Durch die Dornenhecke. Iðunn Steinsdóttir

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Название Durch die Dornenhecke
Автор произведения Iðunn Steinsdóttir
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788711464687



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      Iðunn Steinsdóttir

      Durch die Dornenhecke

      Saga

      Die Hauptpersonen der Geschichte:

      Im Westtal wohnen:

Alfrun: Ein Mädchen, das nicht wie eine Heldin aussieht.
Alt-Siw: Alfruns Großmutter, die älteste Frau im Tal.
Godelinde: Hübsch, mit goldblondem Haar, sieht aus, wie eine Heldin aussehen soll.
Obbi: Ein Junge, der der beste seines Jahrgangs im Wirbelballspielen ist.
Kori: Ein Freund und Spielkamerad.
Herbald: Der Anführer der Leute im Westtal.
Wohlbeleibt: Ein älterer Herr, reich und rundlich.

      Im Osttal wohnen:

Uta: Die Cousine von Alfrun und genauso alt wie sie.
Germar: Utas Vater, der Sohn von Alt-Siw.
Milda: Utas Mutter.
Meinrad: Ein Freund von Germar und so alt wie Germar. Witwer und Vater von fünf Kindern.
Nanna: Meinrads älteste Tochter.
Ungeheuer: Der Unterdrücker, der das Tal teilt.
Weißalles: Ungeheuers Diener und Helfer.
Machtalles: Ungeheuers Diener und Helfer.
Ratbold: Deckname eines Mannes, der Briefe ins Westtal schreibt.
I

      Was vor vielen Jahren geschah

      Das Tal war tief und die Berge ringsum hoch und wild zerklüftet. Am höchsten stiegen sie im Osten auf, dort wo die Teufelswand steil zum Himmel ragte. Sie war nicht zu besteigen.

      Auf der Westseite schlängelte sich ein Pfad aus dem Tal, hinaus in die weite Welt. Diesem Pfad folgten diejenigen, die weit hinaus wollten, und denselben Weg in entgegengesetzter Richtung nahmen die Reisenden, die ins Tal zu Besuch kamen.

      An einem frühlingshellen Tag kam vor vielen vielen Jahren ein eigenartiger Gast auf dem Weg daher aus dem Westen. Ungeheuer war sein Name, scharf und kalt sein Blick. Er sagte kaum ein Wort, denn er konnte die Sprache der Menschen, die dort zu Hause waren, nicht sprechen. Ihm folgten vier ungeschlachte Diener, die grob und böse aussahen.

      In einer einzigen Nacht erbauten sie Ungeheuer ein Kastell, gerade an der schönsten Stelle ostwärts im Tal, auf dem Platz der Lichter und der Freude. Dort waren von altersher die Menschen an Sommerabenden zusammengekommen und hatten beim Wachtfeuer gesungen.

      Zorn erglühte in der Brust dessen, der zuerst am nächsten Morgen aufwachte. Und heiß wie Feuer glühte er weiter, in einem nach dem anderen. Mit erhobenen Fäusten erschienen die Menschen beim Kastell und forderten, daß es wieder abgetragen würde, Stein um Stein.

      Ungeheuer stand oben an der Brüstung und blickte kalt auf die Menschen hinunter. Er gab ihnen keine Antwort.

      “Du hast dieses Kastell gegen unseren Willen errichten lassen. Morgen früh, wenn wir aufwachen, muß es wieder verschwunden sein”, rief die Menge.

      Da lachte Ungeheuer kalt, daß es in der Luft klirrte und allen schaurig den Rücken hinunterlief. Aber er sagte kein Wort.

      Und wieder reckten die Menschen die Fäuste in die Höhe, riefen laut und eindringlich, bekamen aber keine Antwort. Da verstummten sie und machten sich auf den Heimweg.

      “Ungeheuer hat Angst. Wir sind ja in der Mehrzahl, und er ist ganz allein mit seinen häßlichen Dienern. Er traut sich nicht einmal zu antworten”, sagte einer zum andern.

