Auf dem Weg durch die Zeit. Detleff Jones

Читать онлайн.
Название Auf dem Weg durch die Zeit
Автор произведения Detleff Jones
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969536025



Скачать книгу

Hinter dem Haus gab es Pferdeställe, in denen verschiedene Reiter ihre Pferde zur Miete unterstellten. Vor dem Haus war eine Bushaltestelle, und man konnte mit der Wupper – Sieg – Linie in ihren crème-roten Bussen bis zum Busbahnhof hinter dem Dom in Köln fahren, was etwa eine halbe Stunde dauerte und rund eine Mark kostete.

      Bei unserem gesamten Besitzstand handelte es sich um das Ehebett meiner Eltern, einen Wohnzimmerschrank mit zwei Glastüren – ein Hochzeitsgeschenk an meine Eltern und ihr ganzer Stolz („echt kaukasischer Nussbaum!“), einen Küchentisch mit 4 Stühlen und für meine Schwester und mich je eine Matratze und – nicht zu vergessen – die Möbel meiner Großmutter, ein altes Eichenbett und einen Schrank mit geschnitzten Rosetten, über die wir Kinder manchmal auf den Schrank hochkletterten, um von seinem Deckel in Omas Bett zu springen, das irgendwann natürlich die Sprünge nicht mehr aushielt und einkrachte.

      Meine Oma hatte ursprünglich 8 Geschwister, von denen damals noch 5 lebten. Zwei ihrer Brüder waren im Krieg gefallen und ein dritter - Spätheimkehrer, der erst auf Adenauers Intervention zu Beginn der 50er Jahre nach Hause kommen konnte, verunglückte auf dem Weg in die Heimat tödlich. Die Geschwister hatten bis auf meine Oma, die als Haushälterin in Köln arbeitete und dort ihren späteren Mann kennenlernte, ihre Heimat nie verlassen und wohnten alle in kleinen Eifeldörfern in der Umgebung von Bitburg, wohin mich Oma immer mitnahm, wenn sie im Sommer ihre Verwandten dort besuchte. Diese Aufenthalte dauerten in der Regel sechs Wochen – die Dauer der gesamten Sommerferien, wenn ich auch damals noch nicht zur Schule ging. Wir wohnten dann gewöhnlich bei meiner Großtante Nini in Messerich. Sie war zwar die Schwester meiner Oma, wurde aber von allen „Tante Nini“ genannt. Ihr Mann, Onkel Nikla, war bei der Bahn gewesen und hatte daher Dauerwohnrecht in einem kleinen Haus mit einem Zwiebelturm direkt an einer Bahnlinie, die aber nur noch sehr selten befahren wurde. Im Garten wuchsen Gemüse und bunte Blumen, und im hinteren Eck wucherte ein großer Holunderbusch, der im Sommer Schatten spendete. Vor dem Busch stand eine alte Holzbank, auf der meine Tante und Oma oft den späten Nachmittag oder Abend in den letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne verbrachten. Tante Nini liebte Kinder über alles. Sie war die freundlichste und liebste Tante, die man sich vorstellen kann, und so manches Mal beschützte sie mich vor den Ohrfeigen meiner Oma, wenn ich über die Stränge geschlagen hatte. Immer nahm sie mich in Schutz, wenn ich mal wieder nicht fertig wurde mit Essen – ich muss für meine Eltern eine ziemliche Herausforderung gewesen sein, was mein Essenstempo anging. Und auch sonst hörte ich sehr häufig die vage Warnung „warte nur, bis du zum Militär kommst, dann wirst du Gas geben müssen!“ Nur Tante Nini war einfach immer solidarisch mit mir – sie war für mich so sicher wie eine Bank und dabei stets gutgelaunt. Im Gegensatz zu Oma war sie auch keineswegs so bigott und kirchentreu. Das Tischgebet sprach sie, während sie auftischte und mit Schüsseln und Platten, die sie auftrug, zwischen Küche und Esstisch hin- und herlief. Und dabei vernuschelte sie immer einen Teil des Gebets, das aber stets mit „guten Appetit“ endete. Und überhaupt – die Kirche: In Messerich wie auch in anderen Eifeldörfern hatten die Priester offenbar eine gewaltige Machtposition inne – denn wie sie sich mitunter aufführten, das war schon erstaunlich! In späteren Jahren, als ich für alt genug befunden wurde, am sonntäglichen Gottesdienst teilzunehmen, sah ich dort mit eigenen Augen, wie der Priester sich während der Messe zu einem seiner Messdiener umsah und ihn ermahnte. Und als die Ermahnung offenbar nicht zum gewünschten Erfolg führte, drehte sich der Priester wieder zu seinem Ministranten, lief zu ihm und ohrfeigte ihn. Oder aber er verteufelte von der Kanzel während seiner Predigt einzelne Nicht – Kirchgänger, deren Fehlen ihm beim Sonntagsgottesdienst offenbar aufgefallen war! Ich kann nicht sagen, dass diese frühkindlichen Erfahrungen mit der Kirche mich in besonderem Maße für sie eingenommen haben – obwohl ich viele Jahre später noch Kontakte haben sollte, die mich ziemlich nah an das konservative Herz dieser Kirche heranbrachten, aber davon wird noch zu erzählen sein.

