Ciros Versteck. Roberto Andò

Читать онлайн.
Название Ciros Versteck
Автор произведения Roberto Andò
Жанр Языкознание
Серия Transfer Bibliothek
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990371183



Скачать книгу

ehemaligen Schüler zu, packte ihn beim Kragen und verpasste ihm eine Ohrfeige. Die anderen standen mit betretenen Mienen daneben, als warteten sie auf ihre Abreibung. Doch es blieb bei der einen Ohrfeige, und kurz darauf trollten sich die Teilnehmer der eigenartigen Zusammenkunft.

      Ein paar Minuten lang stand Carmine da, dann ging er auf die Haustür zu, schaute unvermittelt auf und traf Gabrieles Blick. Sie musterten einander lange, dann wich der Maestro vom Fenster zurück.

      Es werden dieselben Dinge passieren, sie werden wieder passieren.

      Konstantinos Kavafis

      2.

      Die ganze Nacht hindurch saß Gabriele Santoro im Sessel seines Arbeitszimmers, wachte über den Jungen und trat hin und wieder ans Bett, um das Fieber zu kontrollieren oder ihm die Decke zurechtzuziehen. Mehrmals hörte er ihn im Schlaf stöhnen, und als die Temperatur abermals stieg, legte er ihm nasse Lappen auf die Stirn.

      Weil es ihn beschäftigte, nicht zu wissen, was los war, machte er sich den schwachen Moment des Jungen zunutze und fragte ihn nach dem Grund seiner Flucht. Doch wieder verkroch sich Ciro in undurchdringliches Schweigen und blieb ein Rätsel. Resigniert wartete Gabriele Santoro ab, bis dem Jungen die Augen wieder zufielen, und schloss ebenfalls die Lider.

      Gegen fünf Uhr glitt er endlich erschöpft in den Schlaf. Als er nach zwei Stunden erwachte – die Uhr zeigte zehn vor sieben –, trat er zu dem schlummernden Jungen, berührte ihn und stellte fest, dass er sich kühler anfühlte. Erleichtert ging er ins Bad, um sich zu waschen.

      Bedächtig und – sofern möglich – mit noch größerer Pedanterie, als er sie sonst bei seiner Morgenhygiene an den Tag zu legen pflegte, begann er sein Gesicht einzuseifen. Als sämtliche zu rasierende Partien mit Schaum bedeckt waren, betrachtete er sich im Spiegel. Ihm wollte kein Vers einfallen, nicht einmal einer von Kavafis. Als wäre die Dichtung der Welt mit einem Mal verstummt. Er musste an das verstörende Flehen in den Augen des Jungen denken, an die Wucht seines unergründlichen Blickes. Was wollten diese Augen? Vor wem hatten sie Angst? Und warum hatte er sich darauf eingelassen, ihn bei sich aufzunehmen?

      Er ließ den Rasierer über die Haut gleiten und empfand dabei eine Art wundersame Verlangsamung der Zeit, als wäre die Welt plötzlich stehen geblieben und die Angst des Jungen in ihrem Innehalten ebenso verschwunden wie sein Drang, sie zu verstehen. Dieses Wunder vermochte ihm sonst nur die Musik zu bescheren. Die in einem unendlich komplexen Augenblick gebündelte Zeit, der den Sinn der Ereignisse wandelte und eine Ahnung dessen aufscheinen ließ, was die Zukunft bringen mochte.

      Als er die Rasur beendet hatte, wusch er sich das Gesicht und stellte fest, dass er blutete. Ein winziger Schnitt unter der Lippe, eine Lappalie.

      Um am Ritual eines gewöhnlichen Morgens festzuhalten, ging Gabriele Santoro zuerst bei Marianos Kiosk vorbei und kaufte sich eine Zeitung. Während er das geschuldete Geld abzählte – sie hatten eine monatliche Vereinbarung und es war der 30. September –, kam ein Mann auf den Kioskbetreiber zu, flüsterte ihm etwas ins Ohr, nahm dessen Kopf in einer vermeintlich herzlichen, aber versteckt bedrohlichen Geste fest zwischen beide Hände und verschwand.

      Als sie wieder allein waren, wechselten er und Mariano einen Blick, der für gewöhnlich keinerlei Erklärung bedurft hätte. Doch an diesem Morgen wollte der Maestro nichts ungeklärt lassen, und als er die leise Angst im Gesicht des Mannes sah, mit dem er seit zwanzig Jahren seinen Tag zu beginnen pflegte, fragte er ihn, ob etwas nicht in Ordnung sei. Der Kioskbetreiber antwortete nicht sofort. Er steckte das Geld weg, trat aus dem Büdchen auf den menschenleeren Platz hinaus, stellte sich schweigend vor ihn hin und blickte ihn an.

      „Der Sohn von Carmine Acerno is’ verschwunden, Ciro“, raunte er dann wie ein Bauchredner. „Die dreh’n völlig durch, um ihn zu finden. Und dann gehen sie mir damit auf den Sack, als wär’ ich bei ihren Sauereien der Aufpasser.“

      Gabriele Santoro beschränkte sich auf ein Nicken.

