Название | Eine Studie in Scharlachrot |
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Автор произведения | Sir Arthur Conan Doyle |
Жанр | Языкознание |
Серия | Sherlock Holmes |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788726372151 |
In der ersten Woche bekamen wir keinen Besuch, und ich fing schon an zu glauben, mein Gefährte stehe ebenso allein in der Welt, wie ich selber. Bald stellte sich jedoch heraus, dass er viele Bekannte hatte und zwar in allen Schichten der Gesellschaft. Der kleine Mensch mit dem blassgelben Gesicht, der einer Ratte ähnelte und mir als Herr Lestrade vorgestellt wurde, kam im Lauf von acht Tagen mindestens drei- oder viermal. Eines Morgens erschien ein elegant gekleidetes junges Mädchen, das über eine halbe Stunde dablieb. Am Nachmittag desselben Tages fand sich ein schäbiger Graubart ein, der wie ein jüdischer Hausierer aussah und hinter dem ein hässliches, altes Weib hereinschlürfte. Bei einer späteren Gelegenheit hatte ein ehrwürdiger Greis eine längere Unterredung mit Holmes und dann wieder ein Eisenbahnbeamter in Uniform. Jedesmal, wenn sich einer dieser merkwürdigen Besucher einstellte, bat mich Holmes, ihm das Wohnzimmer zu überlassen, und ich zog mich in meine Schlafstube zurück. Er entschuldigte sich vielmals, dass er mir diese Unbequemlichkeit auferlege. „Ich muss das Zimmer als Geschäftslokal benützen, die Leute sind meine Klienten.“
Auch diese Gelegenheit, mir Aufschluss über sein Thun zu verschaffen, liess ich aus Zartgefühl ungenützt vorübergehen. Mir widerstand es, ein Vertrauen zu erzwingen, das er mir nicht von selbst entgegenbrachte, und schliesslich bildete ich mir ein, er habe einen bestimmten Grund, mir sein Geschäft zu verheimlichen. Dass ich mich hierin getäuscht hatte, sollte ich indessen bald erfahren.
Am vierten März — der Tag ist mir im Gedächtnis geblieben — war ich früher als gewöhnlich aufgestanden und fand Sherlock Holmes beim Frühstück. Mein Kaffee war noch nicht fertig, und ärgerlich, dass ich warten musste, nahm ich ein Journal vom Tisch, um mir die Zeit zu vertreiben, während mein Gefährte schweigend seine gerösteten Brotschnitten verzehrte.
Mein Blick fiel zuerst auf einen Artikel, der mit Blaustift angestrichen und ,Das Buch des Lebens‘ betitelt war. Der Verfasser versuchte darin auseinanderzusetzen, dass es für einen aufmerksamen Beobachter von Menschen und Dingen im alltäglichen Leben unendlich viel zu lernen gäbe, wenn er sich nur gewöhnen wollte, alles, was ihm in den Weg käme, genau und eingehend zu prüfen. Die Beweisführung war kurz und bündig, aber die Schlussfolgerungen schienen mir weit hergeholt und ungereimt, das Ganze eine Mischung von scharfsinnigen und abgeschmackten Behauptungen. Ein Mensch, der zu beobachten und zu analysieren verstand, musste danach befähigt sein, die innersten Gedanken eines jeden zu lesen und zwar mit solcher Sicherheit, dass es dem Uneingeweihten förmlich wie Zauberei vorkam.
„Das Leben ist eine grosse, gegliederte Kette von Ursachen und Wirkungen,“ hiess es weiter; „an einem einzigen Gliede lässt sich das Wesen des Ganzen erkennen. Wie jede andere Wissenschaft, so fordert auch das Studium der Deduktion und Analyse viel Ausdauer und Geduld; ein kurzes Menschendasein genügt nicht, um es darin zur höchsten Vollkommenheit zu bringen. Der Anfänger wird immer gut thun, ehe er sich an die Lösung hoher geistiger und sittlicher Probleme wagt, welche die grössten Schwierigkeiten bieten, sich auf einfachere Aufgaben zu beschränken. Zur Uebung möge er zum Beispiel bei der flüchtigen Begegnung mit einem Unbekannten den Versuch machen, auf den ersten Blick die Lebensgeschichte und Berufsart des Menschen zu bestimmen. Das schärft die Beobachtungsgabe und man lernt dabei richtig sehen und unterscheiden. An den Fingernägeln, dem Rockärmel, den Manschetten, den Stiefeln, den Hosenknieen, der Hornhaut an Daumen und Zeigefinger, dem Gesichtsausdruck und vielem andern, lässt sich die tägliche Beschäftigung eines Menschen deutlich erkennen. Dass ein urteilsfähiger Forscher, der die verschiedenen Anzeichen zu vereinigen weiss, nicht zu einem richtigen Schluss gelangen sollte, ist einfach undenkbar.“
„Was für ein thörichtes Gewäsch,“ rief ich, und warf das Journal auf den Tisch; „meiner Lebtag ist mir dergleichen nicht vorgekommen.“
Sherlock Holmes sah mich fragend an.
