Ciros Versteck. Roberto Andò

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Название Ciros Versteck
Автор произведения Roberto Andò
Жанр Языкознание
Серия Transfer Bibliothek
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990371183



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küssten ihn und gingen davon. Der albinotische Beamte nutzte die Gelegenheit, näherte sich dem hundegesichtigen Mann und murmelte ihm etwas zu. Aus der Art, wie der Mann sich umdrehte und zu ihm herübersah, schloss der Maestro, dass er der Vizekommissar sein musste. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann schnippte der Mann seine Zigarette auf den Boden, trat sie zweimal mit dem Schuh aus und verkroch sich wieder in seinem Büro.

      Der Albino betrat das Wartezimmer, flüsterte ihm salbungsvoll zu, er müsse sich noch eine Minute gedulden, und verschwand wieder.

      Kurz darauf stand Gabriele Santoro auf und ging.

      Ruhelos wanderte er durch die Straßen und verlor sich in düsteren, zermürbenden Gedankenschleifen. Irgendwann fand er sich erschöpft auf der Uferpromenade der Via Partenope wieder.

      Es herrschte der übliche Rummel, Kellner versuchten, ausländische Touristen anzulocken, doch das Meer funkelte in warmem Licht, auf das eine gelegentliche schwarze Wolke ihren düsteren Schatten warf. Eine Weile stand er da und betrachtete das Treiben der Menschen in den Gassen des Borgo Marinaro, dann kam ihm in den Sinn, dass Ciro sich inzwischen bestimmt Sorgen machte. Ich sollte besser zurückgehen, sagte er sich. Immerhin hatte er nie jemanden gehabt, der daheim auf ihn wartete – ein völlig neues und keineswegs unangenehmes Gefühl.

      Die Menschen kennen die Gegenwart, Die Zukunft kennen die Götter.

      Konstantinos Kavafis

      4.

      Die Portiersloge war mit einem von De Vivos Männern besetzt. Diesmal verzichtete Gabriele Santoro auf den Aufzug und nahm die Treppe. Als er den zweiten Stock erreichte, fiel ihm auf, dass der Boss das ganze Haus unter Bewachung gestellt hatte: Ein Weiterer seiner Leute saß auf der obersten Stufe des Treppenabsatzes und las La Gazzetta dello Sport; obwohl er infolge einer mysteriösen Krankheit in den letzten Monaten sichtlich abgemagert war, wurde er im Viertel noch immer ’o chiatto, der Dicke, genannt.

      Der Maestro hob grüßend das Kinn und stieg stumm zu seiner Wohnung hinauf.

      Als er die Tür öffnete, saß der Junge auf dem Stuhl im Eingang und wartete. Offenbar hatte er sich nicht von dort weggerührt.

      „Jetz’ kann ich dir sagen, wie die Sache gelaufen is’“, verkündete er.

      Und der Maestro hörte ihm zu.

      Er und Amitranos Sohn Rosario hatten sich mit dem Motorroller in der Via Chiaia postiert und auf einen günstigen Moment gewartet, um ein deutsches Paar, das in der Bar saß, zu beklauen. Nach einer halben Stunde war eine alte Frau aus dem Friseursalon an der Ecke gekommen, der schon von Weitem anzusehen war, dass ihre Handtasche vor Geld platzte. Weil sie es leid waren, auf die Deutschen zu lauern, waren er und sein Kumpel ihr gefolgt und hatten sie noch ein paar Besorgungen machen lassen.

      Als die Frau dann in eine abgeschiedene Seitenstraße eingebogen war, hatten sie beschlossen zu handeln. Mit einem Satz waren sie an ihrer Seite gewesen und Ciro hatte ihre Tasche gepackt und wie wild daran gerissen, doch die Alte hatte beim besten Willen nicht loslassen wollen und war gestürzt. Rosario war mit quietschenden Reifen durchgestartet, und als Ciro sich bang nach der Alten umgedreht hatte, hatte er festgestellt, dass jemand hinter ihnen her war: ein glatzköpfiger Typ am Steuer eines fetten, schwarzen BMW. Als er seinem eisigen Blick begegnete, wusste Ciro, dass er in Schwierigkeiten steckte, doch konnte er nicht ahnen, dass die Beklaute Alfonso De Vivos Mutter war, eine alte Hexe, die die kriminellen Machenschaften von halb Neapel verwaltete, und erst recht nicht, dass der Sturz sie ins Koma und auf die Intensivstation des Cardarelli-Krankenhauses befördern sollte.

      Als Ciro am nächsten Morgen erwachte, hatte er den Glatzkopf mit Carmine reden sehen und sagen hören, Alfonso De Vivo warte darauf, dass er ihm seinen Sohn bringe.

      „Ihm den Bengel bringen, und wieso?“, hatte der Vater gefragt.

