Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße

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Название Hannover sehen und sterben
Автор произведения Thorsten Sueße
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783827183644



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muss alles über ihn herausfinden. Was er für ein Typ ist. Wo seine Schwächen liegen.

      Im Internet fand er jede Menge Informationen über den Schriftsteller.

      Ich verfluche dich! Ich will, dass dich alle verdammten Krankheiten dieser Welt dahinraffen und du elendig verreckst!

      Paul hatte jetzt immer öfter Gaylord vor Augen, den Schlafwandler, die Hauptfigur seines ersten E-Books. Gaylord, der Name war gallischen Ursprungs und bedeutete stark und kräftig, überwand seine eigene Schwäche, um die Gegner seiner Familie zu besiegen.

      In meiner Geschichte war alles so einfach.

      Der Roman endete blutig, aber die Familie war gerettet.

      Wenn doch einiges davon Realität würde!

      Gaylord war als Junge alles andere als stark. Seine Eigenschaft zu schlafwandeln musste er um jeden Preis verheimlichen. Niemand durfte erfahren, dass er nachts unkontrollierbare Handlungen vollzog, die andere lächerlich fanden. Gaylords Freund Lorek war als Schlafwandler von der Gruppe der Herrschenden enttarnt worden und hatte ein schlimmes Ende genommen.

      Ich bin Gaylord. Ich spiele Sophie heile Welt vor, verheimliche ihr meine Spontanprüfungen.

      Gaylord übernachtete nicht bei Bekannten, wollte keine mehrtägige Konfirmandenfreizeit oder Klassenfahrten mitmachen. Sich der Lächerlichkeit preiszugeben war seine größte Angst. Deshalb ging er lange Zeit keine Beziehung zu einem Mädchen ein, litt unter dem Teufelskreis, sich selbst aus der Gemeinschaft auszuschließen.

      Bei mir war es nicht ganz so schlimm. Aber ich kenne das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören.

      Gleich zu Beginn der Mystery-Story vollzogen Gaylord und Lorek einen Austausch ihrer geistigen Energie, wurden zu Brüdern im Geiste. Auch nachdem Lorek spurlos verschwunden war, blieb sein Geist mit dem von Gaylord, der inzwischen zum Mann geworden war, in Verbindung. Als die Herrschenden ein Mitglied seiner Familie bedrohten, verfluchte Gaylord die Aggressoren. Mit dem Fluch vermochte er seine Gegner zu schwächen. Er besorgte sich eine Pistole mit Schalldämpfer und versteckte sie in seinem Garten, blendete diese Handlungen jedoch vollständig aus. Während er in der Nacht schlafwandelte, nahm er die Pistole an sich, suchte damit seinen Gegner auf und tötete ihn. Gaylord verhinderte, dass der Fluch vom Körper des Toten auf unbeteiligte Personen überging, indem er zur Neutralisation ein rot angemaltes Kreuz auf dem Leichnam ablegte. Am nächsten Morgen hatte er daran keinerlei Erinnerung. Nach und nach schaltete Gaylord einen Feind nach dem anderen aus, ohne bewusst Schuld auf sich zu laden.

      Philipp ist auch so ein Feind.

      Den Roman hatte Paul damals wie im Rausch geschrieben. Ausgangspunkt war eine wahre Geschichte, die er im Internet gelesen hatte. Kenneth Parks, ein 23-jähriger kanadischer Schlafwandler, griff während des Schlafwandelns seinen Schwiegervater an und tötete seine flüchtende Schwiegermutter mit einem Messer. Dazu musste Parks zuvor eine Strecke von dreiundzwanzig Kilometern mit dem Auto zurücklegen und mit einem Brecheisen in das Haus seiner Schwiegereltern eindringen. Ein medizinisches Gutachten bewies, dass Parks zur Tatzeit geschlafwandelt hatte und damit unzurechnungsfähig war. Zunächst musste er fünf Jahre in Haft, aber ein Gericht sprach ihn später aufgrund des Gutachtens frei. Im Internet zweifelten verschiedene Autoren daran, dass ein Mensch im Zustand des Schlafwandelns in der Lage sein sollte, einen anderen Menschen zu töten. Paul war sicher, dass so etwas im Extremfall möglich war.

      Die Geschichte von Gaylord hatte er sich nicht mühevoll ausdenken müssen, sie war einfach da. Paul war selbst vollständig in das Geschehen eingetaucht. Die Gegenstände, die seine Figuren im Roman benutzten, wollte er ebenfalls in der Hand halten, um authentisch beschreiben zu können, wie sie sich anfühlten. Er hatte sich eine Sturmmaske, ein Brecheisen sowie ein Bowie-Messer besorgt. Vielleicht sogar eine scharfe Pistole. Da waren diese Bilder in seinem Kopf. Wie er in einem dunklen Hinterhof für 1200 Euro von einem Osteuropäer eine Selbstladepistole mit Schalldämpfer kaufte, die er anschließend irgendwo auf dem Grundstück seiner Eltern versteckte – so wie Gaylord. Hatte er das wirklich gemacht?

