Eine Studie in Scharlachrot. Sir Arthur Conan Doyle

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Название Eine Studie in Scharlachrot
Автор произведения Sir Arthur Conan Doyle
Жанр Языкознание
Серия Sherlock Holmes
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726372151



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des Quartiers in der Bakerstrasse Nr. 221b fand am nächsten Tage statt. Es gefiel mir ausserordentlich; das grosse, luftige Wohnzimmer, welches sich an zwei behagliche Schlafstuben anschloss, war freundlich möbliert und sehr hell, da es sein Licht durch zwei grosse Fenster erhielt. Unter uns beide geteilt, erschien auch der Preis der Wohnung so gering, dass wir sie auf der Stelle mieteten und sogleich einzuziehen beschlossen. Noch am selben Abend liess ich meine Besitztümer vom Hotel hinüberschaffen und Sherlock Holmes folgte bald darauf mit verschiedenen Koffern und Reisetaschen. In den ersten Tagen waren wir eifrig beschäftigt, auszupacken und unsere Sachen auf das vorteilhafteste unterzubringen. Als dann die Einrichtung fertig war, begannen wir uns in Ruhe an unsere neue Umgebung zu gewöhnen.

      Holmes war ein Mensch, mit dem sich leicht leben liess, von stillem Wesen und regelmässig in seinen Gewohnheiten. Selten blieb er abends nach zehn Uhr auf, und wenn ich morgens zum Vorschein kam, hatte er immer schon gefrühstückt und war ausgegangen. Den Tag über war er meist im chemischen Laboratorium oder im Seziersaal, zuweilen machte er auch weite Ausflüge, welche ihn bis in die verrufensten Gegenden der Stadt zu führen schienen. Seine Thatkraft war unverwüstlich, so lange die Arbeitswut bei ihm dauerte; von Zeit zu Zeit trat jedoch ein Rückschlag ein, dann lag er den ganzen Tag im Wohnzimmer auf dem Sofa, fast ohne ein Glied zu rühren oder ein Wort zu reden. Dabei nahmen seine Augen einen so traumhaften, verschwommenen Ausdruck an, dass sicher der Verdacht in mir aufgestiegen wäre, er müsse, irgend ein Betäubungsmittel gebrauchen, hätte nicht seine Mässigkeit und Nüchternheit im gewöhnlichen Leben diese Annahme völlig ausgeschlossen.

      Nach den ersten Wochen unseres Beisammenseins war mein Interesse für ihn und der Wunsch zu ergründen, welche Zwecke er eigentlich verfolgte, in hohem Masse gestiegen. Schon seine äussere Erscheinung fiel ungemein auf. Er war über sechs Fuss gross und sehr hager; sein scharfkantig vorstehendes Kinn drückte Festigkeit des Charakters aus, der Blick seiner Augen war lebhaft und durchdringend, ausser in den schon erwähnten Zeiten völliger Erschlaffung, und eine spitze Habichtsnase gab seinem Gesicht etwas Aufgewecktes und Entschlossenes. Die Hände schonte er nicht, sie trugen fortwährend Spuren von Tinten und Chemikalien, auch hatte ich oft Gelegenheit, seine grosse Geschicklichkeit bei allen Handgriffen zu bewundern, wenn er mit seinen feinen physikalischen Instrumenten experimentierte.

      Kein Wunder, dass meine Neugier in hohem Grade rege war und ich immer wieder versuchte, die strenge Zurückhaltung zu durchbrechen, die er in allem beobachtete, was ihn selbst betraf. Das Geheimnis, welches meinen Gefährten umgab, beschäftigte mich um so mehr, als mein eigenes Leben damals völlig zweck- und ziellos war und wenige Zerstreuungen bot. Mein Gesundheitszustand erlaubte mir nur bei besonders günstiger Witterung auszugehen, und Freunde, die mich hätten besuchen können, um etwas Abwechslung in mein einförmiges Dasein zu bringen, besass ich nicht.

      Dass Holmes nicht Medizin studiere, wusste ich aus seinem eigenen Munde. Auch schien er keinen bestimmten Kursus in irgend einer andern Wissenschaft durchgemacht zu haben, der ihm auf herkömmliche Weise die Eingangspforte in die Gelehrtenwelt geöffnet hätte. Trotzdem verfolgte er gewisse Studien mit wahrem Feuereifer und besass innerhalb ihrer Grenzen ein so ausgedehntes und umfassendes. Wissen, dass er mich oft höchlich dadurch überraschte. — War es denkbar, dass ein Mensch so angestrengt arbeitete, sich so genau zu unterrichten suchte, ohne einen bestimmten Zweck vor Augen zu haben? — Ein planloses Studium ist meist auch oberflächlich, und wer sich den Kopf mit hunderterlei Einzelheiten anfüllt, thut dies schwerlich ohne einen triftigen Grund.

      Merkwürdigerweise war seine Unwissenheit auf manchen Gebieten ebenso erstaunlich, als seine Kenntnisse in anderen Fächern. Von Astronomie und Philosophie z. B. wusste er so viel wie gar nichts. Musste es mir schon auffallen, als er sagte, er habe noch nie etwas von Thomas Carlyle gelesen, so erreichte meine Verwunderung doch den Gipfelpunkt, als sich zufällig herausstellte, dass er sich über unser Sonnensystem ganz falsche Vorstellungen machte. Wie in unserem neunzehnten Jahrhundert irgend ein zivilisiertes menschliches Wesen darüber im unklaren sein kann, dass die Erde sich um die Sonne dreht, war mir völlig unbegreiflich.

