Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters

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Название Das Geheimnis der Madame Yin
Автор произведения Nathan Winters
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783939990352



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schon missbilligend auf die Besucherin herab. Alle gehörten zum Geschlecht der Ellingsfords, wie die Namen auf den goldenen Plaketten verrieten. Lord Ellingsford war ohne Zweifel einer von ihnen. Er besaß das gleiche aristokratische Gesicht, den gleichen harten Zug um Mund und Kinn und den gleichen stechenden Blick, der jedem Hexenjäger in Amerika Ehre gemacht hätte.

      Sie erreichten eine Tür, die links und rechts von zwei farbenfrohen Blumengebinden geschmückt war. Ellingsford klopfte, wartete das leise „Ja, bitte“ ab und öffnete.

      Das Zimmer wurde von Gaslampen erleuchtet, die ihren Widerschein auf einem Schminkspiegel fanden, der vor den Fenstern stand.

      Dorothea saß neben ihrer Mutter auf dem Bett. Sie unterbrachen ihr Gespräch, als Ellingsford eintrat.

      „Warten Sie hier, Miss Summersteen“, befahl er, bevor er ihr die Tür vor der Nase zuschlug.

      Jetzt hing alles von Dorotheas Entscheidung ab. Sie würde nicht wollen, dass sie ging. Oder doch? Was dann? Zurück nach Chicago und sich Pinkertons Spott aussetzen? Niemals, diesen Triumph würde sie ihm nicht gönnen. Zudem würde sie mit Sicherheit Mrs. Roovers Unterstützung verlieren.

      Eine so einflussreiche Frau verärgerte und enttäuschte man besser nicht.

      Celeste ertappte sich dabei, wie sie nervös an ihrer Unterlippe knabberte. Eine Unsitte, die sie schon als Kind gehabt hatte.

      Da öffnete sich die Tür und Ellingsford trat auf den Gang hinaus.

      „Was hat Dorothea gesagt?“, fragte sie hastig.

      Ellingsford kniff die Mundwinkel zusammen. „Sie wünscht, dass Sie bleiben.“ Nach diesen knappen Worten zog er an einer Kordel, die hinter einem Vorhang aus grünem Brokat versteckt war. Irgendwo im Haus ertönte ein kleines Glöckchen.

      „Ich danke Ihnen.“

      Er überhörte ihren Dank und sagte: „Ich habe eine Bedingung, die ich an Ihr Bleiben knüpfen muss. Gleich wohin meine Tochter geht, gleich was sie tut – Sie werden mir darüber Bericht erstatten.“

      Celeste nickte.

      „Sollten Sie sich meinen Wünschen widersetzen, bedenken Sie, dass Sie nur Gast in meinem Haus sind.“

      Celeste nickte, weil er es so wollte. Niemals würde sie Dorothea belügen oder ausspionieren.

      Das Mädchen vertraute ihr.

      Auf der Treppe waren eilige Schritte zu hören. Es war Francine, die sich die Schürze glatt strich, das Häubchen richtete und die letzten Schritte langsamer zurücklegte. „Eure Lordschaft haben geläutet?“

      „Miss Summersteen wird unser Gast sein. Bereiten Sie eines unserer Gästezimmer für sie vor.“ Dann wandte er sich wieder an Celeste. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.“

      Das Dienstmädchen führte Celeste in die dritte Etage hinauf. „Das Zimmer wird Ihnen bestimmt gefallen. Sie haben einen wundervollen Blick auf den Garten. Um diese Jahreszeit tollen immer die Drosseln und Eichhörnchen durch die Wipfel. Und wenn Sie …“ Das Dienstmädchen plapperte wie ein Wasserfall. Celeste blickte freundlich, hörte aber nicht zu. Sie hatte es geschafft und nun war sie müde. Sie konnte es kaum erwarten, endlich ihre Schuhe von den Füßen zu streifen. Ihre Knöchel schmerzten. Ihr Kleid war wie ein Panzer aus Stoff, der ihr das Atmen schwermachte. Sie sehnte sich danach, alles von sich zu werfen und durchatmen zu können.

      Ihr Zimmer war geräumig und hoch. Ein geschwungener Kerzenleuchter hing in der Mitte. Es roch nach Möbelpolitur und altem Holz. Der Boden knarrte, als sie eintrat.

      „Warten sie, Madam. Ich mache Licht.“ Schon entzündete das Mädchen eine Petroleumlampe.

      Celeste öffnete eines der Fenster. Nachtluft umfing sie und blähte die roséfarbenen Vorhänge. Flirrende Wassertröpfchen kühlten ihr Gesicht. „Es ist so wunderbar ruhig hier.“ Tatsächlich schien London in einen tiefen Schlaf gefallen zu sein. Kein Klappern, Rufen, Schreien oder Stampfen. Kein Klirren von Gläsern, kein Instrument, das zum Tanz auffordert. Seit New York hatte sie keine Minute solcher Ruhe mehr erlebt.

