Willkommen in Wien. Rainer Metzger

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Название Willkommen in Wien
Автор произведения Rainer Metzger
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783990406243



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meinte um 1780, der Zeitraum der Adoptivkaiser sei „the most happy and prosperous“ von allen gewesen, die es jemals gegeben habe. Mit Marc Aurel hat er sich erledigt.

      Anders als Gladiator, Ridley Scotts Monumentalfilm von 2000, es darstellt, findet Marc Aurel sein Ende nicht in einem Zelt in germanischer Wüstenei, und es ist auch nicht ein missratener, schon vorab dem Cäsarenwahn verfallener Nachfolger, der bei diesem Ende nachhilft. Mit Marc Aurels Jahren verbindet man die erste bekannte Pandemie, eine Pest, wie auch immer ihre Symptome waren, und eine Erklärung für seinen Tod läge in Spätfolgen der Seuche. Und er stirbt im Legionslager, unter soweit wie möglich splendiden Umständen im Gebäude des Legionskommandanten, dem Legatenpalast. Noch heute lässt sich die Topografie dieses Lagers in der Wiener Innenstadt nachverfolgen. Annähernd rechteckig zogen sich seine Mauern über Naglergasse und Graben zu Stephansplatz und Rotenturmstraße über Schwedenplatz und Gonzagagasse den Tiefen Graben entlang. Das zentrale Straßenkreuz im Innern, auf Lateinisch Cardo und Decumanus, hätten die Achsen Tuchlauben/Marc-Aurel-Straße bzw. Hoher Markt/Wipplingerstraße markiert. Marc Aurels Sterben hätte sich dann im Bereich des heutigen Judenplatzes abgespielt.

      Relikt aus dem römischen Wien: der Bronzefuß einer überlebensgroßen Statue, entdeckt um 1800 beim Bau des Wiener Neustädter Kanals. Die Statue stand vermutlich auf dem Forum der Zivilstadt von Vindobona.

      Doch war Marc Aurel nicht nur Kaiser. Er war Denker. Als solcher hat er ein epochemachendes Stück philosophischen Räsonnierens hinterlassen. In Griechisch, nach wie vor der Gelehrtensprache, verfasst, sind die zwölf Bücher gerichtet „an sich selbst“, ton eis heauton, heute entsprechend bekannt als Selbstbetrachtungen, eine Sammlung von 487 kurzen Texten, Aphorismen gleich. Notgedrungen sind viele von ihnen unterwegs entstanden, gleichsam zur Vergewisserung, wenn draußen, im Feldzug, alles drunter und drüber geht. Zwei Vermerke im Text verweisen auf Orte ihres Entstehens, und dies sind die einschlägigen: Am Ende des ersten Buchs findet sich die Eintragung „Geschrieben bei den Quaden an der Gran“, einem Donau-Nebenfluss (Hron) in der heutigen Slowakei; und über dem dritten Buch steht die Ortsangabe „Geschrieben in Carnuntum“, dem Vindobona benachbarten Legionslager donauabwärts, das bis heute Österreichs Erinnerung an die Römer konserviert. Auch im Fall dieser philosophischen Kostbarkeit, die erst im 16. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, ist Demandt sicher: „Das Handexemplar wurde beim Tode des Kaisers in Wien gefunden. Vielleicht hat es bereits Commodus, der es gewiss nicht gelesen hat, kopieren und publizieren lassen.“

      Vielleicht also hat Marc Aurel mit seiner Philosophie der Stadt, die ihn sterben sah, noch ein Vermächtnis hinterlassen. Die sprichwörtliche und ganz spezielle Wiener Gemütlichkeit legte so ihre stoische Wurzel frei.

      Der Nachfolger hat es nicht gelesen. Was hätte er mit den buchstäblich stoischen Weisheiten, die Marc Aurel anruft, anfangen sollen: mit den Qualitäten der Apatheia, der Autarkeia oder der Ataraxia, die allesamt Maximen meinen, dank deren man sich zurücknimmt aus der Welt, die Unerschütterlichkeit bedeuten, Konzentration auf sich selbst, ein gewisses Geht-mich-nichts-an oder Was-will-man-machen. Doch passt die Lehre von der Gelassenheit durchaus in einen Fürstenspiegel. So übt der Imperator, der als vorbildhaft in die Geschichte eingegangen ist, sich doch auch im Spagat zwischen Zurückhalten und Zurückschlagen – ein Imperator, der genauso Feldherr war, der den Christen die härtesten Verfolgungen seit Nero bescherte (so hat es Justin der Märtyrer, der Patron der Philosophen, dank Marc Aurel zu Ruhm gebracht) und der dem Reich eben auch einen Commodus hinterließ.

