Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters

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Название Das Geheimnis der Madame Yin
Автор произведения Nathan Winters
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783939990352



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zweiten Mal, seit Celeste das Zimmer betreten hatte, sah sie Dorothea lächeln. Damit stand sie auf und streckte dem Mädchen die Hände entgegen. „Aber jetzt komm. Es gibt Frühstück und ich sterbe vor Hunger. Und danach musst du mir unbedingt London zeigen.“

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       The City of London Kurz vor Mittag

      Inspector Edwards hatte schlechte Laune. Der Dauerregen in der Nacht hatte ihn nicht schlafen lassen. Das verdammte Dach war undicht und es hatte durch seine Decke ins Wohnzimmer getropft. Er hatte eine Kanne darunter gestellt und dann hatte ihn das ständige Ping, Ping, Ping der Tropfen wach gehalten. Zu allem Überfluss hatte er die Kanne nach dem Aufstehen auch noch schlaftrunken umgetreten. Sein Wohnzimmer glich nun einem Ententeich ohne Enten.

      Nun lief er mit grimmigem Gesichtsausdruck durch die Straßen der City, vorbei an Häusern, deren Fassaden glänzten, als würden sie Regen ausschwitzen.

      Die Straßenhändler hatten kaum Kundschaft und so stürzten sie sich lärmend auf ihn. Lumpen wurden ihm von einem zahnlosen Mann als beste Ware angepriesen. Eine runzelige Alte wedelte mit allerlei Klimperzeug vor seiner Nase herum. „Schutzamulette, Sir. Schutzamulette“, brabbelte sie.

      Ein paar Jungen kamen herbeigelaufen, rannten im Kreis um ihn herum. Er achtete auf seine Börse und ging weiter, ohne den Jungs einen weiteren Blick zu schenken, die bereits ein lohnenderes Ziel ausgemacht hatten. Eine Kutsche klapperte vorbei, viel zu schnell unterwegs für die groben Pflastersteine.

      Edwards war auf dem Weg zu seinem Büro im Scotland Yard. Zuvor hatte er dem Haus von Familie Wiggins einen Besuch abgestattet und obwohl er wusste, dass die Eltern der toten Estelle nicht zugegen sein würden, hatte er doch einige interessante Dinge in Erfahrung gebracht.

      Der wachhabende Beamte am Tresen begrüßte ihn, indem er aufsprang und stramm stand. „Guten Morgen, Inspector. Was für ein wundervoller Tag.“

      Edwards klopfte sich ein paar Regentropfen vom Ärmel. „Higgins. Haben Sie schon mal einen Blick vor die Tür geworfen?“ Er wollte weiter, die Treppe hinauf zu seinem Büro.

      „Oh, Sir. Einen Moment bitte.“ Higgins eilte ihm nach.

      „Ja, was gibt's denn?“

      „Chief Inspector DeFries möchte Sie sprechen.“

      „Wann? Jetzt?“

      „Sobald Sie eintreffen, Sir. Er hat es mir persönlich mitgeteilt.“

      „Ja, gut. Danke.“

      DeFries' Büro lag am Ende eines breiten Flurs, dessen Parkettboden von einem dunkelroten Läufer bedeckt war. An den Wänden hingen die Porträts jener Männer, die die Geschicke Scotland Yards in der Vergangenheit geleitet hatten. Zurzeit war das Lieutenant Colonel Edmund Handerson. Ein Mann, dem Edwards tatsächlich bisher nur ein einziges Mal auf dem Flur begegnet war.

      Er erreichte DeFries' Büro, öffnete den Mantel und zupfte die Weste darunter zurecht, dann klopfte er an.

      „Nur herein, Robert.“

      Verwirrt trat Edwards in das ausladende Büro mit den hohen Fenstern und dem riesigen Schreibtisch, hinter dem DeFries fast zu verschwinden schien. „Guten Morgen, Sir. Woher wussten Sie, dass ich …“

      „Das ist kein Kunststück, mein lieber Inspector. Niemand anderes kommt den Flur so entlang gestampft wie Sie. Die Erschütterungen schlagen Wellen in meinem Kaffee.“ Er zeigte auf einen Sessel mit grünem Samtpolster und geschnitzten Armlehnen, die den Kopf eines Löwen zeigten. „Setzen Sie sich bitte. Darf ich Ihnen eine Tasse anbieten?“

      Edwards konnte Kaffee nichts abgewinnen, dessen Geruch das ganze Büro erfüllte. DeFries trank ihn, seit er ihn bei einer Reise nach Frankreich probiert hatte. Er lehnte höflich ab.

