Heim schwimmen. Deborah Levy

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Название Heim schwimmen
Автор произведения Deborah Levy
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783803141255



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sie sich um Worte mühte. Diese junge Frau war ein Fenster, das nur darauf wartete, dass jemand einstieg. Ein Fenster, das allem Anschein nach ohnehin einen Sprung hatte. Sie war sich nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, dass Joe Jacobs bereits einen Fuß in den Spalt geschoben und dass seine Frau ihm dabei geholfen hatte. Sie räusperte sich, um ihre Meinung zu sagen, aber ihre Meinung war so unaussprechlich, dass der Hausmeisterhippie ihr zuvorkam.

      »Soll ich deine Reisetaschen in dein Zimmer bringen, Kitty Ket?«

      Alle schauten in die Richtung, in die Jürgens nikotingelber Finger zeigte. Rechts neben der Terrassentür standen zwei blaue Stofftaschen.

      »Danke, Jürgen«, entließ ihn Kitty, als sei er ihr Kammerdiener.

      Er bückte sich und nahm ihre Taschen.

      »Was ist das für ein Kraut?« Er hob ein Büschel Blütenpflanzen hoch, die in die zweite blaue Tasche gestopft waren.

      »Ach, die hab ich auf dem Friedhof neben Claudes Café gefunden.«

      Jürgen schien beeindruckt.

      »Du musst sie die Kitty-Ket-Pflanze nennen. Das ist eine historische Geschichte. Pflanzensammler haben die Pflanzen, die sie entdeckt haben, oft nach sich benannt.«

      »Ja.« Sie schaute an ihm vorbei in die dunklen Augen von Joe Jacobs, als wollte sie sagen: »Kitty Ket ist Jürgens Spitzname für mich.«

      Isabel ging zum Poolrand und sprang kopfüber ins Wasser. Während sie knapp unter der Wasseroberfläche dahinglitt, die Arme nach vorne gestreckt, sah sie auf dem Grund des Pools ihre Armbanduhr liegen. Sie tauchte zu den grünen Fliesen hinab und holte sie herauf. Als sie wieder an die Oberfläche kam, sah sie, dass die alte englische Frau von nebenan ihr vom Balkon aus zuwinkte. Sie winkte zurück und stellte dann fest, dass Madeleine Sheridan Mitchell zuwinkte, der ihren Namen rief.

      Ein Lächeln auslegen

      »Mad-liiin!«

      Es war der dicke Waffennarr, der sie rief. Madeleine Sheridan hob, auf ihrem Strohstuhl sitzend, ihren arthrosegeschwächten Arm und winkte mit zwei schlaffen Fingern zurück. Ihr Körper war nur noch eine Ansammlung fehlerhafter Teile. Im Medizinstudium hatte sie gelernt, dass sie in jeder Hand 27 Knochen hatte, acht allein im Handgelenk, fünf im Handteller. In ihren Fingern gab es zahlreiche Nervenenden, aber jetzt bereitete es ihr schon Mühe, auch nur zwei Finger zu bewegen.

      Sie hätte Jürgen, der gerade Kitty Finchs Taschen ins Haus trug, gerne daran erinnert, dass sie in sechs Tagen Geburtstag hatte, wollte vor den englischen Touristen aber nicht den Anschein erwecken, sie sei auf seine Gesellschaft angewiesen. Vielleicht war sie bereits tot und hatte das Schauspiel der Ankunft der jungen Frau vom Jenseits aus verfolgt? Vor vier Monaten, als Kitty Finch allein in der Ferienvilla gewohnt hatte (angeblich, um Bergpflanzen zu studieren), hatte sie Madeleine Sheridan mitgeteilt, eine kleine Brise würde ihren Tomaten zu kräftigeren Stämmen verhelfen, und sich angeboten, die Blätter ein wenig auszudünnen. Sie ging umgehend zu Werke, führte jedoch die ganze Zeit Selbstgespräche im Flüsterton, pah pah pah, kah kah kah, die Konsonanten harte Laute auf ihren Lippen. Madeleine Sheridan, die überzeugt war, dass Menschen große Unbill erleiden mussten, ehe sie sich um den Verstand bringen ließen, forderte sie mit stählerner Stimme auf, sie solle aufhören, diese Geräusche zu machen. Aufhören. Sofort aufhören. Heute war Samstag, und die Geräusche waren zurück nach Frankreich gekommen, um sie zu quälen. Man hatte ihnen sogar ein Zimmer in der Villa angeboten.

      »Mad-liiin, ich koche heute Abend Rind. Kommen Sie doch zum Essen!«

      Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie gegen die Sonne gerade eben die rosafarbene Rundung von Mitchells nur noch spärlich behaartem Kopf erkennen. Madeleine Sheridan, die eine ziemliche Schwäche für Rind hatte und sich abends oft einsam fühlte, überlegte, ob sie sich dazu aufraffen könnte, Mitchells Einladung abzulehnen. Sie dachte, schon. Wenn Paare Einsamen und Einzelgängern Obdach oder eine Mahlzeit anbieten, dann nehmen sie sie nicht wirklich bei sich auf. Sie spielen nur mit ihnen. Spielen ihnen etwas vor. Und wenn sie fertig sind, geben sie ihrem gestrandeten Gast auf allerhand listige Weisen zu verstehen, dass es an der Zeit sei, von dannen zu ziehen. Paare hatten es immerzu eilig, sich wieder der Aufgabe zu widmen, ihren lebenslangen Partner zugrunde zu richten und dabei nach außen hin vorzugeben, sie wollten nur das Beste für ihn. Ein alleinstehender Gast war nichts anderes als eine kurze Ablenkung von dieser Aufgabe.

