Название | Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte |
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Автор произведения | Roy Jacobsen |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711448991 |
»Wir kriegen einen Untermieter und eine Schwester?«
»Ja.«
»Aber nicht die Friseuse?«
»Sie ist keine Friseuse, Finn! Nein, sie muss in Behandlung, ich weiß nicht ...«
»Dann soll sie nicht hier wohnen!«
»Nein!, sag ich doch. Und jetzt hörst du zu!«
Zehn Minuten später. Mutter sitzt auf dem neuen Sofa mit einer Tasse Liptons Tee und ich im Sessel mit einer Flasche Solo, obwohl es doch mitten in der Woche ist. Wir fühlen uns wohler als irgendwann in den letzten zehn Minuten. Wir sind auf einer Wellenlänge. Einer neuen Wellenlänge, denn ich bin noch immer ein anderer, bin nur ein wenig mehr daran gewöhnt, es hängt mit Mutters plötzlicher Vertraulichkeit zusammen, denn auch sie ist eine andere, wir sind zwei Fremde, die hier sitzen und vernünftig darüber reden, wie wir eine weitere Fremde in Empfang nehmen sollen, ein sechs Jahre altes Mädchen, das Linda heißt und die Tochter eines Kranführers ist, der zufällig auch mein Vater war.
Ich sehe ein, dass es keine leichte Entscheidung gewesen sein kann, meine Mutter ist in unserem früheren Leben nicht gerade übergelaufen von guten Worten über diese Witwe und ihre Tochter, aber jetzt ist sie offenbar von einem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn getroffen worden; Solidarität würden manche es wohl nennen, aber wir sind nicht von der eingebildeten Sorte, wir haben einen Wohnkredit und sind unergründlich. Und innerhalb dieser beiden Wochen hat Mutter nicht nur die Kosten berechnet, wie sie mir jetzt erzählt, sie hat sich auch gefragt, was die Leute sagen werden, wenn wir sie nicht aufnehmen. Und wie würden wir uns dann fühlen? Und wie würde es der Kleinen im Waisenhaus ergehen? Um nicht zu sagen, wie würde ich später im Leben begreifen: Wäre es nicht vorzuziehen, die Witwe zu sein, die es schaffte, das zu tun, was getan werden musste, statt die zu sein, die das Handtuch warf und sich ihrer Verantwortung entzog, aufgrund von etwas so idiotisch selbst Verschuldetem wie Drogenmissbrauch?
Hier roch es ganz einfach nach einem Sieg, für Mutter, über die Person, die mit Mutters Kranführer durchgebrannt war und die vielleicht auch die indirekte Ursache dafür gewesen war, dass er gestürzt war, der Mann, dessen Erinnerung Mutter noch immer so wehtat, dass seine Fotos in einer verschlossenen Schublade begraben sein mussten.
Damit muss ich auch über die Frage nachdenken, die noch nicht beantwortet worden ist, die der Waisenrente.
»Nein, von der werden wir wohl nichts zu sehen bekommen«, sagte Mutter, wenn auch mit leicht brüchiger Stimme. »Ich habe nicht vor, sie zu adoptieren. Und ...«
Aber darauf will ich eigentlich nicht hinaus. Ich will auf die Frage hinaus, ob Mutter durch diese neue Aufgabe endlich die Gelegenheit sieht, ihren Wunsch nach einer Tochter zu erfüllen? Aber dann überlege ich mir die Sache anders und halte den Mund, vermutlich, um unser neues Gleichgewicht nicht zu zerstören. Ich trinke meine Limonade und gehe ins andere Zimmer und mache Hausaufgaben, mit offenen Türen, damit wir einander hören können, Mutters leise Haushaltsgeräusche im Wohnzimmer und in der Küche, das Radio mit Abendsonate und Fischereibericht, das bedeutet, dass die Schlafenszeit näherrückt. Ich kann am Bleistift herumnagen und zu dem Block hinüberschauen, in dem Essi wohnt, ich kann aus zusammengekniffenen Augen das Licht in seinem Fenster anstarren, das in diesem Moment gelöscht wird, die Lichter in den Zimmern aller meiner Kumpels, Hansa und Rogern und Greger und Vatten, die Wohnsiedlung, die ein Auge nach dem anderen zukneift, während ich vor der Matchboxreihe auf der Fensterbank sitze und mich aus irgendeinem Grund auf etwas freue, das mir noch vor zwei Wochen als Katastrophe erschienen wäre: eine Schwester, eine kleine Schwester.
4
Aber zuerst musste der Mieter herbeigeschafft werden, unsere neue Einkommensquelle. Und das war noch immer keine Kleinigkeit. Wir bekamen innerhalb von ebenso vielen Tagen drei weitere Besuche: meine Mutter servierte Kaffee und Kuchen für eine junge Frau, die Doris Day ähnelte wie ein Ei dem anderen, die aber zwei verfaulte Zähne hinter ihrem blutroten Lippenstift zeigte, als sie sich vergaß und lächelte, worauf die Verhandlungen ins Stocken gerieten.
