Название | Gesammelte Werke: Historische Romane, Märchen, Abenteuerromane & Autobiografie |
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Автор произведения | Georg Ebers |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788075836854 |
Kallias schwieg einen Augenblick. Der lebhafte Mann hatte während der Schilderung dieser dem hellenischen Herzen theuersten Ereignisse der Anwesenden nicht geachtet, und in’s Blaue starrend, die Bilder der Kämpfenden vor seinen Augen vorüberziehen lassen. Jetzt schaute er um sich und gewahrte staunend, daß der graue Mann mit dem Stelzfuße, den er, ohne ihn zu kennen, schon bemerkt hatte, sein Angesicht in den Händen verbarg und heiße Thränen weinte. Zu seiner Rechten stand Rhodopis, zu seiner Linken Phanes und alle Anwesenden schauten auf den Spartaner, als sei dieser der Held der Erzählung des Kallias gewesen. Der kluge Athener merkte sofort, daß der Greis in nächster Beziehung zu irgend einem der olympischen Sieger stehe; als er aber hörte, daß Aristomachus der Vater jenes ruhmgekrönten spartanischen Brüderpaares sei, dessen schöne Gestalten noch immer wie Erscheinungen aus der Götterwelt vor seinen Blicken schwebten, da sah auch er mit neidischer Bewunderung auf den schluchzenden Alten und eine Thräne füllte sein kluges Auge, ohne daß er ihr zu wehren versuchte. In jenen Zeiten weinten die Männer, wann sie eben von dem Balsam der Zähren Erleichterung hofften. Im Zorne, bei hoher Wonne, bei jedem Seelenschmerze sehen wir die starken Helden weinen, wogegen sich der spartanische Knabe am Altare der Artemis Orthia, ohne einen Klagelaut von sich zu geben, wund, ja manchmal zu Tode peitschen ließ, um des Lobes der Männer theilhaftig zu werden.
Eine Zeitlang blieben alle Gäste stumm, die Rührung des Greises ehrend. Endlich unterbrach Jesua, der Israelit, das Schweigen und sagte in gebrochenem Griechisch:
»Weine Dich recht aus, spartanischer Mann! Ich weiß, was es heißt, einen Sohn zu verlieren. Habe ich doch vor elf Jahren einen schönen Knaben in die Grube senken müssen in fremdem Lande, an den Wassern Babels, wo mein Volk in Gefangenschaft schmachtete. Hätte das schöne Kind nur noch ein einziges Jährchen gelebt, so würde es in der Heimath gestorben sein, und wir hätten es bestatten können in der Grube seiner Väter. Aber Cyrus der Perser, Jehovah segne seine Nachkommen, hat uns zu spät befreit um ein Jahr, und ich beweine das Kind meines Herzens doppelt, weil sein Grab gegraben ward im Lande der Feinde Israels. Gibt es etwas Grausameres, als zu sehen, wie unsere Kinder, der reichste Schatz, den wir haben, vor uns in die Grube fahren? Und, Jehovah sei mir gnädig, solch’ treffliches Kind, wie Dein Sohn gewesen, zu verlieren, wenn es eben geworden ist zum ruhmreichen Manne, das muß der größte Schmerz sein aller Schmerzen!«
Der Spartaner entfernte die Hände von dem strengen Angesichte und erwiederte unter Thränen lächelnd: »Du irrst, Phönizier; ich weine vor Freude, nicht vor Schmerz, und gern hätt’ ich auch meinen zweiten Sohn verloren, wenn er gestorben wäre, wie mein Lysander.«
Der Israelit, entsetzt über diesen Ausspruch, der ihm frevelhaft und unnatürlich erschien, schüttelte nur mißbilligend den Kopf; die anwesenden Hellenen aber überschütteten den vielbeneideten Greis mit Glückwünschen. Aristomachus schien vor hoher Wonne um viele Jahre jünger geworden zu sein, und rief Rhodopis zu. »Wahrlich, Freundin; Dein Haus ist für mich ein gesegnetes, denn seitdem ich es betreten, ist dies die zweite Göttergabe, welche mir in ihm zu Theil wird!« »Und welches war die erste?« fragte die Greisin. »Ein günstiges Orakel.« »Du vergißt die dritte!« rief Phanes, »am heutigen Tage haben die Götter Dich auch Rhodopis kennen gelehrt. Aber was war es mit dem Orakel?« »Darf ich’s den Freunden mittheilen?« fragte der Delphier.
Aristomachus nickte bejahend, und Phryxus las zum zweitenmale die Antwort der Pythia:
»Wenn einst die reisige Schaar von schneeigen Bergen herabsteigt
Zu den Gefilden des Stroms, welcher die Ebene benetzt,
Führt Dich der zaudernde Kahn herab zu jenem Gefilde,
Welches dem irrenden Fuß heimischen Frieden gewährt.
