Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann

Читать онлайн.
Название Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel
Автор произведения Nadine Erdmann
Жанр Языкознание
Серия Die Totenbändiger - Die gesamte Staffel
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958344105



Скачать книгу

irgendwie sogar stimmte, wenn auch nicht mit Fäusten. Körperliche Gewalt gab es in der Akademie nicht. Nicht mehr. Zumindest nicht von Lehrerseite. Psychischer Zwang und Erwartungsdruck waren allerdings eine ganz andere Geschichte.

      Jaz atmete tief durch und öffnete die Augen wieder.

      Das Zimmer vor ihr war zweigeteilt. Sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite gab es ein Bett, einen schmalen Kleiderschrank, eine Kommode, einen Schreibtisch und an jeder Wand zwei Regalbretter. Trotz der gleichen Möbel sahen beide Zimmerhälften allerdings grundverschieden aus. Die rechte Seite wartete mit so ziemlich jeder Schattierung auf, die Pastellfarben hergaben, und es gab kaum ein Fleckchen Wand, an dem nicht Poster von Fantasylandschaften und entsprechenden Fantasykerlen oder Bilder von Pferden und Einhörnern hingen. Die Bettwäsche mit rosa Herzchen war selbstgekauft und auf den Regalen standen Liebesromane neben kleinen Vasen mit getrockneten Rosen und Figuren aus Glas und Porzellan, die verliebte Pärchen darstellten. An der Wand am Schreibtisch hingen ein Stundenplan sowie die Pläne der Trainingseinheiten und der zugeteilten Akademiepflichten. Außerdem gab es eine Pinnwand, die zugeheftet war mit selbstgeschossenen Fotos, alten Kinotickets und Theaterkarten, Modeschmuck, Coupons für Make-up-Proben, ein paar Nicht-vergessen!-Zetteln und anderem Schnickschnack.

      Die linke Zimmerseite wirkte dagegen ziemlich clean. Die Wand war einfach nur weiß, es gab keine Poster und die Bettwäsche war in schlichtem Grau und aus dem Bestand der Akademie. An der Pinnwand hing nichts außer den Plänen von Schulstunden, Training und Pflichten und auf dem Schreibtisch lagen nur ein Laptop und ein paar Schulsachen. Die einzige persönliche Note fand sich auf den Regalen. Dort stapelten sich Bücher und Comichefte.

      Jaz ging zu ihrem Bett, warf sich auf die Matratze und starrte an die Decke.

      Eigentlich hätte sie in den Matheunterricht gehen sollen, aber sie brauchte jetzt einfach noch einen Moment für sich.

      Das Vier-Augen-Gespräch mit Master Carlton war noch ätzender gewesen, als sie befürchtet hatte. Zuerst hatte er ihr bloß den gleichen Sermon gepredigt, den auch Anya und Drew von sich gegeben hatten, und wenn sie die Worte Gemeinschaft und wertvoller Beitrag noch einmal mehr hätte hören müssen, hätte sie vermutlich geschrien. Doch im Vergleich zu dem Tiefschlag, den ihr Schulleiter ihr danach verpasst hatte, war das Gemeinschaftsgelaber absolut harmlos gewesen.

      Master Carlton hatte angeordnet, dass sie heute Abend ihre Sachen packen sollte, weil sie morgen mit den anderen nach Newfield gehen würde.

      Jaz hing nicht sonderlich an der Akademie. Sie hatte hier keine besonders engen Freunde.

      Aber sie wollte nicht weg aus London.

      Und sie kochte vor Wut, weil all ihre eigenen Wünsche und Pläne einfach abgetan und mit Füßen getreten wurden.

      Weil sie Dankbarkeit gegenüber der Gemeinschaft zeigen sollte, die sie siebzehn Jahre lang beschützt, versorgt, gefördert und ausgebildet hatte.

      Weil es jetzt an der Zeit war, dafür etwas zurückzugeben und einen wertvollen Beitrag zu leisten.

      Jaz war kotzübel.

      Wegen der Worte.

      Wegen Hass und Wut, die in ihrem Inneren brodelten.

      Wegen der Machtlosigkeit, weil man ihr, seit sie denken konnte, immer wieder Dinge aufzwang, die nicht ihrem eigenen Denken entsprachen, gegen die sie aber nichts machen konnte.

      Weil sie keine Familie hatte.

      Weil sie abhängig von der verdammten Akademie war.

      Weil sie nirgendwo anders hinkonnte.

      Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

      Aber das musste sie. Sie musste irgendwo anders hin, weil sie auf keinen Fall nach Newfield gehen würde. Bei der Vorstellung auf dieser Farm leben zu müssen, schnürte sich ihr die Kehle zu.

      Sie wollte nicht weg aus London. Die Stadt war ihr Zuhause. Sie wollte hierbleiben, ihren Abschluss machen, zur Polizeischule gehen und eine Spuk werden.

      War das echt zu viel verlangt?

      War sie wirklich undankbar, wenn sie eigene Wünsche hatte und sich nicht in den Dienst der Akademie oder Newfield stellen wollte?

      Ihre Fingernägel gruben sich in die Haut ihrer Handflächen, so fest ballte sie ihre Fäuste.

      Vielleicht war sie egoistisch, aber sie konnte das einfach nicht. Sie würde sich ihr Leben und ihre Träume nicht wegnehmen lassen. Sie wollte selbst bestimmen, wer sie war und was sie machte.

      Deswegen blieb ihr keine andere Wahl.

      Ruckartig setzte sie sich auf und zog ihren Rucksack unter dem Bett hervor.

      Mehr als ein paar Klamotten würde sie nicht mitnehmen können. Aber das war okay. Kramsammeln war noch nie ihr Ding gewesen.

      Sie öffnete den Kleiderschrank und packte zwei Jeanshosen, ein paar Shirts, ihre beiden Lieblingshoodies, ein bisschen Unterwäsche und ihre Jeansjacke ein. Mit etwas Mühe schaffte sie es auch noch, ihre Regenjacke in den Rucksack zu stopfen.

      Das war es.

      Jaz zog den Rucksack zu. Sie hatte zwar noch keine Ahnung, wohin sie gehen wollte, aber die paar Sachen mussten reichen.

      In der oberen Schreibtischschublade lagen ihre Geldbörse und ein Umschlag, in dem sie das Geld aus ihren Verdiensten aufhob. Fünfundzwanzig Pfund und ein paar Pennys. Lange konnte sie sich damit nicht über Wasser halten, aber darüber würde sie sich später Gedanken machen.

      Erst mal musste sie von hier verschwinden.

      Sie trat ans Fenster. Ihr Zimmer lag im zweiten Stock und auch wenn die Außenwände aus rauen Steinblöcken bestanden und etliche Unebenheiten aufwiesen, war es unmöglich, hier herunterzuklettern. Und zum Springen war es zu hoch. Beides war allerdings auch nicht ihr Plan.

      Sie öffnete das Fenster und ließ den Rucksack vorsichtig in die Holunderbüsche hinunterfallen, die unten neben der Hauswand wucherten. Dann zog sie ihre Boots unter dem Bett hervor und warf sie hinterher. Zum Glück waren in den Stockwerken unter ihr bloß weitere Zimmer der internen Akademieschüler und die saßen gerade in den Klassenzimmern in einem anderen Gebäudetrakt, sonst hätten ein vorbeifliegender Rucksack und ebensolche Schuhe womöglich zu unangenehmen Fragen geführt. Und falls jemand in der Pause in sein Zimmer zurückkehrte und zufällig aus dem Fenster sah, war das Gestrüpp so dicht, dass es Rucksack und Boots völlig verschluckte.

      Die Schulglocke klingelte zum Ende der ersten Doppelstunde. Zur zweiten würde man sie erwarten. Englische Literatur bei Ms Green.

      Jaz atmete tief durch.

      Sie musste so tun, als wäre alles in Ordnung. Nicht zu in Ordnung, das würde man ihr nicht glauben. Aber auch nicht so sehr in Unordnung, dass man sie wegen Aufmüpfigkeit und Ungehorsam in den Arrest steckte.

      Das wäre fatal.

      Sie warf sich die Tasche mit ihren Schulsachen über die Schulter und stopfte noch schnell eine Wasserflasche, ihre letzten Schokoriegel und eine Packung Kekse hinein.

      Dann blickte sie sich ein letztes Mal im Zimmer um.

      Solange sie denken konnte, hatte sie hier gewohnt, doch zu Hause hatte sie sich hier nie gefühlt. Trotzdem war es das Einzige, was sie kannte, und es fühlte sich seltsam an, es nie wiederzusehen.

      Sie atmete noch einmal tief durch, dann wandte sie sich entschlossen um und öffnete die Tür.

      Zeit, zu gehen.

      Jaz lief durch die Gänge hinüber zum Schultrakt und betrat ihr Klassenzimmer, in dem sich bisher nur David und Jessica eingefunden hatten. Beide sahen auf, als sie