Dann erschien ein älterer Mann, der nach Schnaps und etwas undefinierbar Fauligem roch, und der nichts über sich sagen konnte, und obwohl er mit mehr Hundertern winkte, als ich je gesehen hatte, wurde auch er wieder hinauskomplimentiert.
Danach stellte sich noch ein Mann ein, in Hut und Mantel, ein leicht zerstreuter, aber sympathischer Mann, der nach Rasierwasser von der Sorte roch, die Frank sonntags benutzte und von der ich – von Anne-Berit – wusste, dass sie Aqua Velva hieß und dass man sie auch trinken konnte, im Notfall. Er hatte klare, ruhige und farblose Augen, die nicht nur Mutter mit einer gewissen Neugier musterten, sondern auch mich. Er sei Seemann gewesen, sagte er, nun wieder an Land, er arbeite jetzt in der lukrativen Baubranche und brauche eine Zwischenstation, während er sich etwas Eigenes suche.
Wir hatten das Wort »Zwischenstation« noch nie gehört, und auch nicht »etwas Eigenes«. Aber dieser Mann hatte etwas Modernes und Tröstliches, wie ein Gebildeter, erklärte Mutter später. Im Grunde wirkte er ganz einfach normal, oder so, wie wir uns einen Untermieter vorgestellt hatten, abgesehen davon, dass er Hut und Mantel trug, wie ein Filmschauspieler. Was aber den Ausschlag gab, war wohl die folgende Bemerkung, als er in der neuen Tür stand und zu meinem Schreibtisch mit allen Matchbox-Autos und Comic-Heften hinüberschaute und langsam nickte:
»Gemütlich.«
»Ja, nicht wahr ...«
»Aber kein Platz für einen Fernseher, wie ich sehe.«
»Sie haben einen Fernseher, ja«, sagte Mutter, als sei es natürlich, einen Fernsehapparat zu haben, wenn man nicht einmal eine Wohnung hatte. »Dann stellen wir ihn eben ins Wohnzimmer«, sagte sie mit einer koketten Handbewegung, und er erwiderte ihr Lächeln mit einem schlichten:
»Ja, natürlich, ich benutze ihn ohnehin nicht sehr viel.«
Und damit war die Sache gewissermaßen entschieden.
Er hieß Kristian und zog am folgenden Samstag ein. Ich war inzwischen zu Mutter übergesiedelt, die plötzlich nicht mehr so recht wusste, wohin mit sich. Nach einigem Hin und Her kam es dazu, dass auch sie eine Zwischenstation einlegte, in ihrem eigenen Schlafzimmer, dass sie also dort blieb, wo sie immer schon gewesen war, dort, wo wir ansonsten mit den Vorbereitungen zum Empfang unseres neuen Familienmitglieds beschäftigt waren, der sechsjährigen Linda.
»Das muss doch seltsam für dich sein«, sagte Mutter und sah mich mitfühlend an.
Nein, ich fand es gar nicht seltsam, jetzt hatte ich Blick auf die Blocks gegenüber, und auch dort hatte ich Freunde genug. Wir hatten außerdem das Glück, dass mein Bett eigentlich ein Etagenbett war, das Mutter billig drei Jahre zuvor gekauft und dann zerteilt hatte. Teil 2 stand auf dem Dachboden. Wir brauchten es nur herunterzuholen und auf mein Bett zu montieren, eine einfache Operation, bei der nicht einmal Franks Hilfe benötigt wurde.
Aber es gab noch etwas anderes, was Mutter Sorgen machte, und das war der Fernseher, der jetzt wirklich im Wohnzimmer stand und niemals eingeschaltet wurde, denn nach Kristians Einzug sahen wir eine Zeit lang kaum etwas von ihm, außer seinem Mantel und seinem Hut, die auf einem ihm angewiesenen Platz in der Diele hingen, neben Mutters zwei Mänteln und meiner Knautschsamt-Jacke. Er hatte nicht gefragt, ob zu dem Zimmer auch Küchenbenutzung gehörte, was nicht der Fall war, er hatte nur Zugang zu Badezimmer und Klo, mit einem Wannenbad in der Woche. Dann aß er wohl auswärts, oder er verzehrte belegte Brote in seinem Zimmer, privat, falls er überhaupt dort war, es war nämlich kein Laut zu hören. Eines Abends fand Mutter, es reiche jetzt, und sie ging in die Diele und klopfte an.
»Bitte einzutreten«, hieß es. Wir traten ein. Und da saß Kristian mäuschenstill in einem weinroten Sessel und las eine Zeitung, die ich noch nie gesehen hatte.
»Wollen Sie denn niemals Ihren Fernseher benutzen?«, fragte Mutter.
»Schalten Sie ihn nur ein, mir ist der ganze Apparat eigentlich scheißegal.«
Das war ein Sprachgebrauch, von dem ich wusste, dass er Mutter nervös machte. Und das wollte