Название | Blut und Wasser |
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Автор произведения | Jurica Pavicic |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783944359595 |
Silva blieb spurlos verschwunden. Die Wochen vergingen und die Polizei meldete sich immer seltener. Schain rief alle fünf bis sechs Tage an, doch was er zu sagen hatte, wurde von Mal zu Mal unbestimmter und nichtssagender. Der Polizei schienen die Ideen auszugehen.
Mate fuhr weiterhin jeden Morgen mit dem Bus zur Schule und kam jeden Nachmittag in ein Zuhause zurück, das er immer weniger ertrug. Sein Vater war meistens abwesend. Morgens setzte er sich mit einem Stapel Flugblätter ins Auto und kurvte weiß Gott wo herum und versuchte etwas herauszufinden, das Mate nicht verstand. Manchmal sah Mate ihn weit entfernt von zu Hause, in Split. Er sah, wie sein Vater grimmig die Straße entlanghastete, in Gedanken bei Dingen, die er mit seiner Familie nicht mehr teilte. Mate hatte den Eindruck, dass Jakob nur deshalb durch die Straßen streifte, damit er nicht zu Hause sein musste. Mate konnte das verstehen. Seit ein paar Wochen fühlte auch er sich überall wohler als zu Hause.
Dafür war seine Mutter zu Hause – ununterbrochen. In den ersten Tagen hatte Jakob gesagt, es wäre am besten, wenn immer jemand zu Hause wäre, am Telefon. Das hatte Vesna offensichtlich wörtlich genommen. Sie verließ das Haus überhaupt nicht mehr, außer wenn sie in die Kirche ging. Nach einem Versuch, wieder zur Arbeit zu gehen, hatte sie sich erneut krankschreiben lassen. Sie ging nicht mehr einkaufen und auch nicht ins Dorf. Den ganzen Tag über lag sie auf dem Sofa und starrte apathisch an die Decke, während das Radio lief. Die Nachrichten waren turbulent. Politische Parteien formierten sich, die ersten Wahlen wurden vorbereitet, in Ungarn verkündete die Opposition eine neue Verfassung und in Ostdeutschland reichte Parteisekretär Honecker seinen Rücktritt ein. Die Welt veränderte sich, doch Vesna, genau wie Mate, kümmerte das nicht.
In der Zwischenzeit veränderte sich auch ihr Haus, Vesna kochte nicht mehr, und auch die Wäsche blieb liegen, Staub wurde nicht gewischt. Mate erledigte jeden Tag das Nötigste. Er stellte die Waschmaschine an, holte sich aus der Keksdose Geld und kaufte Lebensmittel, aus denen er einfache Gerichte kochen konnte: Würstchen, Dosentomaten, Bohnen. Er machte Essen und spülte hinterher. Er bemühte sich, zumindest die Küche sauber zu halten. Im restlichen Haus hatte er den Kampf schon verloren. Das Haus ächzte unter Schichten von Staub, im Garten wucherte das Unkraut, und der Berg Bügelwäsche wuchs ins Unermessliche. Das Haus selbst stand stoisch und verschlafen da. Als hätte sich seit jenem Sonntag im September nichts gerührt. Alles verharrte in Erwartung: Silvas ungemachtes Bett, der Fernseher, der nicht mehr angemacht wurde, der Kalender, von dem niemand mehr die Tage abriss. Im Schuppen Jakobs Funkanlage, Elektronikteile, auseinandergenommen und vergessen. Alles lag im Winterschlaf und wartete auf den Kuss, der den Zauber lösen und dem Haus wieder Leben einhauchen würde.
Manchmal, nicht oft, ging Mate heimlich in das Zimmer seiner Schwester, wenn Vesna es nicht mitbekam, und Vesna bekam ohnehin gar nichts mehr mit. Dann öffnete Mate die Tür mit dem Schild KEEP OUT und ging hinein, ohne Licht zu machen. Er setzte sich auf das Bett, lauschte und roch Silvas Parfüm, dessen Duft noch immer in der Luft schwebte. Patschuli. Der dunkle, erdige Duft hing in Kissen, Kleidern, Schlafanzügen und sogar in den Vorhängen.
Mate sitzt im dämmrigen Raum und betrachtet die Sachen seiner Schwester. Wie in jedem Jugendzimmer kann man auch hier in Schichten das Älterwerden der Bewohnerin beobachten. In den hintersten Ecken sieht man noch, womit sich Silva als Kind beschäftigt hat, Bilderbücher, verzierte Hefte, ein Poesiealbum, Sticker von Garfield am Kopfende des Bettes. Weiter an der Oberfläche sieht er Poster und Musikkassetten, die Silva beim Übergang ins Jugendalter interessiert haben. Aber irgendwann sind auch diese Dinge aus Silvas Fokus gerückt. Verblüfft stellt Mate fest, dass es den Moment gegeben hat, als Silva aufhörte Musik zu hören und ganz normale Teenager-Gespräche zu führen. Diesen Moment hat es gegeben, aber er hat ihn verpasst.