Wenn einst die reisige Schaar von schneeigen Bergen herabsteigt,
Schenkt Dir die richtende Fünf, was sie Dir lange versagt!«
Kaum hatte Phryxus das letzte Wort gelesen, als Kallias der Athener in anmuthiger Bewegung aufsprang und ausrief: »Die vierte Gabe, das vierte Göttergeschenk sollst Du jetzo von mir in diesem Hause empfangen; wisse denn, daß ich meine seltsamste Neuigkeit bis zuletzt aufgehoben habe: Die Perser kommen nach Aegypten!«
Keiner der Gäste, außer dem Sybariten, blieb an seinem Platze, und Kallias konnte sich der vielen Fragen kaum erwehren. »Gemach, gemach, ihr Freunde,« rief er endlich; »laßt mich hintereinander erzählen, sonst werde ich niemals fertig! Eine große Gesandtschaft des Kambyses, jetzigen Großkönigs des allgewaltigen Persien, kein Kriegsheer, wie Du Phanes vermuthest, ist auf dem Wege hierher. Zu Samos erhielt ich die Nachricht, daß sie schon in Milet angekommen sind. In wenigen Tagen müssen sie hier eintreffen. Verwandte des Königs, ja auch der alte Krösus von Lydien sind unter ihnen; – wir werden seltsame Pracht zu sehen bekommen! Den Zweck ihrer Sendung kennt Niemand, doch ward vermuthet, der König Kambyses werde Amasis ein Bündniß antragen lassen; ja man wollte wissen, der Großkönig sei Willens, sich um die Tochter des Pharao zu bewerben.«
»Ein Bündniß?« fragte Phanes mit ungläubigem Achselzucken, »die Perser beherrschen jetzt schon die halbe Welt. Alle Großmächte in Asien haben sich ihrem Scepter unterworfen; nur Aegypten und das hellenische Mutterland blieben von dem Eroberer verschont.«
»Du vergißt das goldreiche Indien und die großen asiatischen Wandervölker,« entgegnete Kallias. »Du vergaßest ferner, daß ein so zusammengewürfeltes, aus siebenzig Völkerschaften verschiedener Zungen und Sitten bestehendes Reich fort und fort den Keim des Krieges in sich trägt, und sich vor auswärtigen Kämpfen vorzusehen hat, damit nicht, wenn die Hauptmasse des Heeres abwesend ist, einzelne Provinzen die erwünschte Gelegenheit zum Abfall ergreifen. Frage die Milesier, ob sie ruhig bleiben würden, wenn sie vernehmen sollten, die Macht ihrer Bedrücker habe in irgend einer Schlacht den Kürzeren gezogen?«
Theopompus, der Handelsherr von Milet, rief, den Redenden lebhaft unterbrechend: »Wenn die Perser in einem Kriege unterliegen, so haben sie hundert andere auf dem Halse, und meine Heimath wird sich nicht zuletzt gegen den geschwächten Zwingherrn erheben!«
»Mögen die Gesandten vorhaben was sie wollen,« fuhr Kallias fort, »ich bestehe auf meiner Nachricht, daß sie spätestens in drei Tagen hier sein werden.«
»Und somit wäre Dein Orakel erfüllt, glückseliger Aristomachus!« rief Rhodopis, »die reisige Schaar von den Bergen kann Niemand sein als die Perser. Wenn diese zu den Gestaden des Nils heranziehen, so soll sich der Sinn der richtenden Fünf, eurer Ephoren106, ändern, und man wird Dich, den Vater zweier olympischer Sieger, in die Heimath zurückberufen. – Fülle die Becher von Neuem, Knakias! Laßt uns diesen letzten Pokal den Manen des ruhmreichen Lysander spenden; dann aber mahn’ ich euch, wenn auch ungern, an den nahenden Morgen. Soll doch der Wirth, der seine Gäste liebt, die Tafel aufheben, wenn die Wogen der Freude am höchsten fluthen. Die angenehme, ungetrübte Erinnerung wird euch bald in dieses Haus zurückführen, während ihr es unlieber besuchen würdet, wenn ihr an Stunden der Abspannung gedenken müßtet, welche der Freude folgten.« Alle Gäste stimmten Rhodopis bei und Ibykus nannte sie eine echte Schülerin des Pythagoras, die festlich-freudige Erregung des Abends lobend.
Jeder bereitete sich zum Aufbruche. Auch der Sybarit, welcher um seine Rührung, die ihm höchst unbequem war, zu übertäuben, übermäßig viel getrunken hatte, erhob sich, von seinen herbeigerufenen Sklaven107 unterstützt, aus seiner bequemen Stellung, indem er von einem Bruche des Gastrechts faselte.
Als ihm Rhodopis beim Abschiede die Hand reichen wollte, rief er, vom Geiste des Weines übermannt: »Beim Herkules, Rhodopis, Du wirfst uns zum Hause hinaus, als wären wir lästige Gläubiger. Ich bin nicht gewohnt, so lange ich noch stehen kann, von einem Gastmahle zu weichen; noch weniger aber, mir