      „Wie ist er denn verschwunden?“, fragte er gespielt beiläufig.

      „Abgehauen“, lautete die lapidare wie rätselhafte Antwort.

      Die vermeintlich neutrale Information ließ Gabrieles Puls ein wenig schneller gehen.

      „Wieso?“

      Eine gewagte Frage, wusste er doch, dass die Grundhaltung des Viertels ein Übermaß an Neugierde nicht billigte. Tatsächlich verzog Mariano das Gesicht zu einer ohnmächtig betrübten Miene und breitete die Arme aus.

      Unterdessen hatte es heftig zu regnen begonnen. Hastig und ohne, dass es eines weiteren Wortes bedurfte, gingen die beiden auseinander. Mariano verkroch sich wieder in seinen Kiosk, und als könnte die vom Himmel niederstürzende Sintflut seine Unrast fortspülen, machte sich der Maestro im strömenden Regen auf den Weg, um einen Kaffee zu trinken.

      Als das Mädchen hinter dem Tresen ihn durchweicht und sichtlich verloren hereinkommen sah, drückte sie ihm eine Rolle Küchenpapier in die Hand und forderte ihn mit einem Kopfnicken auf, sich notdürftig abzutrocknen. Gabriele Santoro lächelte dankbar, und um sie nicht zu enttäuschen, verdrückte er sich auf die Toilette.

      Der Raum war klein und ungewöhnlich sauber. In dem winzigen runden Spiegel wirkte sein Gesicht so fehl am Platz wie ein vom Grund der Tiefsee geborgenes Wrack.

      Er riss ein Stück Küchenpapier ab und betupfte seinen durchnässten Ärmel. Durch die Kabinenwand zur Damentoilette war eine heisere Frauenstimme zu hören, die jemandem von einem kürzlichen Vorfall berichtete.

      „Die Ärmste liegt mit ’nem gebrochenen Oberschenkel und Schädelbruch im Cardarelli, ihr Zustand is’ kritisch. Der steht mit einem Fuß im Grab, der Ciro. Carmine muss ihn finden. Den Rosario, den Sohn von Amitrano, haben sie sich schon geschnappt.“

      Dann, als hätte ihr Gegenüber sie zum Leise-Sein ermahnt, verfiel die Frau in einen Flüsterton, der zu einem unverständlichen Wispern verklang.

      Begierig auf weitere Gesprächsfetzen, drückte der Maestro sein Ohr an die Kabinenwand, doch gleich darauf war die Klospülung zu hören, dann eine quietschende Türklinke und schließlich die sich entfernenden Schritte zweier Personen. Er wartete ein paar Sekunden, verließ dann ebenfalls das Bad und sah gerade noch, wie die beiden Frauen, von denen er eine als Ciros Mutter erkannte, durch die Eingangstür verschwanden. Er kehrte an den Tresen zurück und bestellte einen Espresso.

      Als er die Bar verlassen hatte, begab sich Gabriele Santoro mit hypnotischer Langsamkeit zum Supermarkt, den er mit triefenden Kleidern betrat, womit er die entgeisterten Blicke sämtlicher Anwesender auf sich zog, vor allem der neugierigen Kassiererin, die es sich einfach nicht nehmen ließ, sich ständig in seinen Ernährungsplan einzumischen.

      Tropfend steuerte er auf das Gebäckregal zu und wählte zwei unterschiedliche Kekssorten aus, Schokoladenplätzchen und Hagelzuckerkringel, dann setzte er seinen Einkauf fort, griff sich ein Glas Bio-Orangenmarmelade, eine Tüte Milch, Schmelzkäseecken, vier Steaks, eine kleine Packung Ricotta, Tomaten, zwei Mozzarellas, Obst, eine Tüte Chips, vier Dosen Cola und Brot.

      „Haben Sie Gäste?“, fragte die Kassiererin gewohnt vorwitzig.

      „Nein, ich kaufe nur ein paar Vorräte, in den nächsten Tagen muss ich meinen Unterricht vorbereiten und werde wohl kaum dazu kommen, aus dem Haus zu gehen“, erwiderte der Maestro gelassen.

      „Ah“, sagte die Frau nur und zog die Lebensmittel über den Scanner. Bei den Käseecken hielt sie inne.

      „Die sollten Sie besser dalassen, die sind ungesund, ich hab mal eine Doku darüber gesehen, was die da alles reintun, sogar alte Schuhabsätze tun die da rein …“

      Der Maestro setzte ein verhaltenes Lächeln auf und gab ihr mit einer knappen Geste zu verstehen, sie einzulesen.

      Als er wenig später seinen Hauseingang betrat, kam ihm Gaudenzi entgegen, ein netter Mann, der ebenfalls im Haus wohnte und im Postamt arbeitete. Gabriele grüßte ihn im Vorbeigehen, eilte mit baumelnden Einkaufstüten auf die geöffnete Fahrstuhltür