      Doch beim Aufwachen am nächsten Morgen war der östliche Teil des Tales vom westlichen durch eine dichte Dornenhecke abgetrennt, und niemand konnte mehr herüber kommen als höchstens Vögel im Flug. Die Menschen im Osttal waren eingeschlossen. Auf der einen Seite ragten die unbezwingbaren Felswände bis in die Wolken hinein, auf der anderen stand die Dornenhecke.

      Von da an sprachen die Einwohner vom Osttal und vom Westtal.

      Die älteste Frau im Westtal hieß Alt-Siw. Ihr Sohn Germar, einer der mutigsten jungen Männer, wurde im Osttal eingeschlossen. Er konnte sich schlecht mit der Unfreiheit dort abfinden. Kurz nachdem die Dornenhecke entstanden war, machte er einen Versuch, in den Westen zu kommen. Leise schlich er eines Nachts mit seiner Sense zur Dornenhecke und wollte sich damit einen Weg hindurch hauen. Dreimal hatte er schon zugeschlagen, als Weißalles und Machtalles, die bösen Diener Ungeheuers, ihn faßten. Sie zogen ihn aus der Dornenhecke heraus und warfen ihn Ungeheuer vor die Füße. Dort lag er, während sein Blut aus vielen Wunden floß, gerissen von den scharfen Dornen. Ungeheuer blickte Germar streng an. Er sagte kein Wort, doch die Diener verstanden seine Zeichen.

      Sie führten Germar hinaus und banden ihn an einen Pfahl. Dort mußte er sieben Tage und sieben Nächte lang stehen, all denen zur Warnung, die sich einfallen lassen wollten, über die Dornenhecke zu fliehen. Tagsüber brannte ihn die heiße Sonne, aber in den Nächten zitterte er vor Kälte. Niemand wagte, sich ihm zu nähern, weil Ungeheuers Diener bei ihm Wache hielten. Zu ihrem Zeitvertreib lockten sie Regenwürmer aus der Erde hervor und hackten sie in Stücke, wenn sie wieder wegkriechen wollten, oder sie hexten Schmetterlinge herbei, um ihnen die Flügel auszureißen.

      “So geht es allen, die versuchen, uns zu entkommen”, sagten sie und schüttelten sich vor Lachen.

      Germar starrte erschüttert auf ihr Treiben, und jedesmal, wenn ein Schmetterling verstümmelt zur Erde fiel oder ein Regenwurm zerhackt wurde, dachte er: Das kann auch mir oder meinen Kameraden blühen.

      An dem Abend, an dem er freigelassen wurde, schrieb er einen Bericht über das, was er erlebt hatte, auf ein Blatt Papier. Das Blatt wickelte er um einen Stein und warf ihn über die Dornenhecke. Beinahe wäre der Stein auf Wohlbeleibts Kopf gelandet. Wohlbeleibt machte gerade dort, an der Hecke, seinen Abendspaziergang.

      Wohlbeleibt war einer der reichsten Männer im Westtal, aber nicht sehr fröhlich. Er wurde böse und drohte mit der geballten Faust zur Dornenhecke hin, als ob sie versucht hätten, ihn umzubringen. Dann hob er den Stein auf und wickelte den Brief ab. Als er sah, was darin stand, lief er so schnell, daß er fast keine Luft mehr bekam, zu Alt-Siw nach Hause.

      Der Kummer, der den Menschen im Westtal das Herz schwer machte, wurde stärker und schmerzlicher, als sie den Brief gelesen hatten.

      “Wir werden sie nie mehr wiedersehen”, stöhnten Väter und Mütter, Schwestern und Brüder, Söhne und Töchter, Onkel und Tanten, Basen und Vettern, alle, die Verwandte östlich der Dornenhecke hatten.

      “Was sollen wir nur machen? Irgend etwas müssen wir doch tun”, seufzten sie.

      Und sie versuchten dies und jenes. Alles, was ihnen einfallen wollte, versuchten sie, aber immer nur ein einziges Mal, denn Ungeheuer ließ sich nicht überlisten.

      Alt-Siws Schwiegersohn besaß die schärfste Axt im Tal. Er versuchte, eine Lücke durch die Dornenhecke vom Westen