      Meine Ferien in der Eifel waren für mich immer ein Höhepunkt des Jahres – und die Eifel wurde mir zur gefühlten 2. Heimat. Dort hatte ich Freunde, die mir in Köln fehlten, da wir ziemlich weit ab vom Schuss wohnten, und die ersten Gleichaltrigen, mit denen ich es zu Hause in Köln zu tun bekam, waren meine Mitschüler im ersten Volksschuljahr 1956. Dank Tante Nini musste ich während der Ferien in der Eifel auch nicht immer schon um 20 Uhr ins Bett, sondern wir spielten draußen auf der Straße, rollten in Leiterwagen den Hügel von der Eisenbahnbrücke hinab, sahen den Söhnen der benachbarten Gaststätte Leisen zu, wie sie auf einer Wiese Regenwürmer sammelten und den einen oder anderen zu unserer Gaudi verspeisten und dadurch natürlich enorm in unserer Hochachtung stiegen! Wir waren immer um die 4 oder 5 Kinder, einer von uns war Leo, ein behinderter Mann von etwa 25 Jahren mit dem Gemüt eines Vierjährigen, der mich aus heutiger Sicht an Obelix erinnert – zumindest hatte er dessen Leibesumfang. Leo war geradezu gierig auf „Gutsjer“ – Bonbons, und sie hatten seinen Zähnen offenbar schon seit langem zugesetzt, denn ihm waren nur noch einige wenige halbverfaulte Stummel geblieben. Und er war stets der erste, der abends nach Hause und ins Bett musste. Wir blieben oft noch bis nach Sonnenuntergang draußen. Montag war immer ein besonderer Abend, denn dann passierte gegen 19 Uhr ein langer Güterzug das Haus. Wir Kinder hielten schon Minuten vorher nach ihm Ausschau, und auf den Ruf „er kommt“, rannten wir auf die Brücke und ließen den stampfenden Zug unter uns hindurchdonnern. Eine Dampflok zog ihn, so dass wir immer eine Zeitlang im Dampf der ausgestoßenen Wolken standen, bevor wir anfangen konnten, die Waggons, deren Räder auf den Schienen sangen, zu zählen. Dort in der Eifel hatte ich auch meine ersten Kontakte zu Tieren und zur Landwirtschaft, wenn man einmal von unserem Foxterrier „Bobby“ absieht, den wir in Schloss Georghausen gehabt hatten und den meine Mutter irgendwann an Freunde verschenkt hatte – aber daran erinnere ich mich nur aus Erzählungen. In der Eifel gab es immer jemanden – meist Verwandte – die „Vieh“ hatten – in der Regel zwei oder drei Kühe und ein paar Schweine und natürlich Hühner. Manchmal schickte man mich nach draußen in den Hühnerstall, um die frischen Eier aus den Nestern zu holen. Ich bilde mir ein, dass mir Eier niemals besser geschmeckt haben als dort! Und wenn wir etwa nach Edingen kamen, an der Luxemburger Grenze gelegen – an den „Edinger Berg“, wo Tante Traudchen lebte, eine weitere Schwester meiner Oma, dann führte mein erster Weg immer in den Kuhstall, denn dort waberte der für mich damals betörendste Duft der Welt – nämlich der von Kühen, frischer Milch, von Wiesen und Natur – Landluft halt, und die Begeisterung für diesen Odeur hat mich bis heute nicht losgelassen! Auch heute noch werden für mich beim Duft nach Jauche oder Kühen sofort Erinnerungen an meine Kindheit in der Eifel wach.

      Um in die Eifel zu kommen, fuhren wir mit dem Zug von Köln nach Erdorf, wo uns Tante Ninis Sohn Walter mit seinem Goggomobil abholte. Ich weiß bis heute nicht, wie Walter es schaffte, meine Oma in dieses Auto zu bugsieren, denn sie war eine ziemlich korpulente Frau – und dazu noch unser Gepäck, das hochkant auf dem Rücksitz Platz fand und mit mir in der Mitte. In späteren Jahren, als mein Vater sein erstes Auto gekauft hatte, einen schilfgrünen VW Käfer, kamen meine Eltern normalerweise gegen Ferienende nach Messerich, um uns abzuholen. Unser VW kam mir dann immer riesig vor im Vergleich zum Goggo – und das war er wohl auch.

      Eine der Bahnfahrten in die Eifel ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Es war an einem heißen Sommertag. Wir fuhren natürlich zweiter Klasse, in der man auf Holzbänken saß (daher „Holzklasse“!), und durch die heruntergeschobenen Fenster drang die warme sommerliche Luft. Ich saß neben meiner Mutter mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Uns gegenüber saß ein Herr mittleren Alters in einem dunkelblauen Anzug, weißem Hemd und passender Krawatte. Ich hatte Keuchhusten, und zwischen zwei Hustenanfällen wollte ich unbedingt einmal aus dem Fenster spucken und bat meine Mutter – immerhin! – um Erlaubnis. Natürlich ließ sie das nicht zu. Aber ich muss wohl so gedrängt haben, dass sie ihrem kranken Sohn irgendwann nachgab, und so stellte ich mich ans Fenster und spuckte aus Leibeskräften nach draußen. Leider reichten diese jedoch nicht aus, einen dicken Batzen Schleim durch den Fahrtwind hindurch nach draußen zu befördern, denn er kam auf gleichem Weg durchs Fenster wieder hereingeflogen und landete auf dem makellosen Revers unseres Mitfahrers. Entweder war es blankes Entsetzen oder eine Art Schockstarre, in die der Mann verfiel. Aber er rührte keine Miene. Meine entsetzte Mutter versuchte sogleich, den Schaden mit einem Taschentuch zu beheben, was ihr mehr schlecht als recht gelang. Zum Glück war es nicht mehr weit bis nach Erdorf, wo wir endlich aussteigen und dieser peinlichen Situation