      „Sie wollten mich sprechen, Sir?“

      „Nein, mein lieber Robert. Sie wollten mich sprechen. Haben Sie das schon vergessen? Sie haben eine Nachricht bei meinem Sekretär hinterlassen.“

      Jetzt fiel es ihm wieder ein. „Natürlich. Verzeihung, Sir. Es geht um Sergeant Dyers.“

      „Dyers?“

      „Kippwells Sergeant aus der L-Division.“

      DeFries forderte Edwards mit einer Geste auf, fortzufahren.

      „Ich möchte ihn für diesen Fall anfordern.“

      „Sie?“ DeFries stellte die Tasse Kaffee zurück auf den Untersetzer aus weißem Porzellan. „Warum wollen Sie das tun?“

      „Er ist ein guter Mann. Er könnte mir nützlich sein.“

      DeFries legte die Fingerspitzen aneinander. „Es hat nicht zufällig etwas mit Inspector Kippwell zu tun? Wenn Sie ihm nur eins auswischen wollen … dann werde ich das ganz sicher nicht unterstützen.“

      „Nein, es geht nicht um Kippwell. Der ist mir völlig gleich.“

      „Wenn ich das befürworte, würde ich die ohnehin schon angespannte Lage zwischen Ihnen und Inspector Kippwell unnötig verschärfen. Außerdem ist Sergeant Dyers schon für eine andere Aufgabe vorgesehen.“

      „Ach ja? Welche?“

      DeFries lehnte sich zurück. Seine Augenbraue zuckte. „Das geht Sie nun wirklich nicht das Geringste an, Inspector.“ Dann nahm er die Tasse und nippte am Kaffee, bevor er sagte: „Wenn Sie einen Assistenten brauchen, gebe ich Ihnen Sergeant Fulston.“

      „Fulston?“ Edwards kniff die Lippen zusammen. „Der stolpert doch über seine eigenen Füße.“

      „Er ist übereifrig und dadurch ein bisschen tollpatschig“, stimmte DeFries zu, „aber unter Ihrer Führung, Robert, wird er schnell lernen. Haben Sie Nachsicht. Sie haben auch mal klein angefangen.“

      Edwards versuchte es erneut. „Aber Dyers hat bereits an dem Fall gearbeitet. Er kennt die Akten. Er verdient diese Chance.“

      „Ich habe Ihnen meine Entscheidung mitgeteilt. Wenn sie Unterstützung wollen, dann gebe ich Ihnen Fulston. Jemand anderen habe ich nicht für Sie.“

      Edwards knirschte mit den Zähnen. Er war es nicht gewohnt, klein beizugeben, wusste aber auch, dass jedes weitere Wort verschwendet war.

      „Haben Sie mit den Ermittlungen begonnen?“, fragte DeFries.

      „Die Akten geben nicht allzu viel her. Estelle Wiggins, Kind aus gutem Haus. Behütet aufgewachsen. Musikalisch, ein lebensfrohes Mädchen. Bevor ich herkam, war ich nochmal am Haus ihrer Eltern. Ihr Vater ist in Indien und ihre Mutter soll in einem Sanatorium in Brighton sein.“

      „Das klingt so, als wäre sie es nicht.“

      „Nein. Ich traf die Haushälterin und sie ließ mich ins Haus und ich konnte mich ein wenig umsehen.“ Er griff in seine Manteltasche und zog ein paar Briefe heraus, die er DeFries reichte. „Die habe ich gefunden.“

      Während DeFries den ersten Brief öffnete, erklärte Edwards: „Sie ist hier. In London. Man hat sie in eine Irrenanstalt gesteckt.“

      Jeder der Umschläge trug den Absender St. Bethlem. Lambeth Road.

      „Und ihr Mann bezahlt die Behandlungskosten nicht.“ Edwards suchte den passenden Brief und tippte mit dem Finger darauf. „Sie schreiben, dass sie gezwungen wären, Mrs. Wiggins in einen anderen Trakt zu verlegen, wenn die Zahlungen nicht fortgeführt würden und hier: Sie haben die Behandlung eingestellt.“ Edwards ließ den Brief fallen. Er war wütend. „Ich würde sagen, die haben sie weggesperrt und vergessen.“

      Er kannte die Waisen und Armenhäuser der Stadt und wusste nur zu gut, dass ein Menschenleben dort nichts zählte. Eine Irrenanstalt war ihm selbst bisher erspart geblieben, aber die Gerüchte genügten, um sie für den schrecklichsten Platz