      »Mad-liiin.«

      Mitchell wirkte bemühter als sonst. Gestern erzählte er ihr, er habe Keith Richards gesehen, wie er in Villefranche-sur-Mer Pepsi getrunken habe, und ihn unbedingt um ein Autogramm bitten wollen. Am Ende habe er es jedoch sein lassen, denn, so Mitchell: »Der Dichterarsch war dabei und hat gedroht, mir einen Kopfstoß zu verpassen, weil ich so normal sei.«

      Sie fand es amüsant, wenn Mitchell mit seinen schlaffen, schweinchenrosa Armen finster bemerkte, Joe Jacobs gehöre nicht zu der Sorte Dichter, die den Mond anstarre und keine Muskeln habe. Er könne wahrscheinlich mit den Zähnen einen ganzen Schrank hochheben. Vor allem, wenn eine schöne Frau drin sei. Als die englischen Touristen vor zwei Wochen ankamen, hatte Joe Jacobs (JHJ auf seinen Büchern, aber sie hatte noch nie von ihm gehört) bei ihr geklopft, um etwas Salz zu borgen. Am heißesten Tag des Jahres trug er einen Winteranzug, und als sie eine Bemerkung darüber fallen ließ, erklärte er, heute sei der Geburtstag seiner Schwester, da trage er ihr zu Ehren immer einen Anzug.

      Das verwirrte sie, denn in Gedanken war sie ganz bei ihrem eigenen Geburtstag. Sein Anzug wäre eher einer Beerdigung angemessen gewesen, aber er war so charmant und aufmerksam, dass sie ihn fragte, ob er nicht die andalusische Mandelsuppe kosten wolle, die sie gerade gemacht habe. Als er »Wie zuvorkommend, meine Liebe« murmelte, servierte sie ihm eine großzügige Portion in einer ihrer Lieblingssuppentassen aus Keramik und lud ihn ein, sie auf ihrem Balkon zu schlürfen. Dann geschah etwas Schreckliches. Er nahm einen Schluck, spürte, wie sich etwas in seinen Zähnen verhedderte – und stellte fest, dass es ihr Haar war. Irgendwie war eine kleine, silberne Haarsträhne in der Suppentasse gelandet. Es war ihm in einem ihr unbegreiflichen Maße peinlich, obwohl sie sich doch entschuldigte und sagte, sie könne sich nicht erklären, wie sie da hineingelangt sei. Seine Hände zitterten, und er schob die Tasse so energisch von sich weg, dass die Suppe überall auf seinem lächerlichen Nadelstreifenanzug landete, dessen Sakko ein Futter aus geckenhafter, pinkfarbener Seide hatte. Von einem Dichter hätte ich mehr erwartet, dachte sie. Er hätte zum Beispiel sagen können: »Ihre Suppe zu essen war, wie eine Wolke zu trinken.«

      »Mad-liiin.«

      Mitchell konnte nicht einmal ihren Namen ordentlich aussprechen. Vielleicht, weil er selber so einen lächerlichen Namen hatte. Die Aussicht, mit Kitty Finch unter einem Dach wohnen zu müssen, hatte offenbar Panik bei ihm ausgelöst, und das wunderte sie nicht. Sie kniff die Augen zusammen und genoss den Anblick ihrer hässlichen nackten Füße. Es war so herrlich, keine Socken und keine Schuhe tragen zu müssen. Wofür sie, die ihrem Vaterland und ihrer Muttersprache Entrissene, selbst nach fünfzehn Jahren in Frankreich noch immer am meisten Dankbarkeit empfand, war das Vergnügen, barfuß zu laufen. Auf eine Scheibe von Mitchells saftigem Rind konnte sie verzichten. Außerdem wäre es wahnsinnig mutig, das Risiko eines Abends in der Gesellschaft von Kitty Finch einzugehen, die so tat, als habe sie sie nicht gesehen. Im Augenblick fischte sie zusammen mit Nina Jacobs Pinienzapfen aus dem Swimmingpool, als wenn es um ihr Leben ginge. Auf keinen Fall würde Madeleine Sheridan sechs Tage vor ihrem achtzigsten Geburtstag am Esszimmertisch in der Ferienvilla die würdevolle alte Dame geben. An jenem Tisch, den Jürgen auf dem Flohmarkt erstanden und mit Bienenwachs und Paraffin poliert hatte. Und das, wegen der Hitzewelle, in Unterhosen. Sie hatte den Blick abwenden müssen, wie er da in seinen »Unterkleidern«, wie sie es nannte, arbeitete und schwitzte.

      Am Himmel kreiste ein Adler. Er hatte die Mäuse entdeckt, die durch das ungemähte Gras des Obstgartens huschten.

      Sie rief Mitchell zu, er möge sie entschuldigen, aber er schien sie nicht gehört zu haben. Er schaute zu, wie Joe Jacobs in der Villa verschwand, um sich einen Hut zu holen. Offenbar wollte Kitty Finch einen Spaziergang mit dem englischen Dichter machen und ihm ein paar Blumen zeigen. Madeleine Sheridan