Durch die Dornenhecke. Iðunn Steinsdóttir

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Название Durch die Dornenhecke
Автор произведения Iðunn Steinsdóttir
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788711464687



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      “Mein Germar hat ein Mädchen, das etwa so alt wie Alfrun ist”, sagte sie bestimmt.

      “Warum bist du denn so sicher, meine Liebe?” hatte Alfruns Mutter wehmütig gefragt.

      “Ich weiß es, wartet nur ab. Eines Tages fällt die Dornenhecke, und dann werden wir ja sehen”, sagte Alt-Siw überzeugt.

      Alfrun, die gern eine Schwester gehabt hätte, sprach oft mit ihrer Großmutter über diese Cousine.

      “Wie sieht sie denn aus, Oma?” fragte sie.

      “Sie hat dichtes, blondes Haar, das wunderschön ist, und in weichen Wellen über die Schultern fällt. Ihre Augen sind dunkelblau, beinahe schwarz. Sie hat eine hohe Stirn und rote Bäckchen. Ja, sie ist hübsch und mutig zugleich.”

      “Wie heißt sie denn?” fragte Alfrun.

      “Uta, das ist nämlich der Name einer Königin. Etwas anderes paßt nicht zu ihr”, antwortete Alt-Siw.

      “Ich habe leider keinen Königinnennamen, und ich bin auch nicht so schön”, warf Alfrun ein.

      “Du hast einen guten und schönen Namen. Du kannst damit zufrieden sein”, sagte Alt-Siw.

      Alfrun ging hinaus in den Sonnenschein. Sie mußte an ihre Cousine Uta denken.

      Wie schön wäre es, wenn sie hier wäre, dachte sie. Dann wären wir wie Schwestern, und ich hätte immer jemand bei mir, mit dem ich reden könnte, auch abends vor dem Einschlafen. Ach, ich wollte, sie käme durch die Dornenhecke, hierher zu mir.

      Eigentlich konnte Alfrun sich nicht beklagen, keine Freunde zu haben. Sie hatte sogar drei sehr gute Freunde, nämlich Godelinde, Obbi und Kori. Sie waren von morgens bis abends zusammen und erfanden immer neue Spiele. Doch am liebsten spielten sie Wirbelball. Dieser Sport war von alters her im Tal sehr beliebt.

      “Wie gut, daß es hier keinen solchen Bösewicht wie Ungeheuer gibt”, sagte Alfrun zu ihren Freunden. Sie saßen am Wiesenrain und genossen den Sonnenschein. Heute war es zu warm zum Wirbelballspiel.

      “Hier sind alle nett zueinander, obwohl manche ja ein bißchen laut herumkommandieren”, meinte Godelinde.

      Alfrun seufzte zufrieden. Es war doch beruhigend zu wissen, daß das Böse hinter der Dornenhecke aufgehoben war.

      Doch dann bekam sie Gewissensbisse, so zu denken.

      “Es geht ihnen wirklich schlecht”, seufzte sie.

      “Das ist nicht so sicher, sie lassen nur nichts mehr von sich hören. Und alles ist schon lange, lange, bevor wir geboren wurden, geschehen”, sagte Obbi und zog die Nase kraus, daß drei seiner Sommersprossen verschwanden.

      “Sicher gefällt es ihnen nicht, so eingeschlossen zu sein”, sagte Godelinde, während sie mit den Fingern durch ihre hellen Locken fuhr.

      Sie hatte langes goldblondes Haar, Pausbäckchen und rote Lippen. Ihre Augen schimmerten lichtblau und warm.

      “Sollen wir einmal zur Dornenhecke gehen und hinüberhorchen? Vielleicht können wir etwas herausbringen”, sagte Kori und sprang auf.

      Alfrun blieb stumm. Sie war noch nie bei der Dornenhecke gewesen. Sie hatte Angst vor ihr. Ihre Oma hatte ihr von der starken Zaubermacht, die in der Hecke wohnte, erzählt, und sie wollte nicht gern ihr Leben aufs Spiel setzen.

      “Selbstverständlich gehen wir! Jemand muß doch versuchen, mit denen drüben wieder Verbindung aufzunehmen, obwohl die Erwachsenen es aufgegeben haben.” Obbi stand auf und zog Godelinde hoch.

      Alfrun zögerte. Uta, ihre Cousine mit dem Königinnennamen und den schönen goldenen Haaren, hätte sich sicher gleich getraut. Doch sie, Alfrun, war eben anders, sie hatte dünnes, dunkles Haar und war ein bißchen blaß. Sie sah nicht wie eine Heldin aus, und sie war auch nicht sehr mutig.

      Kori sah zu ihr hinunter. Er wirkte viel heldenhafter, hatte braune Augen, zwei Grübchen in den Backen und eins mitten im Kinn. Jetzt streckte er ihr die Hand entgegen. Sie seufzte, stand auf und machte sich auf den Weg.

