Ciros Versteck. Roberto Andò

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Название Ciros Versteck
Автор произведения Roberto Andò
Жанр Языкознание
Серия Transfer Bibliothek
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990371183



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auf der Straße begegnet. Der Mann war um die fünfzig und hatte ein rundes, glattes Gesicht, das in unergründlicher Stumpfheit versunken schien.

      Wie üblich grüßten sie einander mit einem unmerklichen Nicken. Der Maestro schloss die Tür, drückte den Knopf seines Stockwerks – das vierte –, drehte sich hastig um, um dem Mann nicht den Rücken zuzuwenden, und hatte ihn so dicht vor der Nase, dass er seinen säuerlichen Dunst wahrnehmen konnte. Der Mann stierte ihn an, als wollte er seine Seele durchleuchten. Er sah aus, als hätte er ebenfalls die ganze Nacht kein Auge zugetan.

      Um das spürbare Unbehagen zu überspielen und als wollte er die quälende Langsamkeit des Fahrstuhls messen, fing Gabriele Santoro an, mit der Hand metronomisch den Takt zu schlagen. Als er Carmines Blick nicht mehr standhalten konnte, sah er in den Spiegel und traf auf sein verschwitztes, müdes, verschrecktes Gesicht.

      Mit einem Ruck hielt die Kabine auf dem Stockwerk, die Türen öffneten sich, und endlich konnte der Maestro mit rasendem Herzen aussteigen, doch als eingefleischter Perfektionist und fieberhaft darum bemüht, sich seine Verstörung nicht anmerken zu lassen, bedachte er seinen Mitfahrer mit einem letzten, förmlichen Nicken, ehe sich die Türen wieder schlossen.

      Kaum war er in seiner Wohnung, stellte er die Tüten auf dem Boden ab und machte sich auf die Suche nach dem Jungen. Im Arbeitszimmer war er nicht. Vermutlich war er in der Küche. Doch nachdem er die gesamte Wohnung einschließlich des Hängebodens hektisch abgesucht hatte, musste er sich der unerfreulichen Tatsache stellen: Ciro war fort.

      Ungläubig starrte er aus dem Fenster. Auf dem kleinen Platz stritten zwei Typen miteinander, Carmines übrige Kinder spielten Fußball, der Tabakladenbesitzer, das Hinkebein, stand vor der Ladentür und rauchte eine seiner täglichen fünf Zigaretten. Sonst war niemand zu sehen.

      Niedergeschlagen und erleichtert zugleich ließ Gabriele Santoro sich in den Sessel seines Arbeitszimmers fallen, wo er bis elf Uhr sitzen blieb und seinen Gedanken nachhing. Er überlegte, ob der Junge wohl zu seinen Eltern zurückgekehrt und liebevoll von ihnen aufgenommen worden war. Nicht sonderlich überzeugt von dieser Vermutung und um die Nervosität loszuwerden, legte er in voller Lautstärke eine seiner Lieblingsplatten auf, die Sonate für Violine und Klavier in A-Dur von César Franck, gespielt von David Oistrach und Swjatoslaw Richter. Doch mitten im Allegretto gellte plötzlich der durchdringende Ton der Türklingel durch die Wohnung: einmal, zweimal, dreimal.

      Er lief zum Spion, doch dort war niemand. Er wollte gerade kehrtmachen, als es wie wild an die Tür hämmerte. Hastig riss er die Tür auf und blickte in die eingefallenen Augen des Jungen, die ihn herausfordernd anstarrten. Er zerrte ihn in die Wohnung, spähte auf den Treppenabsatz hinaus, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtet hatte, und schloss die Tür.

      „Bist du irre? Wo warst du?“, blaffte er mit mühsam unterdrückter Wut.

      „Ich hab dich nicht gefunden und hab gedacht, du bist bei mein’ Papa.“

      „Und wo hast du dich versteckt?“

      „In der leeren Pförtnerwohnung, da bin ich immer mit Rosario.“

      „Wer ist Rosario?“

      „Mein Freund, Rosario Amitrano.“

      Damit erschöpfte sich das Gespräch und wich einer stummen Feindseligkeit, die den ganzen Vormittag anhielt.

      Gegen zwei Uhr kam der Junge zu ihm und verkündete, er habe Hunger, woraufhin der Maestro wortlos in der Küche verschwand, um ein Steak zu braten und Tomaten zu schneiden, und kurz darauf saßen sie noch immer wortlos bei Tisch und wechselten nur gelegentlich lange, fragende Blicke.

      Als sie mit dem Essen fertig waren, fragte er Ciro abermals, wovor er davonlaufe. Und abermals blieb ihm der Junge eine Antwort schuldig.