      Celeste sah dem Dienstmädchen zu, wie es das geräumige Bett in neue Laken deckte. „Es ist schön, dass Miss Dorothea wieder daheim ist. Finden Sie nicht?“

      Francine lächelte herzlich. „Oh ja, Madam. Sie hat uns allen hier sehr gefehlt.“

      „Kannten Sie ihre Freundin? Estelle?“

      Francine hielt inne und drehte sich um. „Miss Wiggins, aber ja. Ich kannte sie gut. Sie und die junge Ladyschaft waren sehr gut miteinander befreundet. Ist es nicht schrecklich, was passiert ist?“

      Celeste spielte die Unwissende. „Was ist denn passiert?“

      „Jemand hat sie erwürgt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Können Sie sich das vorstellen?“

      „Ich glaube, niemand kann das. Wie schrecklich.“

      „Sie war eine so lebenslustige junge Frau. Sie konnte so wunderbar tanzen. Ich habe ihr ein paar Mal zusehen dürfen.“ Verträumt presste sie den Kopfkissenbezug an ihre Brust.

      „Dann gab es doch auch sicher einen Galan, der ihr den Hof gemacht hat?“

      „Oh, Miss Estelle hatte viele Verehrer.“ Francine erschrak über ihre eigenen Worte. „Oh, ich dumme Pute. Ich wollte gewiss nicht schlecht über Miss Estelle reden.“

      „Natürlich nicht.“ Celeste wartete einen Moment und fragte dann nach: „Und? Gab es jemanden?“

      Francine wurde rot. „Nein, nein. Es gab niemanden. Ich muss jetzt weitermachen. Ich darf nicht trödeln.“

      Ohne ein weiteres Wort zu verlieren kümmerte sich Francine um ihre Arbeit. Dabei presste sie die Lippen so fest aufeinander, dass keine Briefmarke mehr dazwischen gepasst hätte.

      Celeste beschloss, es gut sein zu lassen. Sie wollte nicht gleich als zu neugierig erscheinen.

      Das Dienstmädchen beendete zügig ihre Arbeit und verließ das Zimmer mit einem Knicks.

      Endlich alleine, öffnete Celeste ihre Schuhe und strampelte sie von den Füßen. Sie seufzte erleichtert. Was für eine Wohltat. Wenn nur endlich ihr Gepäck eintreffen würde. Celeste sehnte sich danach, sich endlich frisch machen zu können. Ihrem Kleid haftete der ölige Rauch von Southhampton, der Gestank der dortigen Fischerei und der Ruß einer langen Zugfahrt an.

      Sie öffnete die Knöpfe ihres Überwurfs und ließ ihn neben dem Bett auf den Boden fallen. Dann streifte sie ihre Handschuhe ab, öffnete das eng sitzende Oberteil ihres Kleides und tat zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit einen befreiten und tiefen Atemzug. Dann ließ sie sich neben ihrer Reisetasche aufs Bett fallen und sah sich in ihrem Zimmer um. „Das ist also England“, flüsterte sie, irgendwie amüsiert und dann doch wieder ernst.

      Sie öffnete ihre Tasche und sortierte den Inhalt neben sich auf dem Bett. Ein Kavallerie-Revolver und mehrere Päckchen Munition. Ein Notizbuch und die Mappe, die sie von Mrs. Roovers erhalten hatte. Ein hölzernes Kästchen, das ihre Schreibutensilien enthielt, eine kleine Tasche aus Segeltuch mit ihren Dietrichen und anderen Werkzeugen. Ihr Lieblingsbuch, die Reiseberichte von Lewis und Clarke, und ein paar Fotografien von Zuhause. Eine zeigte ihren Bruder und sie selbst. Sie standen stocksteif vor einer Leinwand in einem New Yorker Atelier. Sie erinnerte sich noch gut an diesen Tag. Sie waren so ausgelassen und fröhlich gewesen, dass erst der dritte Versuch, das Foto zu machen, geklappt hatte. Vorher hatten sie sich vor Lachen gekrümmt und den Fotografen damit in den Wahnsinn getrieben. Sie war elf gewesen und Thomas siebzehn oder achtzehn. Sie wusste es nicht mehr genau. Da hatten sie vom Krieg noch nichts geahnt.

      Sie nahm den Revolver und wog ihn in der Hand. Er war schwer und groß, ein alter Armeerevolver, mit dem Wappen des neunten Kavallerieregiments im Griff. Das war alles, was ihr von ihrem Bruder noch geblieben war. Ein paar Fotografien und eine unhandliche Waffe.

      Er war der Einzige gewesen, der sie je verstanden hatte.

      Celeste