      „Setzt Sie das in Erstaunen?“ fragte er lächelnd. „Nun Sie es mir gesagt haben, werde ich suchen, es so schnell wie möglich wieder zu vergessen.“

      „Es zu vergessen?!“

      „Ja. — Sehen Sie, meiner Ansicht nach gleicht ein Menschenhirn ursprünglich einer leeren Dachkammer, die man nach eigener Wahl mit Möbeln und Geräten ausstatten kann. Nur ein Thor füllt sie mit allerlei Gerümpel an, wie es ihm gerade in den Weg kommt und versperrt sich damit den Raum, welchen er für die Dinge, braucht, die ihm nützlich sind. Ein Verständiger giebt wohl acht, was er in seine Hirnkammer einschachtelt. Er beschränkt sich auf die Werkzeuge, deren er bei der Arbeit bedarf, aber von diesen schafft er sich eine grosse Auswahl an und hält sie in bester Ordnung. Es ist ein Irrtum, wenn man denkt, die kleine Kammer habe dehnbare Wände und könne sich nach Belieben ausweiten. Glauben Sie mit, es kommt eine Zeit, da wir für alles Neuhinzugelernte etwas von dem vergessen, was wir früher gewusst haben. Daher ist es von höchster Wichtigkeit, dass unsere nützlichen Kenntnisse nicht durch unnützen Ballast verdrängt werden.“

      „Aber das Sonnensystem —“ warf ich ein.

      „Was zum Kuckuck kümmert mich das?“ unterbrech er mich ungeduldig. „Sie sagen, die Erde dreht sich um die Sonne. Wenn sie sich um den Mond drehte, so würde das für meine Zwecke nicht den geringsten Unterschied machen.“

      Mir schwebte schon die Frage auf der Zunge, was denn eigentlich seine Zwecke wären, doch behielt ich sie für mich, um ihn nicht zu verdriessen. Unser Gespräch gab mir indessen viel zu denken, und ich begann meine Schlüsse daraus zu ziehen. Wenn er, sich nur Kenntnisse aneignete, die ihm für seine Arbeit Nutzen brachten, so musste man ja aus den Zweigen des Wissens, mit denen er am vertrautesten war, auf den Beruf schliessen können, dem er sich gewidmet hatte. Ich zählte mir nun alles auf, was er mit besonderer Gründlichkeit studierte, ja, ich machte mir ein Verzeichnis von der einzelnen Fächern. Lächelnd überlas ich das Schriftstück noch einmal, es lautete:

      Geistiger Horizont und Kenntnisse von Sherlock Holmes.

      1 Litteratur — Mit Unterschied.

      2 Philosophie — Null.

      3 Astronomie — Null.

      4 Politik — Schwach.

      5 Botanik — Mit Unterschied. Wohl bewandert in allen vegetabilischen Giften, Belladona, Opium u. drgl. Eigentliche Pflanzenkunde — Null.

      6 Geologie — Viel praktische Erfahrung, aber nur auf beschränktem Gebiet. Er unterscheidet sämtliche Erdarten auf den ersten Blick. Von Ausgängen zurückgekehrt, weiss er nach Stoff und Farbe der Schmutzflecke auf seinen bespritzten Beinkleidern die Stadtgegend von London anzugeben, aus welcher die Flecken stammen.

      7 Chemie — Sehr gründlich.

      8 Anatomie — Genau, aber unmethodisch.

      9 Kriminalstatistik — Erstaunlich umfassend. Er scheint alle Einzelheiten jeder Greuelthat, die in unserem Jahrhundert verübt worden ist, zu kennen.

      10 Ist ein guter Violinspieler.

      11 Ein gewandter Boxer und Fechter.

      12 Ein gründlicher Kenner der britischen Gesetze.

      Weiter las ich nicht; ich zerriss meine Liste und warf sie ärgerlich ins Feuer. „Wie kann der Mensch behaupten, dass es einen Beruf giebt, in dem sich alle diese verschiedenartigen Kenntnisse verwerten und unter einen Hut bringen lassen,“ rief ich. „Es ist vergebliche Mühe, dies Rätsel lösen zu wollen.“

      Holmes’ Fertigkeit auf der Violine war gross, aber ganz eigener Art, wie alles bei diesem ungewöhnlichen Menschen. Gelegentlich spielte er mit wohl des Abends von meinen Lieblingsstücken vor, was ich verlangte; war er aber sich selbst überlassen, so liess er selten eine bekannte Melodie hören. Er lehnte sich dann in den Armstuhl zurück, schloss die Augen und fuhr mechanisch mit dem Bogen über das Instrument, welches auf seinen Knieen lag. Die Töne, die er dann den Saiten entlockte, waren stets der Ausdruck seiner augenblicklichen Empfindung, bald leise und klagend, bald heiter, bald schwärmerisch. Ob er dabei nur den wechselnden Launen seiner Einbildung