Die Rückkehr von Sherlock Holmes. Sir Arthur Conan Doyle

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Название Die Rückkehr von Sherlock Holmes
Автор произведения Sir Arthur Conan Doyle
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726755077



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eingetreten sein musste. — So lagen die Verhältnisse; sie wurden dadurch noch verwickelter, dass jeder ersichtliche Beweggrund zur Tat fehlte, denn, wie ich erwähnt habe, war der junge Adair ein Mann, der keinen Feind hatte, und ausserdem war noch nicht einmal der Versuch gemacht worden, Geld oder Wertgegenstände im Zimmer zu entwenden.

      Ich liess mir den Tatbestand häufiger durch den Kopf gehen und bemühte mich immer wieder, eine Erklärung zu finden, unter welche man alle diese verschiedenen Tatsachen zusammenreimen, und von der aus man einen Ausgangspunkt finden könnte, was nach dem Ausspruch meines armen Freundes die Vorbedingung jeder weiteren Nachforschung bilden musste: Ich machte jedoch, offen gestanden, nur sehr geringe Fortschritte in der Sache. Eines Abends wanderte ich durch die Parkstrasse und befand mich gegen sechs Uhr an der Ecke der Oxfordstrasse. Vor dem Hause, das ich mir ansehen wollte, war eine grosse Menschenmenge versammelt und richtete ihre Blicke auf ein bestimmtes Fenster desselben. Ein schlanker, hagerer Mann mit blauer Brille, in dem ich stark einen Geheimpolizisten vermutete, gab seine Ansicht über den Vorfall zum besten, während die übrigen um ihn herumstanden und seinen Ausführungen lauschten. Ich drängte mich möglichst nahe an den Sprecher heran, aber seine Ausführungen erschienen mir so unsinnig, dass ich bald verstimmt von dannen ging. Dabei stiess ich einen ältlichen Mann an, der hinter mir gestanden hatte, und eine Anzahl Bücher, die er unter dem Arm trug, fielen zu Boden. Ich half sie ihm schnell aufheben, erinnere mich aber trotzdem noch genau eines seltsamen Titels auf einem derselben: ,Der Ursprung der Baum-Verehrung.‘ Ich schloss daraus, dass der Mann irgend ein armer Bücherfreund wäre, der entweder gewerbsmässig oder aus Liebhaberei alte Druckwerke sammelte. Ich stammelte eine Entschuldigung; die Bücher, die ich unglücklicherweise so übel behandelt hatte, waren aber offenbar in den Augen ihres Eigentümers unschätzbare Wertobjekte, denn er knurrte nur ein paar unverständliche Worte und drehte mir verächtlich den Rücken zu; und ich sah seinen Buckel und den weissen Backenbart in der Menge verschwinden.

      Meine Wahrnehmungen in der Parkstrasse 427 waren wenig dazu angetan, in das dunkle Problem, das mich beschäftigte, Licht zu bringen. Das Haus war durch eine niedrige Mauer mit einem Zaun von der Strasse getrennt; beide zusammen konnten etwa fünf Fuss hoch sein. Es fiel also nicht besonders schwer, darüber hinweg in den Garten zu steigen, aber das Fenster war vollkommen unerreichbar: es führte weder eine Dachrinne noch sonst etwas hinauf, woran auch der gewandteste Kletterer hätte emporklimmen können. Ratloser als je zuvor, lenkte ich meine Schritte nach Kensington zurück. Ich hatte kaum fünf Minuten in meinem Arbeitszimmer gesessen, als das Dienstmädchen hereintrat und meldete, dass mich jemand zu sprechen wünsche. Zu meinem Erstaunen war es kein anderer als mein merkwürdiger alter Büchersammler. Er hatte ein scharfgeschnittenes, hageres Gesicht, von weissem Haar umrahmt, unter dem rechten Arm trug er seine kostbaren Bände, mindestens ein Dutzend an der Zahl.

      „Sie werden sich wundern, mich hier zu sehen, mein Herr,“ sagte er mit eigentümlicher, krächzender Stimme.

      Ich gab das ohne weiteres zu.

      „Nun,“ fuhr er fort, „als ich hinter Ihnen her humpelte und Sie in dieses Haus gehen sah, dachte ich als pflichtschuldiger Mann, du willst gleich mal diesen freundlichen Herrn aufsuchen und ihm sagen, dass, wenn du vorhin ein bisschen schroff gewesen bist, es nicht so gemeint war, und ihm für seine Liebenswürdigkeit, dass er die Bücher wieder aufgehoben hat, deinen Dank abstatten.“

      „Sie machen zuviel Aufhebens von dieser Kleinigkeit,“ antwortete ich ihm. „Darf ich vielleicht fragen, woher Sie mich kennen?“

      „Ich bin so frei, Ihnen zu sagen, dass ich Ihr Nachbar bin, mein kleiner Bücherladen liegt an der Ecke der Domstrasse, und es würde mir eine grosse Ehre sein, wenn Sie mich mal besuchten. Vielleicht sind Sie auch ein Liebhaber interessanter Bücher. Ich habe die ,Britischen Vögel‘, den ,Catullus‘ und den ,Heiligen Krieg‘, Werke, von denen jedes einzelne ein kostbarer Schatz ist. Mit fünf solchen Bänden würden Sie jenes leere Fach dort in Ihrem Bücherschrank gerade ausfüllen können. Es sieht so nicht hübsch aus, nicht wahr?“