      „Donna Marianna liegt im Koma. Übler Schnitzer, den dein Knirps sich da geleistet hat, das geht so nicht durch, kapierst du doch, oder?“

      Carmine hatte ergeben den Kopf gesenkt.

      „Na gut, sag Alfonso, ich bring ihn bis heut’ Abend, der Junge will um Vergebung bitten.“

      Als Gabriele Santoro sich Ciros Schilderung angehört hatte, waren seine Augen tränenfeucht. Verstohlen fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht, und der Junge blickte ihn mit einem Ausdruck an, den er bis dahin noch nicht bei ihm gesehen hatte.

      Ciro versuchte seiner Miene abzulesen, auf welcher Seite er stand. Gelassen ließ sich der Maestro von ihm mustern, bis die Zweifel seines kleinen Gastes zerstreut waren, dann zog er sich die Jacke aus, streichelte ihm über die Wange und verzog sich ins Arbeitszimmer, um ein wenig Ruhe zu finden. Er setzte sich und versuchte, die entsetzlichen Bilder loszuwerden, die seine Gedanken bevölkerten. Keine Viertelstunde später klingelte es an der Tür. Beunruhigt steckte er den Kopf ins Wohnzimmer und sah, wie der Junge die Klappe zum Hängeboden öffnete und hinaufkletterte.

      „Das ist eine Schülerin von mir, ich muss ihr Unterricht geben“, erklärte er und half dem Jungen, die Klappe zu schließen.

      Ciro spähte durch den Spalt und sah ein langes, dürres, etwa achtzehnjähriges Mädchen in die Diele treten. Es wechselte ein paar Worte mit Gabriele Santoro, dann verschwanden sie im Arbeitszimmer. Wenig später war der helle Klang einer mehrfach angeschlagenen Note zu hören, und im nächsten Moment hatte ihn das monotone Leiern der Fingerübungen in den Schlaf gewiegt.

      Nach einer Stunde tauchten der Maestro und seine Schülerin wieder auf. Ciro wurde von ihren Stimmen geweckt und drückte sein Auge an den Spalt.

      Das Mädchen hielt Gabriele einen Umschlag hin und sagte: „Das ist für die Stunden diesen Monat.“ Sie gaben einander die Hand und das Mädchen verschwand.

      Sekunden später öffnete sich die Luke und das ernste Gesicht seines Beschützers tauchte auf. Ausdruckslos blickten sie einander an, dann half der Maestro ihm hinunter. Kaum hatte Ciro wieder Boden unter den Füßen, fragte er nach dem Alter des Mädchens. „Die sieht aus wie ’n Besenstiel“, meinte er rotzig.

      Der Maestro funkelte ihn eisig an und verschwand wieder im Arbeitszimmer, wo er, getreu einer unbewussten Angewohnheit, sogleich ans Fenster trat.

      Im Hof wurde gerade ein seltsames Konklave abgehalten: Carmine Acerno redete mit zwei Männern in Maßanzügen. Ihre Haltung erinnerte an eine Beichte: Mit ehrerbietig gesenkten Köpfen traten sie abwechselnd vor, um seinem Geraune zu lauschen. Gebannt von der zärtlichen Grausamkeit dieser rituellen Geste, gewahrte Gabriele die stumpfe, animalische Ruhe, mit der sich Ciros Vater abwechselnd zu den beiden Typen beugte, ihnen über die Wange strich oder sie in stummer Bestürzung anstierte.

      Auf einmal schrillte das Telefon, und der Maestro beschloss, es klingeln zu lassen. Nach dem fünften, hartnäckigen Läuten überlegte er es sich anders und griff zum Hörer.

      „Gabriele, mein Lieber, störe ich? Ich bin’s.“ Es war die Stimme seines einzigen Freundes im Viertel, Antonio Balsamo, Chefarzt der Radiologie am Ascalesi-Krankenhaus und Konzertfanatiker.

      „Ganz und gar nicht.“

      „Gut. Ich wollte fragen, ob du nach dem Abendessen Lust auf eine kleine Partie Poker bei mir hast, die übliche Runde.“

      Der Maestro hatte nicht die geringste Lust zu pokern, doch angesichts seiner gegenwärtigen Lage war es vermutlich angebracht, die Einladung anzunehmen. Er konnte sich nicht ewig verkriechen, das wäre verdächtig erschienen, und womöglich war das sogar eine gute Gelegenheit, um herauszufinden, was über Ciros Verschwinden in Umlauf war.

      „Danke, Antonio, ich komme sehr gern“, haspelte er und legte auf.

      Es war sechs Uhr nachmittags, eine dichte, schwarze Wolkenbank hing bleiern am Himmel und schien sich in Zeitlupe zu bewegen. Er musste etwas unternehmen, durfte keine weitere Zeit planlos verstreichen lassen.

      Als er zu dem Jungen zurückkehrte, fand er ihn schlafend auf dem Sofa, das Buch von Kipling in der Hand. Er deckte ihn zu,