      Entsprechend bringt Marc Aurel in Carnuntum Folgendes aufs Pergament: „Es ist also eine winzige Zeitspanne, die jeder lebt, und winzig ist auch das Fleckchen Erde, wo er lebt. Winzig ist auch selbst der längste Nachruhm, und dieser beruht nur auf der Erinnerung armseliger Menschen, die sehr bald sterben werden und nicht einmal sich selbst kennen.“ (III,10). Ein solches Memento Mori ist in der Gegend, wo es formuliert wurde, womöglich irgendwann ein stehender Begriff, und das Alles ist hin liegt schon auf der Zunge. Oder diese Sentenz: „Eine Spinne ist stolz, wenn sie eine Fliege gefangen hat, ein anderer, wenn er einen Hasen … ein anderer, wenn er Bären, wieder einen anderer, wenn er Sarmaten gefangen hat. Sind die nicht alle Räuber, wenn du ihre Absichten prüfst?“ (X,10). Vielleicht also hat Marc Aurel mit seiner Philosophie der Stadt, die ihn sterben sah, noch ein Vermächtnis hinterlassen. Die sprichwörtliche und ganz spezielle Wiener Gemütlichkeit legte so ihre stoische Wurzel frei.

      Diese Gemütlichkeit meint es ja nicht nur gemütlich. Sie fühlt sich wohl beim Heurigen, aber sie schätzt auch sehr, wenn sie dabei zusehen kann, wie jemand aufs Maul fällt – zusehen, um derlei Scheitern dann im nächsten Akt in eine eigene Philosophie umzumünzen. Stoizismus und Stupidität. Niemand legt es in seiner Mischung aus Abgründig- und Ahnungslosigkeit besser an den Tag als Helmut Qualtingers Herr Karl: „Aber bitte – es geht mi nix an. Ich mache meine Arbeit, ich kümmere mich nicht um Politik, ich schaue nur zu und behalte es für mich.“ Peter Melichar, der Historiker, hat es mit dem Blick des Vorarlbergers auf die Haupt- und Hauptstadtallüren Wiens so beschrieben: „Eine merkwürdige Blindheit, Kälte oder Unerschütterlichkeit des Gemütes, die auch immer wieder als Gemütsruhe bezeichnet wird, ermöglicht erst den Übergang zur Gemütlichkeit. Es ist eine spezifische Abstraktionsleistung, die von allen anderen, die für die eigene Befindlichkeit gerade nicht von Bedeutung sind, absieht und sie ohne böse Absicht, sondern schlicht aus Eigennutz oder Egoismus gewissermaßen ignoriert.“

      Karl Kraus hat das römische Erbe im Eingangssatz auf seine Art komprimiert. Technische Großartigkeiten gehen mit jenen der Mentalität einher und so sind Straßenspülung und Gemütlichkeit dann doch Begleiterscheinungen. Das allerletzte Wort, das Kraus in der Fackel zu Papier brachte, es war im Jahr 1935, ist „Trottel“. Das letzte Wort in den Selbstbetrachtungen Marc Aurels ist „heiter“. In der Kombination von beiden hat die Wiener Seele ihr Refugium.

      ENTDECKEN

       Römermuseum

      Hoher Markt 3

      1010 Wien

      Der Beginn: Das Legionslager Vindobona, Außenposten des Imperium Romanum an der Donau.

      DER SCHÖNE LEICH

      WALTHER VON DER VOGELWEIDE

      Ich saz ûf einem steine, dô dáhte ich bein mit beine, dar ûf sazte ích mîn ellenbogen …“: Das ist die vielleicht berühmteste Zeile von Meister Walther, der seine Herkunft mit einer nicht weiter lokalisierbaren Vogelweide verbindet. Die Zeile ist nicht so berühmt wie ihr Dichter, dessen Name sich so geländegängig gibt wie das Mittelhochdeutsch seiner Lyrik unwegsam. Wie er da auf einem Stein sitzt, die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf auf den Arm gestützt, ist er dargestellt worden, als es für die Große Heidelberger Liederhandschrift, zusammengestellt um 1330 und damit ein Jahrhundert nach seinem Tod, darum ging, ein Autorenbild von ihm zu gestalten. Der Codex Manesse, so der landläufige Begriff für die Anthologie des Minnesangs deutscher Zunge, liefert die ergiebigste Quelle für Walthers Lieder und Sprüche: 138 Liedermacher listet sie auf, Walther ist mit fast 450 Einträgen der produktivste.

      Die Zeile, in der Walther sitzend vor sich hin sinniert, ist in Wien zustande gekommen – womöglich in Wien, denn vieles aus dem Mittelalter muss Spekulation bleiben. Mit Walthers Sitzgelegenheit beginnen gleichsam als Einstieg die drei Strophen des Reichstons, in dem sich der Dichter mit dem Zustand der Welt ganz im Allgemeinen auseinandersetzt. Ton nennt man derlei Zusammenstellungen von dichterischen Sentenzen, womit der Bezug zur Musik hinlänglich erfasst ist. Wort und wise gehören zusammen, ihre Bedeutung erschließt sich allein im Vortrag, im Auftritt, in der Performance. Wenn es für die kulturellen