      Ich drehte mich nach dem Bücherspind um. Als ich mich wieder zurückwandte, stand am Schreibtisch mir gegenüber mit lächelnder Miene Sherlock Holmes. Ich sprang auf, sah ihm ein paar Sekunden verwundert ins Gesicht, und bin dann allem Anschein nach zum ersten- und letztenmal in meinem Leben in Ohnmacht gefallen. Ich weiss nur noch so viel, dass mein Auge umnebelt wurde, und ich beim Erwachen meinen Kragen aufgeknöpft fand, und den brennenden Nachgeschmack von Branntwein auf den Lippen spürte. Holmes war über meinen Stuhl gebeugt und hielt das Fläschchen noch in der Hand.

      „Mein lieber Watson,“ erklang die wohlbekannte Stimme, „ich bitte dich tausendmal um Entschuldigung. Ich hatte keine Ahnung, dass du so nervenschwach geworden seist.“

      Ich ergriff seine Hand.

      „Holmes!“ rief ich. „Bist du’s wirklich? Ist’s möglich, dass du noch lebst? Ist’s möglich, dass du aus jenem fürchterlichen Abgrund herausgeklettert bist?“ 1

      „Einen Augenblick,“ sagte er. „Fühlst du dich auch tatsächlich kräftig genug, um meiner Erzählung folgen zu können? Ich habe dich durch mein überflüssiges dramatisches Auftreten ernstlich erschreckt.“

      „Ich bin wieder ganz auf dem Damm, aber wahrhaftig, Holmes, ich kann kaum meinen Augen trauen. Weiss Gott, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du — du in aller Welt — in meinem Studierzimmer stehen sollst!“ Ich erfasste wiederum den Aermel seines Rockes und fühlte den mageren sehnigen Arm hindurch. „Wirklich, du bist kein Geist,“ sagte ich. „Lieber Junge, ich freue mich über alle Massen, dich wiederzusehen. Setz’ dich und erzähl mir, wie du aus dem schrecklichen Abgrund lebend herausgekommen bist.“

      Er nahm mir gegenüber Platz und zündete sich mit der ihm eigenen Gemütsruhe eine Zigarre an. Den langen Gehrock des Buchhändlers hatte er anbehalten, dagegen die übrige Kostümierung, das weisse Haar, den Bart und auch die Bücher auf den Tisch gelegt. Er sah noch hagerer und scharfsinniger aus als ehedem, aber sein Adlergesicht war so leichenblass, als ob er in der letzten Zeit eine Krankheit durchgemacht hätte.

      „Ich bin froh, dass ich mich wieder ordentlich ausstrecken kann,“ begann er dann. „Für einen grossen Mann ist es kein Vergnügen, wenn er stundenlang seine Körperlänge um einen Fuss verkürzen muss. Im übrigen, mein Lieber, musst du mir zuerst sagen, ob du bei meiner Sache heute nacht mitwirken willst; es handelt sich um eine harte und gefährliche Arbeit. ES würde überhaupt am besten sein, wenn ich dir erst nach getaner Arbeit alles auseinandersetzte.

      „Ich bin äusserst gespannt und möchte es lieber jetzt gleich erfahren.“

      „Du willst also heute nacht mitkommen?“

      „Wann und wohin du willst.“

      „Du bist wahrhaftig noch der Alte. Ehe wir zu gehen brauchen, können wir einen kleinen Imbiss nehmen. Also, was den Abgrund betrifft, war es nicht allzu schwer, herauszukommen, aus dem einfachen Grunde, weil ich gar nie drin war.“

      „Du warst nie drin?“

      „Nein, Watson, ich war niemals drin. Mein Schreiben an dich beruhte zwar vollständig auf Wahrheit. Ich zweifelte selbst nicht im geringsten daran, dass ich bald aufgehoben sein würde, als ich in einiger Entfernung die verdächtige Gestalt des ehemaligen Professors Mariarty auftauchen sah. Ich las in seinen grauen Augen einen unabänderlichen Entschluss. Ich wechselte ein paar Worte mit ihm und erhielt die gütige Erlaubnis, dir jene kurze Notiz zukommen zu lassen, die du später gefunden hast. Ich legte sie samt Zigarettentasche und Spazierstock auf den schmalen Pfad und wanderte weiter, während mir Mariarty immer auf den Fersen folgte. Als ich am Ende des engen und steilen Weges angelangt war, blieb ich stehen und leistete ihm Widerstand. Da er keine Waffe bei sich hatte, stürzte er einfach auf mich los und umschlang mich mit seinen langen Armen. Er war sich bewusst, was für ihn auf dem Spiel stand, und versuchte mit aller Gewalt, an mir Rache zu nehmen. Wir gerieten zusammen an den Rand des Wasserfalls. Ich besitze jedoch einige Kenntnis von dem Baritsu, dem japanischen Ringen, welche mir schon häufiger zu statten gekommen ist. Ich riss mich los und versetzte ihm einen Stoss, sodass er einen Augenblick taumelte und mit beiden Händen in der Luft herumfuchtelte; er verlor aber trotz aller Anstrengungen das Gleichgewicht