So sitzt er im Zimmer und schaut zum wiederholten Mal auf Silvas Märchenbücher, den Schulatlas, alte Wasserfarben, den Spitzer in Form eines Globus und die Kassetten mit ihrer Musik: Sade, UB 40, Knopfler, Grace Jones. Er schaut auf die ganze Musik, die Silva zurückgelassen hat, auf ihre Kleider und all die überflüssigen Dinge, die sie nicht mitgenommen hat.
Er sieht das alles und erinnert sich. Er erinnert sich, wie sie im Sommer an der Kapelle gebadet haben, wie sie zwischen den scharfen Felsen herumgeklettert sind, mit einem Stein Muscheln von den Felsen gelöst und in ein mit Meerwasser gefülltes Gefäß gelegt haben. Er erinnert sich, wie sie vor Agatas Laden Kronkorken gesammelt und zur Belohnung für eine Handvoll Korken eine Cola bekommen haben. Er erinnert sich daran, wie Silva Fußball spielte. Die Jungs spielten immer auf dem Basketballplatz Fußball und als einziges Mädchen spielte Silva mit. Sie spielte nicht schlecht, war beweglich und schnell und der Ball klebte förmlich an ihrem rechten Fuß.
Silva war von Anfang an da. Von der Gebärmutter bis zum Kindergarten, von der Plazenta bis zum Schulbus. Es gibt keine Erinnerung, keinen Zipfel seines Lebens, in dem Silva nicht vorkommt. Er hat gedacht, dass es umgekehrt genauso wäre.
Aber so ist es nicht gewesen. Silva hat ihr eigenes, paralleles Leben geführt – ein Leben ohne ihn. Das empfindet er jetzt als Verrat.
Dann vertreibt er diese sinnlosen Gedanken. Er steht auf, streicht die Bettdecke glatt und verlässt Silvas Zimmer. Er schließt die Tür, auf der KEEP OUT steht, und schaut nach Vesna.
* * *
Adrian Lekaj wurde am 23. Oktober verhaftet, frühmorgens bei Sonnenaufgang.
Mate erinnert sich gut an den Morgen. Seit Silvas Verschwinden schläft er schlecht und wacht morgens früh auf. So ist es auch an diesem Morgen. Er stellt sich ans Fenster und schaut auf den grauen, feuchten Morgen. Ganz Misto schläft noch: die Häuser, der Kirchturm, der Anleger, die Boote im Hafen. Erst in einer halben Stunde würde man die vertrauten Geräusche hören: den Arbeiterbus, den Kombi, der die Zeitungen bringt, die Kirchenglocken, die Sirene aus der Kaserne.
Doch an diesem Morgen hört er andere Geräusche, Motorengeräusche, mehrere Autos, die von der Magistrale in den Ort fahren. Er hört Stimmen auf dem Platz vor der Kirche. Dann das kurze Aufheulen einer Sirene und Stimmen aus Funkgeräten.
Die Polizei, denkt er. Er weckt weder Mutter noch Vater, der gestern spät nach Hause gekommen ist. Mate verlässt das Haus und eilt zum Kirchplatz.
Vor der Bäckerei der Lekajs steht ein Polizeikombi und daneben eine Gruppe Polizisten mit Gewehren. Die Tür der Bäckerei ist geschlossen, doch aus dem Haus dringt Geschrei und etwas geht zu Bruch.
Langsam kommen immer mehr Dorfbewohner dazu. Mate erkennt den Pfarrer Don Drazen, der noch nicht sein Priestergewand trägt, sondern nur ein einfaches Hemd. Er sieht auch einige Arbeiter aus der Fabrik. Brane ist auch da, er steht ein Stück abseits und starrt gebannt auf das Geschehen.
Dann bringen sie ihn raus. Drei Polizisten schleppen Adrian Lekaj aus dem Haus. Dahinter kommt Adrians Vater, der alte Bäcker. Er steht mit einem Ausdruck an der Tür, als wollte er im Boden versinken. Als er in den Kombi geschoben wird, schreit Adrian, sie sollen ihn loslassen, weil er nichts gemacht habe.
Schain steht stumm neben dem Kombi, als wäre er der Regisseur des Ereignisses. Mate geht zu ihm und fragt, was passiert sei, doch Schain ignoriert ihn, so wie man ein Kind ignoriert.
Die Polizisten steigen in ihre Autos und fahren los, während Mate nach Hause geht, um seine Eltern zu wecken. Er berichtet, dass sie Adrian geholt haben.
Der Vater wählt Schains Nummer, doch es meldet sich niemand. Immer wieder ruft er vergeblich an. Schließlich beschließt er, nach Split zu fahren und vor Schains Büro zu warten, bis er erfährt, was los ist. Mate und seine Mutter bleiben in fiebriger Erwartung zu Hause am Küchentisch. Irgendwann fragt Mate, ob er einen Tee machen soll, verwirft die Idee aber, als er Vesnas entsetzten Blick sieht.
Sie warten stundenlang. Jakob kommt erst am frühen Nachmittag zurück. Sobald er ihn sieht, weiß Mate, dass er keine guten Nachrichten mitbringt.
»Sie haben einen anonymen Hinweis bekommen«, sagt Jakob.
Am Abend hat eine unbekannte Person aus einer Telefonzelle die Polizei angerufen. Sie hatte sich wohl einen Lappen vor den Mund gehalten und die Stimme verstellt. Dem Akzent nach ist es jemand aus