„Sie haben den Artikel angestrichen,“ fuhr ich fort, „und müssen ihn also gelesen haben. Dass er geschickt abgefasst ist, will ich nicht bestreiten. Mich ärgern aber solche widersinnige Theorien, die daheim im Lehnstuhl aufgestellt werden und dann an der Wirklichkeit elend scheitern. Der Herr Verfasser sollte nur einmal in einem Eisenbahnwagen dritter Klasse fahren und probieren, das Geschäft eines jeden seiner Mitreisenden an den Fingern herzuzählen. Ich wette tausend gegen eins, er wäre dazu nicht imstande.“
„Sie würden Ihr Geld verlieren,“ erwiderte Holmes ruhig. „Was übrigens den Artikel betrifft, so ist er von mir.“
„Von Ihnen?“
„Ja; ich habe ein besonderes Talent zur Beobachtung und Schlussfolgerung. Die Theorien, welche ich hier auseinandersetze und die Ihnen so ungereimt erscheinen, finden in der Praxis, ihre volle Bestätigung, ja, was noch mehr ist — ich verdiene mir damit mein tägliches Brot.“
„Wie ist das möglich?“ fragte ich unwillkürlich.
„Mein Handwerk beruht darauf. Ich bin beratender Geheimpolizist — wenn Sie verstehen, was das heisst — vielleicht bin ich der einzige meiner Art. Es giebt hier in London Detektivs die Menge, welche teils im Dienst der Regierung stehen, teils von Privatpersonen gebraucht werden. Wenn diese Herren nicht mehr aus noch ein wissen, kommen sie zu mir, und ich helfe ihnen auf die richtige Fährte. Sie bringen mir das ganze Beweismaterial, und ich bin meist imstande, ihnen mit Hilfe meiner Kenntnis der Geschichte des Verbrechens den rechten Weg zu weisen. Die Missethaten der Menschen haben im allgemeinen eine starke Familienähnlichkeit unter einander und wenn man alle Einzelheiten von tausend Verbrechen im Kopfe hat, so müsste es wunderbar zugehen, vermöchte man das tausend und erste nicht zu enträtseln. Lestrade ist ein bekannter Detektiv. Er hat sich kürzlich mit einer Falschmünzergeschichte herumgequält und mich deshalb so häufig aufgesucht.“
„Und die andern Leute?“
„Sie kamen meist auf Veranlassung von Privatagenten. Jeder von ihnen hat irgend eine Sorge auf dem Herzen und holt sich Rat bei mir. Sie erzählen mir ihre Geschichte und hören auf meine erklärenden Bemerkungen und dann streiche ich mein Honorar ein.“
„Können Sie wirklich, während Sie ruhig auf Ihrem Zimmer bleiben, die verwickelten Knoten lösen, welche die andern nicht zu entwirren vermögen, selbst, wenn sie mit eigenen Augen gesehen haben, wo sich alles zugetragen hat?“
„Das habe ich oft gethan; es ist bei mir eine Art innerer Eingebung. Liegt ein besonders schwieriger Fall vor, so besehe ich mir den Schauplatz der That wohl auch einmal selbst. Ich habe so mancherlei Kenntnisse, die mir die Arbeit wesentlich erleichtern. Meine grosse Uebung in der Schlussfolgerung, wie sie jener Artikel darlegt, ist für mich zum Beispiel von hohem praktischem Wert. Mir ist die Beobachtung zur zweiten Natur geworden. Als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung sagte, Sie kämen aus Afghanistan, schienen Sie sich darüber zu verwundern.“
„Irgend jemand muss es Ihnen gesagt haben.“
„Bewahre; ich wusste es ganz von selbst. Da mein Gedankengang meist sehr schnell ist, kommen mir die Schlüsse in ihrer Reihenfolge kaum zum Bewusstsein. Und doch steht alles in logischem Zusammenhang. Ich folgerte etwa so: Der Herr sieht aus wie ein Mediziner und hat dabei eine soldatische Haltung. Er muss Militärarzt sein. Die dunkle Gesichtsfarbe hat er nicht von Natur, denn am Handgelenk ist seine Haut weiss, also kommt er geradeswegs aus den Tropen. Dass er allerlei Beschwerden durchgemacht hat, zeigen seine abgezehrten Wangen; sein linker Arm muss verwundet gewesen sein, er hält ihn unnatürlich steif. In welcher Gegend der Tropen kann ein englischer Militärarzt sich Wunden und Krankheit geholt haben? — Versteht sich in Afghanistan. — In weniger als einer Sekunde war ich zu dem Schluss gelangt, der Sie in Erstaunen setzte.“
„Wie Sie die Sache erklären, scheint sie sehr einfach. In Büchern liest man wohl von solchen Dingen, aber dass sie in Wirklichkeit vorkämen, hätte ich nicht gedacht.“
„Wenn es nur noch Verbrechen gäbe, zu deren Entdeckung man besonderen Scharfsinn braucht,“ fuhr Holmes missmutig fort. „Ich weiss, es fehlt mir nicht an Begabung, um meinen Namen berühmt zu machen. Kein Mensch auf Erden hat jemals so