Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte. Roy Jacobsen

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Название Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte
Автор произведения Roy Jacobsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448991



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nach fünf«, sagte Kristian mit derselben tonlosen Stimme, den Blick noch immer in die Zeitung gerichtet.

      »Was sagen Sie denn da«, sagte Mutter. »Kommen Sie jetzt und essen Sie mit uns zu Abend.«

      Und Kristian tat genau das, was ich immer tue, wenn sie so anfängt, er erhob sich mit einem müden Lächeln und sagte, danke.

      »Aber das darf nicht zu einer Gewohnheit werden«, fügte er hinzu, als wir hinausgingen.

      »Machen Sie sich keine Hoffnungen«, gab Mutter zurück, erleichtert, weil der Satz mit dem »scheiß« offenbar nur ein Einzelfall gewesen war. »Setzen Sie sich dorthin.«

      »Wenn du aufhörst, mich zu siezen, dann ja«, sagte Kristian und setzte sich an das Ende des Tisches, an dem noch nie jemand gesessen hatte. »Das gehört sich nicht.«

      »Ach?«, fragte Mutter und schnitt Vollkornbrot in dünnere Scheiben als sonst.

      »Nein, wir sind doch Arbeitsleute.«

      Das war ja auch eine seltsame Begründung. Aber hier war ich Kristians Ansicht, diese Sprache, auf die Mutter sich immer dann verlegte, wenn sie mit der Umwelt in Berührung kam, und die im Schuhladen so notwendig war, die gehörte doch eigentlich an keinen anderen Ort als eben in den Laden.

      »Und was will der Sportsfreund einmal werden?«, fragte er mich.

      »Schriftsteller«, sagte ich sofort und Mutter prustete los.

      »Er weiß nicht einmal, was das ist.«

      »Nein, und das kann doch ein Vorteil sein«, sagte Kristian.

      »Ach?«, fragte Mutter noch einmal.

      »Ja, es ist ein anspruchsvoller Beruf«, sagte Kristian und schien fast zu wissen, wovon er redete. Mutter und ich wechselten einen Blick.

      »Hast du den Unbekannten Soldaten gelesen?«, fragte ich.

      »Hör jetzt auf«, sagte Mutter.

      »Natürlich«, sagte Kristian. »Ein phantastisches Buch. Aber das weißt du sicher noch nicht?«

      »Nein«, gab ich zu. Aber die Stimmung war jetzt so locker, dass ich mich auf das Essen konzentrieren konnte, während Mutter lächelte und sagte, Kristian dürfe nicht überrascht sein, wenn er hier bald auf ein kleines Mädchen stieße, denn wir erwarteten Familienzuwachs. Kristian sagte, das sei ihr aber wirklich nicht anzusehen. Und sie lachten einander auf eine Weise an, die ich gar nicht zu beschreiben versuchen will, ich will nur erwähnen, dass Kristian aß, wie er ging und stand, ruhig und würdevoll, und er wartete nach jeder Schnitte, bis Mutter ihn zu einer neuen nötigte, und er solle doch auch mehr Aufschnitt nehmen. Sie konnte nicht begreifen, was das für eine Idee sei, nach fünf nicht mehr zu essen, während Kristian meinte, dass wohl alle hier im Lande bald lernen müssten, was Askese bedeutet.

      »Denn es steht nicht fest, dass das hier so bleibt.«

      »Wie meinen Sie das?«, fragte Mutter spitz. Und er zeigte fröhlich mit dem Messer auf sie und lächelte.

      »Jetzt hast du es wieder getan, hast mich Sie genannt.«

      Aber ich konnte mir das nicht anhören, es juckte mir ohnehin schon viel zu lange in den Fingern, ich wollte den Fernseher einschalten. An den vergangenen Abenden hatten wir im Wohnzimmer gesessen, Mutter mit ihrem Strickzeug und ihrer Teetasse, ich mit einer Zeitschrift, und hatten unruhige Blicke zu dem teakbraunen Koloss hinübergeworfen, der dort stand und uns mit seinem grünschwarzen blinden Auge anstarrte. Was in diesem Kasten steckte, war die Zukunft. Die Welt. Groß und unbegreiflich. Schön und rätselhaft. Eine langsam wirkende mentale Atomexplosion. Wir wussten das nur noch nicht. Aber wir ahnten es. Und der Grund, aus dem es noch immer totenstill bleiben durfte, war unter anderem der, wenn ich Mutter richtig verstand, dass der Untermieter das Gefühl haben könnte, dass wir ihn ausnutzten, wenn sie mir erlaubte, auf den elfenbeingelben Einschaltknopf zu drücken. Oder er könnte auf seiner Zwischenstation die Geräusche hören und sich eingeladen fühlen, hervorzukommen und sich in größeren Bereichen breitzumachen, als der Vertrag ihm erlaubte, er könnte in unserem Wohnzimmer sitzen und dazu gewissermaßen berechtigt sein, Abend für Abend, die Sache hatte viele Seiten, es half nichts zu schreien:

      »Ich will einschalten!«

      Wir mussten so tun, als ob der Kasten nur zur Aufbewahrung bei uns sei. Und nichts hätte weniger zur Aufbewahrung sein können. Mutter las sogar die Fernsehprogramme in der Zeitung, es gab die Schlagerparade mit Erik Diesen, und wir hätten vielleicht »Seemann« oder »Das Leben in Finnskogene« hören können, was es sonst nur im Wunschkonzert gab, und was war mit »Alles oder nichts«, was Essi mir als ein achtes Weltwunder beschrieben hatte?

