ihr Bruder vorsichtig. »Was ist denn los?«

      Sie wand sich auf ihrem Stuhl, und Sentlinger wusste, dass sie jetzt wieder von Schuldgefühlen geplagt wurde. Aber sicher nur kurz, dachte er.

      »Er ist aus Thailand. Er hat drei Häuser gekauft. Zwei Tage später ist er wie ein Pfau durch den Ort stolziert, hat alle gegrüßt. Und dabei hatte er zehn«, es zerriss sie fast, »zehn andere von diesen Elenden im Schlepptau.«

      »Ja und? Das ist doch freundlich, dass er die Leute begrüßt.«

      »Sie haben dabei fremdartige Gebete gemurmelt. Und dann dieses Grinsen. Sie haben alle so unerschütterlich gegrinst!«, sagte sie jammernd. »Und jetzt wohnen die alle da drin«, rief sie klagend hinterher und hob beide Hände.

      »Trude, ihr habt doch dauernd Touristen mit wechselnder Kleidung und Aussehen auf der Insel. Was regst du dich denn so auf?«, fragte Sentlinger sanft.

      »Wer weiß, was die dort treiben?« Ihr Ton wurde schnippisch.

      Sentlinger wandte sich zum Fenster und zischte leise: »Müller-Westermann. Dieser verdammte Idiot!«

      »Wer?«, entfuhr es Schwester Irmentrud.

      Er griff zu seiner Teekanne und fragte sie: »Auch einen Tee?«

      Sie nickte.

      »Ein Immobilienmakler aus München. Guter Bekannter. Ich hab ihm ein paar Türen geöffnet. Zuletzt hat er sich damit gebrüstet, dass er drei Häuser auf Frauenchiemsee gekauft hat. Und ich hatte ihm noch die Kontakte geknüpft. Aber seine Option war eigentlich, die Häuser zu vermieten ...« Er nahm die Teetasse in die Hand, rührte darin und trank vorsichtig, während er seine Schwester abwartend ansah.

      »Aber dieser ... «, sie räusperte sich, »... warme Guru hat sie gekauft.«

      »Wenn er das Geld hat, darf er das ja«, meinte Sentlinger.

      »Der muss wieder weg«, schrie sie. Sie wedelte mit dem rechten Arm und rief laut: »Weg, weg, weg!« Dann starrte sie ihn an. »Du musst uns helfen«, zischte sie fordernd.

      »Hat er sie denn wirklich gekauft«, fragte er nochmal nach. »Oder ist es nur wieder eins eurer Klostergerüchte?«

      »Ja, hat er. Ich war beim Bürgermeister. Und er hat einen bayerischen Familiennamen, wie wir