Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle

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Название Im Schatten der Vergeltung
Автор произведения Rebecca Michéle
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943121605



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Nur ein paar Fuß weiter befand sich eine Pfütze voller Speisereste und Exkremente.

      Der Fremde sah sie verständnislos an.

      »Haben Sie den Warnruf nicht gehört?«

      »Welchen Ruf?«

      »Gardyloo natürlich! Sie hätten mit Haud yer hand! antworten müssen. Sie sind wohl nicht von hier?«

      »Gardie… was? Ja, da hat jemand etwas gerufen. Ich wollte gerade nachsehen, was los ist, als Sie mich auch schon an sich gerissen haben.«

      Der Mann lachte. Er war nicht mehr jung, gewiss einige Jahre älter als Maureen. Um seine Augen spielten zahlreiche feine Fältchen.

      »Gardyloo bedeutet so viel wie Vorsicht Wasser, das allerdings nicht immer der Realität entspricht«, setzte der Fremde zu einer Erklärung an. »Meistens sind es ganz andere Dinge als nur Wasser, die aus den Fenstern auf die Straße geschüttet werden. Das schottische Wort ist eine Abwandlung des französischen Begriffes gardez l´eau und wird seit den Zeiten Maria Stuarts in Edinburgh allgemein verwendet.«

      »Ach?« Maureen krauste ihre Nase. »Dann muss ich Ihnen wohl dankbar sein. Sie haben recht, ich war eine lange Zeit nicht mehr in Schottland. Ich lebe in Cornwall.«

      Im selben Moment, als sie die Worte ausgesprochen hatte, hätte Maureen sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Was ging es den Fremden an, woher sie kam, und wie konnte er es wagen, sie in einer solch unverschämten Art und Weise anzustarren? Sie würde ihm jetzt ganz einfach danken und dann auf dem schnellsten Weg zum Charlotte Square zurückkehren.

      Missbilligend zog der Fremde eine Augenbraue in die Höhe.

      »Aye, Engländerin? Ich habe Ihren Akzent nicht richtig einordnen können. Schade, wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre ich Ihnen sicher nicht zu Hilfe gekommen.«

      »Was erlauben Sie sich!«

      Der Fremde verschränkte die Arme vor seiner Brust und musterte sie abschätzend.

      »Ich verabscheue alle Engländer«, sagte er ruhig,

      »Ich bin ebenso Schottin wie Sie!«, rief Maureen. »Mein Ehemann ist Engländer, darum lebe ich im Süden.«

      Verflixt, warum erzähle ich ihm das eigentlich?, fragte sie sich sofort wieder. Der Mann trat einen Schritt zurück und spuckte so unvermittelt vor Maureen aus, dass sie vor Schreck einen leisen Schrei ausstieß.

      »Jetzt würde ich Ihnen gern eigenhändig den Eimer mit den Exkrementen über den Kopf kippen. Wenn Sie als Engländerin geboren worden wären, könnten Sie zumindest nichts dafür. Aber dass sich eine Schottin dazu herablässt, ihr Land zu verraten, indem sie den Feind heiratet – das verdient meine ganze Verachtung!«

      Maureen verlor die Selbstbeherrschung. Mit aller Kraft holte sie aus und ohrfeigte ihn. Er war so überrascht, dass er nicht auswich. Außer sich vor Zorn rief sie: »Mein Mann wird für diese Beleidigung Genugtuung fordern! Er war Angehöriger der Armee und kann exzellent mit dem Degen umgehen. Nennen Sie mir Ihren Namen, und er wird Sie morgen aufsuchen.«

      Er stieß einen schnaubenden und verächtlichen Laut aus.

      »Wenn Sie glauben, ein hinterhältiger Rotrock würde mir Angst einjagen, so täuschen Sie sich. Und Sie, meine Liebe, sind es nicht wert, dass ich mich mit jemandem Ihretwegen duelliere. Sie sollten sich nicht überschätzen.«

      Er drehte sich um und eilte mit weitausholenden Schritten davon.

      »Ihren Namen!«

      Er blieb stehen, drehte sich betont langsam um und deutete eine spöttische Verbeugung an.

      »Alan McLaud, meine Gnädigste. Wenn Sie unbedingt zur Witwe gemacht werden möchten, dann schicken Sie Ihren Gatten ruhig zu mir.«

      Im nächsten Moment war er im Gewirr der Closes, der schmalen Durchgänge zwischen den Häusern, verschwunden und ließ eine vor Zorn bebende Maureen zurück.