      Aber als ich endlich vom Tisch aufstand und ganz einfach ins Wohnzimmer ging und auf den Knopf über dem Tandberg-Schildchen drückte, passierte rein gar nichts. Nicht ein Geräusch. Nicht ein Lichtfunke. Dann donnerte ein knisternder Schneesturm in mein Gesicht und Kristians Stimme erklang aus der Küche:

      »Wir müssen den zuerst anmelden. Und er braucht eine Antenne.«

      Er stand auf und ging ins Untermieterzimmer und wühlte in einem Kasten und kam mit etwas heraus, das er als Zimmerantenne bezeichnete, es ähnelte den galvanisierten Fühlhörnern eines Riesenkäfers und war Kristians Aussage nach nur Müll. Aber als er es montiert hatte, konnten wir immerhin Fische sehen, die hinter etwas Wogendem und Welligem herumschwammen, das aussah wie die Tapete bei Syversens.

      »Ich besorge eine richtige Antenne«, sagte Kristian und drehte an den Fühlhörnern, so dass die Wellen wuchsen und schwanden.

      Wir sahen die deformierten Fische an. Mutter saß auf der Sofakante, mit aneinandergepressten Schuhladenknien und schräger, abwartender Haltung, als warte sie auf den Bus; Kristian stand breitbeinig und mit übereinandergeschlagenen Armen mitten im Zimmer und schaute aus der Balkontür, wo vermutlich die richtige Antenne angebracht werden sollte. Er setzte sich erst, als Mutter ihn dazu aufforderte, und auch er setzte sich nur auf die Stuhlkante, die Ellbogen nachdenklich auf die Knie gestützt, das Kinn berührte die Fingerknöchel nur ganz leicht, so dass auch er etwas Vorläufiges hatte. Ich war als Einziger wirklich anwesend. Aber an diesem Abend wurde die erste Grundlage für etwas gelegt, das ich damals wohl als Freundschaft empfand.

      Es stellte sich nämlich heraus, dass Kristian ein Anhänger der Zahlen war, wie ich, Rundenzeiten, Jahreszahlen, Autonummern, wenn ich erst etwas gelernt hatte, dann saß es. Er wusste zum Beispiel, dass es in Norwegen über sechzigtausend Fernseher gab, also fast in jedem zehnten Haushalt einen, in den USA gab es schon Farbfernsehen, fast in jedem Haus. Er benutzte Wörter wie »intelligent« und »Entwicklung« und »sporadisch«, Begriffe, zu denen Mutter und ich nur ein sehr vages Verhältnis hatten. Nach den Fischen füllte ein großes asiatisches Gesicht den Bildschirm, das, wie sich herausstellte, dem Mann mit dem albernen Namen U Thant gehörte, über den wir herzlich gelacht hatten, wenn er im Radio erwähnt wurde, aber Kristian wusste, dass U Thant offenbar intelligent und weitsichtig war – so heißt es, fügte er hinzu. Und schon diese kleine Bemerkung sagte uns, dass U Thants mentale Ausrüstung nicht nur die Einschätzung eines einzelnen Untermieters sein konnte, sondern etwas in Richtung einer Mehrheitsentscheidung, eine Wahrheit, geboren aus dem gelinde gesagt spekulativen »heißt es« und »offenbar« – es lag eine schleichende und unwiderstehliche Logik in so gut wie jedem Satz, den er aussprach. Und obwohl er in den nächsten Minuten sowohl Arschloch sagte (einmal) und Hinkefuß und malochen und blaumachen, dachten wir wieder, er könnte vielleicht ein gebildeter Mann sein, und ich sah Mutter an, dass sie das vielleicht noch nervöser machte als das Vulgäre, ich meine, fluchen kann jeder, auch hier hatte es allerlei Ausdrücke gehagelt, als die Tür zu meinem alten Zimmer ausgebaut worden war. Es war wohl die Mischung, die sie umwarf, dass ein und derselbe Mensch Wörter wie Arschloch und sporadisch enthielt, als sei der Bursche eine Promenadenmischung, ein Mann ohne Heimat, und das ist, wie jeder weiß, ein Zigeuner, was wiederum falsch und unzuverlässig bedeutet, hatten wir uns also hier in unserer Idylle ein trojanisches Pferd aufstellen lassen?

      Der Abend endete mit einem kurzen Befehl von Seiten meiner Mutter.

      »Ja, nein, jetzt ist wohl Schlafenszeit.«