      „Also, deinen Freund, Amitranos Sohn, den haben sie schon geschnappt. Wenn du willst, dass ich dir helfe, solltest du mir besser sagen, was ihr ausgefressen habt.“

      Bei dieser Nachricht erstarrte die Miene des Jungen zu einer steinernen Maske.

      „Woher weißt du das?“, fragte er.

      „Ich weiß es“, gab der Maestro lakonisch zurück. Ciro sprang auf, flitzte davon und warf sich aufs Bett.

      Als er die nervöse Anspannung gegen vier Uhr nachmittags nicht mehr ertrug, beschloss Gabriele Santoro schweren Herzens, seinen Bruder Renato anzurufen, der Staatsanwalt war, und ihn um ein Treffen zu bitten, um mit ihm über die merkwürdige Misslichkeit eines Freundes zu sprechen. Der Jurist schwieg einen langen Augenblick und entgegnete dann, er habe über ein Jahr nichts von ihm gehört.

      „Du meldest dich nach so langer Zeit, um mich um einen Rat für deinen Freund zu bitten? Vielleicht sollten wir erst einmal unsere eigenen Angelegenheiten klären, meinst du nicht, Gabriè?“

      Der Maestro hatte mit dem Unmut des Bruders gerechnet, er war darauf eingestellt, ein weiteres Mal das sinnlose Ritual zu durchlaufen, mit dem sie ihren Zwist zelebrierten und Probleme aufrührten, für die es nie eine Lösung geben würde. Also verabredeten sie sich für den nächsten Tag in einer Trattoria unweit der Staatsanwaltschaft beim Centro Direzionale.

      Gabriele Santoro verbrachte die Nacht mit der halbherzigen Lektüre einer Ravel-Biografie, doch die meiste Zeit betrachtete er den schlafenden Jungen, als könnte er so hinter das unlösbare Rätsel gelangen, das in seinen Zügen aufschimmerte.

      Als sie am nächsten Morgen beim Frühstück saßen, stellte Ciro ihm aus heiterem Himmel eine Frage, die ihn zutiefst verstörte: „Was hast du mit mir vor?“

      Statt zu antworten, behauptete er, darüber habe er noch nicht nachgedacht. In Wirklichkeit hatte er die ganze Zeit nichts anderes getan, doch die sich überschlagenden Ereignisse hatten ihm nicht die nötige innere Ruhe gelassen, einen Plan zu schmieden.

      Als er die Wohnung verließ, verabschiedeten sie sich voneinander, als würden sie schon seit einer Ewigkeit zusammenwohnen. „Ich muss was erledigen“, sagte der Maestro nur zu dem Jungen, der beklommen nickte. Auf dem Weg zur Treppe fragte er sich, ob er ihn einschließen sollte. Ja, beschloss er, das sollte er, auch wenn er sich dabei wie ein Gefängniswärter vorkam.

      Die Botschaften waren falsch, (Oder wir haben sie nicht gehört oder schlecht verstanden).

      Kostantinos Kavafis

      3.

      Der Bruder war ein gut aussehender, nicht uneitler Mann. Gabriele betrat die Trattoria und blieb stehen, um ihn heimlich zu mustern und sich über das fragliche Thema noch einmal klarzuwerden, ehe er es damit aufnahm. Mit dem gemessenen Habitus eines Menschen, der sich stets im Zentrum der Aufmerksamkeit wähnt, schrieb der Staatsanwalt etwas in ein Notizbuch.

      „Ciao, Renato“, sagte der Maestro verhalten. Langsam und mit kaum verhohlenem Unmut drehte sich der Angesprochene um.

      „Du bist zwanzig Minuten zu spät, nicht ein einziges Mal geht es ohne deine Laxheit.“ Obwohl er der jüngere Bruder war, lag in seiner Stimme ein unüberhörbar paternalistischer Ton.

      „Pünktlichkeit ist der Dieb der Zeit, pflegte Oscar Wilde zu sagen. Und es sind nur zehn Minuten. Deine Uhr geht ein wenig vor.“

      „Na schön, Gabriè, lass gut sein. Schau lieber nach, was du essen willst, ich habe nämlich schon bestellt.“

      Renato reichte ihm die Speisekarte, die der Maestro eingehend studierte, während er sich darüber klarzuwerden versuchte, wie er das Gespräch beginnen sollte.

      „Ich glaube, ich nehme die Pasta mit Kartoffeln, und du?“

      „Ich nehme gedämpften Graubarsch mit Bohnen.“

      „Willst du Wein?“

      „Du weißt, dass ich um diese Uhrzeit nicht trinke.“

      „Ich nehme einen Viertelliter.“

      Nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte, stürzten sich die beiden Brüder