Название | Im Schatten der Vergeltung |
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Автор произведения | Rebecca Michéle |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783943121605 |
Auch wenn über siebzehn Jahre vergangen waren, erkannte Maureen ihre Mutter sofort wieder. Mit gefalteten Händen stand Laura Mowat vor einem frisch aufgeschütteten Grab mit einem schlichten Holzkreuz. Ihre zierliche Gestalt in den dunklen Kleidern war gebeugt, unter der schlichten Haube lugten aber Strähnen ihres roten Haares hervor, dass immer noch dicht und kräftig war.
Maureen gab Philipp mit einer Handbewegung zu verstehen zurückzubleiben, dann näherte sie sich langsam.
»Mutter ...« Ihre Stimme war dünn und unsicher. Sie räusperte sich und sagte dann lauter: »Mutter, es ... tut mir so leid. Ich wünschte, ich wäre früher gekommen.«
Laura Mowat sah auf. Ihre Augen weiteten sich erstaunt, und ungläubig schüttelte sie den Kopf.
»Maureen? Wie hast du mich gefunden?« Ihre tiefe, kehlige Stimme hatte sich nicht verändert.
Maureen wollte auf ihre Mutter zugehen, sie in die Arme nehmen, aber der abweisende Ausdruck in Lauras Augen ließ sie zögern. Mit hängenden Armen stand sie einer Frau gegenüber, die wie eine Fremde auf sie wirkte.
»Nachdem ich deinen Brief erhalten hatte, sind wir sofort gereist.« Krampfhaft suchte Maureen nach den Worten. »Ich ... hätte Vater gern noch einmal gesehen.«
Im selben Moment erschienen Maureen ihre Worte hohl und nichtssagend, sie war aber unfähig, ihre Gefühle auszudrücken. Ihr Kopf war wie leergefegt, und sie befürchtete, jeden Moment in Tränen auszubrechen. Maureen hatte keine überschwängliche Begrüßung erwartet, mit dieser eisigen Ablehnung hatte sie jedoch nicht gerechnet. Laura Mowat schien auch nach siebzehn Jahren ihrer Tochter nicht verziehen zu haben.
»Was ist geschehen? Woran ist Vater gestorben?«, fragte sie leise.
Laura senkte den Kopf und wich Maureens Blick aus.
»Ich konnte nicht ahnen, dass du dich für deinen Vater noch interessierst, nachdem du nicht nur deine Familie, sondern dein ganzes Volk verraten hast. Ich schrieb dir diesen unseligen Brief nur, weil es Johns ausdrücklicher Wunsch war. Bis zuletzt hat er von dir gesprochen. Von mir aus hätte ich dir niemals geschrieben, denn ich habe seit vielen Jahren keine Tochter mehr.«
Maureen schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Sein Wunsch! Ihr Vater hatte an sie gedacht, ihrer Mutter war sie heute ebenso gleichgültig wie sie ihr während der gesamten Kindheit und Jugend egal gewesen war. Zwiespältige Gefühle kämpften in ihr, schließlich bekam ihr Stolz die Oberhand.
»Dann haben wir die lange Reise wohl umsonst gemacht«, sagte sie bitter. Laura sollte nichts von ihrer Enttäuschung bemerken, aber sie machte einen letzten Versuch, das Herz ihrer Mutter zu erreichen. »Unsere Tochter, deine Enkelin, hat uns begleitet. Frederica kann es kaum erwarten, ihre Großmutter endlich kennen zu lernen.«
Laura hob nur eine Augenbraue, ihr Blick blieb jedoch ausdruckslos.
»Sie hat ihr bisheriges Leben gewiss sehr angenehm verbracht, ohne mich zu kennen. Das wird sie auch weiterhin können, nicht wahr?«
Maureen ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Enttäuschung wandelte sich in Zorn. Philipp, der sich bisher im Hintergrund gehalten und das Gespräch stumm verfolgt hatte, trat an ihre Seite und legte eine Hand auf ihre Schulter. Diese kleine Berührung gab Maureen ein Gefühl von Wärme und neuer Kraft. Trotz der Missstimmung am vergangenen Abend war sie nicht allein.
Philipp flüsterte ihr zu: »Lass es gut sein. Du hast deine gute und ehrliche Absicht bewiesen. Am besten, wir reisen so schnell wie möglich wieder nach Hause.«
Laura starrte den großen, gut aussehenden Mann an. Für einen Moment befürchtete Maureen, sie würde ihm mitten ins Gesicht spucken, so verächtlich zogen sich ihre Mundwinkel nach unten.
»Ach, sie mal an, der Engländer! Was ist es für ein Gefühl, ein Land zu besuchen, dessen Volk ihr beinahe vollkommen ausgerottet habt, und den kläglichen Rest gnadenlos unterdrückt?«
Laura erwartete keine Antwort. Sie drehte sich um und verließ mit erstaunlich raschen Schritten den Friedhof. Maureen warf einen letzten Blick auf das Grab ihres Vaters, dann eilte sie Laura nach.