      Maureen erhielt keine Gelegenheit, Philipp von ihrem Erlebnis mit dem unverschämten Fremden zu berichten, denn kaum hatte sie die Tür am Charlotte Square geöffnet, stand ihr Mann auch schon vor ihr. Nicht minder zornig als Maureen – allerdings aus ganz anderen Gründen.

      »Wo warst du?«

      Maureen sah mit Unbehagen, wie eine hervorgetretene Ader über seiner rechten Schläfe heftig pochte. Das war ein deutliches Zeichen seiner wütenden Erregung.

      »Es tut mir leid, aber ich konnte einfach nicht länger warten«, versuchte sie sich zu verteidigen.

      »Nicht länger warten? Du hast deine Eltern seit Jahren nicht mehr gesehen, wäre es da auf ein paar Stunden angekommen? Das ist kein Grund, bei Nacht und Nebel wie eine gewöhnliche Bäuerin in der Stadt herumzuschleichen. So benimmt sich keine Dame!« Wenn das Lady Esther wüsste, fügte Maureen im Stillen hinzu. Im selben Moment fuhr Philipp fort: »Wenn das Lady Esther wüsste! Sie wäre entrüstet, wie du dich über ihre Ratschläge hinwegsetzt.«

      »Sie ist aber nicht hier und wird es nie erfahren.« Maureen presste beide Hände an ihre Schläfen, plötzlich bekam sie Kopfschmerzen. »Lady Esther! Immer wieder Lady Esther! Ich kann diesen Namen nicht mehr hören. Es kümmert dich anscheinend überhaupt nicht, wie es mir geht!«

      Die Nachricht über den Tod ihres Vaters, und die unerfreuliche Begegnung mit dem ungehobelten Fremden hatten sie erschöpft. Solange Philipp doch stur und unversöhnlich blieb, würde sie nicht zugeben, wie schwach und hilflos sie sich fühlte. Darum warf sie den Kopf in den Nacken und sagte stolz:

      »Du gibst mir ja gar keine Möglichkeit, dich um Entschuldigung zu bitten und mein Verhalten zu erklären.«

      »Maureen, ich will doch nur dein Bestes.«

      »Ich kann selbst entscheiden, was gut für mich ist und was nicht.« Ein starker Schmerz schoss ihr durch den Kopf, und sie kniff die Augen zusammen. »Ich bin müde. Heute habe ich keine Kraft mehr, um mich mit dir auseinanderzusetzen. Übrigens – mein Vater ist gestorben, und ich konnte in Erfahrung bringen, wo ich meine Mutter finden kann. Ich schätze, das interessiert dich aber kein bisschen.«

      »Aber Maureen ...«

      Sie winkte ab und ging mit langsamen Schritten die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Auf keinen Fall würde sie sich Philipp gegenüber anmerken lassen, wie sehr sie durch sein Unverständnis verletzt worden war.

      »Warum kann ich euch nicht begleiten? Es ist doch meine Großmutter.«

      Beleidigt zerbröselte Frederica eine Scheibe Toast zwischen ihren Fingern. Maureen legte eine Hand auf ihren Arm.

      »Kleines, meine Mutter muss erst verkraften, mich nach all den Jahren wiederzusehen. Außerdem weiß ich gar nicht, in welcher Verfassung ich sie vorfinden werde. Dein Großvater ist erst kürzlich gestorben, das muss ein großer Schock für meine Mutter gewesen sein.«

      »Was soll ich hier den ganzen Tag tun?«, nörgelte Frederica. »Papa erlaubt mir ja nicht einmal, allein auszugehen. Ich wäre besser zu Hause geblieben, da könnte ich mit George ausreiten. In Cornwall scheint bestimmt die Sonne, und es ist warm.«

      Maureen dachte kurz nach, dann lächelte sie und schlug vor: »Wie wäre es, wenn du dir das kleine, nette Buch über Edinburgh anschaust, dass wir an der Grenze gekauft haben? Morgen werden wir uns die Stadt ansehen, und dann kannst du mir alles Wissenswerte erzählen.«

      »Hm ...« Über diesen Vorschlag war Frederica wenig begeistert, andererseits lud das Wetter nicht zu einem Spaziergang ein. Dichter Nebel lag in den Straßen und es war empfindlich kühl. »Also gut«, gab sie nach. »Aber morgen möchte ich zur Burg gehen.«

      Maureen nickte. »Natürlich, mein Liebling. Dein Vater und ich bleiben nicht lange aus. Wenn du etwas brauchst, bitte Jenny darum.«

      Philipp wartete bereits in der Halle. Das gemeinsame Frühstück war in einer höflichen Atmosphäre verlaufen. Vor Frederica wollten Philipp und Maureen nicht streiten. Sie hoffte, die alte Frau würde recht haben, und sie würden Laura Mowat