      Bis zur Dornenhecke war es weit. Der Weg führte am Platz vorbei, auf dem abends das Wachtfeuer glühte. Natürlich hatte man längst wieder einen Platz für das Wachtfeuer gefunden. Irgendwo mußte man doch zusammenkommen, und es half denen, die drüben eingeschlossen waren, wenig, wenn ihre Verwandten im Westen nicht mehr beim Feuer zusammensaßen, sondern dieses Vergnügen ausfallen ließen und ihnen statt dessen die Nachtkühle den Rücken hinaufkroch.

      In den ersten Jahren, nachdem die Dornenhecke das Tal geteilt hatte, war am Wachtfeuer abends nicht mehr gesungen worden. Doch mit der Zeit hörte man wieder vereinzelt schwache Stimmen. Das waren die Kinder und Jugendlichen. Sie konnten sich nicht an alte Zeiten und auch an keinen anderen Ort erinnern, an dem früher gesungen worden war, und zwar so laut und schallend, daß das Echo aus den Bergen ringsum widergehallt hatte. Doch mit der Zeit stimmten auch die Erwachsenen wieder mit ein, und es wurde fester Brauch, sich beim Wachtfeuer an den Sommerabenden zu treffen und zusammen zu singen.

      Die Kinder schlenderten über den Platz. Dort herrschte wie immer kunterbuntes Treiben. Die Schlachter zerteilten Fleisch und verkauften es an ihre Kunden in dicken braunen Tüten. Wohlbeleibt ging nörgelnd von einem zum andern und versuchte, den Fleischpreis herunterzuhandeln. Viel zu teuer sei alles geworden, sagte er.

      “Komm doch zu uns, Dickerchen”, riefen die Frauen an den Gemüsekarren und priesen ihre Ware. Jede schrie lauter als die andere, wie frisch und saftig ihr Obst und ihr Gemüse sei.

      Der Duft frischgebackenen Brotes kitzelte die Nasen, als sie beim Bäcker vorbeikamen, und der Fleischer versprach Preisermäßigung zur Feier des Tages.

      “Was für einen Tag feiern wir denn?” fragte Godelinde neugierig.

      “Den heutigen Tag”, sagte der Fleischer und lachte; er machte gern einen Spaß.

      “Seht nur, es gibt neue Wirbelbälle! So einen möchte ich auch haben, mein alter ist gar nicht mehr gut”, sagte Obbi, als sie beim Krämer vorbeikamen. Obbi war der Beste seines Jahrgangs im Wirbelball-Spiel, und seine Eltern waren mächtig stolz auf ihn.

      Ein Weilchen hielten sie sich beim Laden an der Ecke auf, dort gab es allerlei Spielzeug, und sie zeigten auf die Dinge, die sie sich noch wünschten. Alfrun hatte viele Spielsachen, und es war schwierig, alles in ihrem Zimmer unterzubringen. Doch die Handwerker im Tal waren einfallsreich, immer hatten sie wieder etwas Neues ausgedacht, wenn sie vorbeikam.

      Vielleicht kann ich all die schönen Sachen nie mehr wiedersehen, nie mehr den Duft des Brotes riechen oder von unserem guten Obst essen, dachte Alfrun wehmütig, als sie weitergingen. Sie fürchtete, daß ihnen bei der Dornenhecke etwas Schlimmes zustoßen könnte.

      Die Dornenhecke sah wirklich zum Fürchten aus. Sie stand so dicht, daß man nicht hindurchsehen konnte, und die Dornen waren groß und spitz, wie die Krallen einer Hexe. Sie war dunkelgrün und hatte noch nie geblüht wie die andern Hecken, die um die Wohnhäuser standen.

      Sie gingen daran entlang und hofften, eine Lücke zu entdecken, um hindurchzuschauen. Doch wenn sie näherkamen, reckten sich ihnen die messerscharfen Dornen entgegen, daß sie schnell zurückwichen.

      “Jetzt seht ihr selbst, das bringt uns nichts. Wir sollten umkehren und nach Haus gehen”, sagte Alfrun mit zitternder Stimme.

      “Nein, jetzt setzen wir uns erst einmal hin und horchen. Vielleicht hören wir etwas von drüben. Vielleicht will gerade jetzt einer von dort uns Nachricht geben”, sagte Kori.

      Sie setzten sich ins Gras. Es tat gut auszuruhen. Stille herrschte hier, nur manchmal hörte man den Schrei eines Vogels, der von Osten nach Westen flog.

      “Ich wollte, daß der Sturm käme, die Dornenhecke mit den Wurzeln herausrisse und sie weit fort bliese”, flüsterte Alfrun.

      “Ja, wenn der Sturm käme”, wiederholte Kori, mit Hochachtung in der Stimme.

      Dieser Sturm kam ganz selten, gewöhnlich nur einmal in