»Ich kann nicht anders«, rief sie Philipp zu. »Trotz allem ist sie meine Mutter.«
Am Tor holte sie Laura ein. Ein heftiger Hustenanfall zwang Laura, sich an die Eisenstäbe zu klammern. Ihr schmächtiger Körper wurde von Krämpfen geschüttelt, und sie rang nach Atem.
»Mutter!« Maureen legte einen Arm um Lauras Schultern und erschrak, wie mager die Mutter geworden war. Laura wehrte die Berührung nicht ab. »Bitte, komm mit uns. Wir haben am Charlotte Square ein Haus gemietet, dort können wir in Ruhe sprechen.«
Laura schüttelte energisch den Kopf. Der Husten hatte sich gelegt, aber sie atmete noch immer schwer.
»Niemals betrete ich das Haus eines Engländers. Wenn du willst, kannst du mich begleiten. Aber ohne den da!« Anklagend zeigte sie mit dem Finger auf Philipp.
»Mutter, Philipp ist mein Ehemann. Dein Schwiegersohn und der Vater deiner Enkelin.«
»Das heißt noch lange nicht, dass ich seine Gesellschaft ertragen muss. Also, wenn du wirklich mit mir sprechen willst, dann allein.«
Verständnislos schüttelte Maureen den Kopf. Sie warf Philipp einen um Verständnis bittenden Blick zu und sagte leise: »Fahre zurück, ich nehme mir später eine Mietdroschke.«
In seinen Augen sah sie die Missbilligung und war ihm umso dankbarer, dass er keine Einwände erhob.
Maureen stützte ihre Mutter, als sie durch die Gassen der Altstadt gingen. Sie kamen nur langsam voran, jeder Schritt bereitete Laura große Mühe. Immer wieder musste sie stehen bleiben und nach Atem ringen. Es war offensichtlich, dass Laura schwer krank war. Aus den Augenwinkeln bemerkte Maureen, wie ihnen Philipps Kutsche in angemessenem Abstand folgte, ohne dass Laura es bemerkte.
Für den Weg von einer knappen Meile benötigten sie über eine halbe Stunde, dann hatten sie Lauras Unterkunft in einer schmutzigen Seitengasse der Royal Mile erreicht. Maureen wusste nicht, was sie erwartet hatte, auf keinen Fall jedoch dieses kleine und schäbige Zimmer über einer zweifelhaften Schenke, in der zwielichtige, ungewaschene Gestalten bereits am Vormittag bei Bier und Whisky saßen. An der schmuddeligen Theke bestellte Laura einen Krug Bier. Irritiert erklomm Maureen eine steile Stiege hinauf und folgte ihrer Mutter in einen Raum, der kaum größer als eine Abstellkammer war. Laura, die sich von den Hustenanfällen wieder erholt hatte, schenkte das dunkle, starke Bier in zwei Holzbecher. Einen davon reichte sie Maureen, die sich nicht daran erinnern konnte, wann sie zum letzten Mal aus einem Holzbecher getrunken hatte, es war aber auch gleichgültig. Am liebsten hätte sie etwas Stärkeres zu trinken gehabt, aber sie entdeckte weder eine Flasche Whisky noch Brandy. Wenigstens war es in der Kammer warm, und die unverputzten Wände waren frei von Schimmel. Laura legte trockenes Holz in den Kamin. Als die Flammen emporzüngelten, hängte sie einen gusseisernen Topf über das Feuer.
»Hühnersuppe«, erklärte sie kurz. »Willst du auch eine Schale?«
Maureen schüttelte stumm den Kopf, ihr Magen war wie zugeschnürt. Sie beobachtete jeden Handgriff der Mutter: Wie sie die Suppe umrührte, nach wenigen Minuten eine Holzschale von dem einzigen Bord nahm, diese mit der Suppe füllte, sich dann an den wackligen, grobgezimmerten Tisch setzte und langsam die heiße Flüssigkeit schlürfte. Es war ein armseliger Anblick: Eine alte, kranke Frau mit abgetragenen Kleidern hockte in einem Raum, der selbst für eine Küchenmagd zu schäbig war, trank billiges, starkes Bier und aß eine dünne Hühnerbrühe. In Lauras Körperhaltung und auf ihrem Gesicht lag jedoch ein Ausdruck, als residiere sie im Holyrood Palast und verspeise mit Trüffeln gespickte Kalbsbrust. Das vertraute Gefühl aus der Kindheit, in der Maureen immer gedacht hatte, dass ihre Mutter nicht in die einfache Kutscherwohnung passte, kehrte zurück. Lauras Haltung war stolz, ihr Kinn hoch erhoben. Obwohl sie gealtert war, hatte sich an ihrer Ausstrahlung nichts geändert. Unwillkürlich musste Maureen an Lady Esther denken.