      Paul wollte vor zwei Jahren unbedingt eine Pistole besitzen. Es war der Reiz des Verbotenen. Wie fühlte sich das an, eine scharfe Waffe bei sich zu haben? Am besten mit einem passenden Schalldämpfer dazu. Der Schalldämpfer diente am Ende nur dem Ziel, mit der Pistole zu töten. Natürlich war ihm klar, dass der brave Paul niemals an eine echte Pistole herangekommen wäre.

      Aber sein dunkles Ich war voller Wut, hatte dabei Kontakt zu Menschen, die der brave Paul nie gewagt hätte anzusprechen. Da gab es diesen Szymon, einen Kerl Mitte zwanzig, der sich oft im Rotlichtviertel von Hannover rumtrieb. „Gib mir Geld, ich besorg dir alles“, war sein Spruch. – „Auch eine Pistole mit Schalldämpfer?“, wollte Paul damals wissen. – „Hast du ein Wunschmodell?“, war Szymons Antwort.

      Zu seinem achtzehnten Geburtstag hatte Paul von seinem Vater eine größere Summe Geld erhalten. Davon hatte Paul 1200 Euro abgehoben. Und dann war genau diese Summe weg, spurlos verschwunden. Sein dunkles Ich musste das Geld ausgegeben haben. Und für was? Irgendwann war Paul der Gedanke gekommen, dass Szymon ihm dafür eine Selbstladepistole mit Schalldämpfer und Munition beschafft hatte. Das Ding lag jetzt in einem geheimen Gartenversteck, das nur Pauls anderes Ich kannte. Für den braven Paul blieb ein Kribbeln, selbst wenn er keinen direkten Zugriff auf die Pistole hatte. Szymon war inzwischen wie vom Erdboden verschluckt. Oder hatte es den Typen nie gegeben? Da existierten Bilder, wie jemand in einer leeren Fabrikhalle mit der Pistole auf Bierdosen schoss.

      Damals lief im Fernsehen ein Actionfilm mit genau dieser Szene. Hatte er nur geträumt, selbst in die gleiche Situation geraten zu sein? Im Internet hatte er sich damals exakt darüber informiert, was eine Waffe kostete und wie man an sie herankam. Er fand sich mehrfach im Rotlichtviertel wieder, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war. Verschiedene Typen hatten ihn angequatscht, ob sie was für ihn tun könnten. Die Atmosphäre glich der in seinem Roman. Gaylords Kampf gegen die Herrschenden.

      Sein Magen knurrte. Paul verspürte Hunger, hatte den ganzen Vormittag weder gegessen noch getrunken. Er sah auf den Monitor, geöffnet war die Website der Firma Heckler & Koch, dem bedeutendsten deutschen Hersteller von Handfeuerwaffen, zu dessen Sortiment auch Pistolen gehörten. Die Erinnerung, dass er diese Seite aufgerufen hatte, war komplett weg. Im Verlauf des Internet-Browsers konnte er feststellen, dass er sich zuvor über verschiedene Tötungsarten informiert hatte. Auch daran hatte er keine Erinnerung.

      Wem seine Recherche gegolten hatte, stand außer Frage.

      Der Druck macht mich fertig!

      Paul aß und trank eine Kleinigkeit, betrat anschließend den Bungalow-Teil seiner Eltern. Ramona war inzwischen wieder zu Hause. Von ihrer Rückkehr hatte er überhaupt nichts mitbekommen. Sie war mit Bodo in dem Teil des Gartens, der demnächst von Ammoneit umgestaltet wurde.

      Solange sie da draußen sind, ist die Gelegenheit günstig.

      Paul wusste, wo sich die ausgedruckte Liste mit allen bekannten Kontaktdaten der ehemaligen Schulkameraden seines Vaters befand. Schnell fotografierte er die Liste mit seinem Smartphone.

      Ich muss zu seinem Haus. Dann kann ich ihn zur Rede stellen, ihm klarmachen, dass er zukünftig die Finger von Mama lässt.

      Paul zögerte. Stellte seinen Plan wieder infrage.

      Das verschlechtert nur die Situation.

      Er wog ab, was passieren könnte.

      Was erwarte ich? Dass er sagt: ‚Ja, ich habe mit deiner Mutter geschlafen, tut mir leid, ich beende sofort die Beziehung und sag auch deinem Vater nichts.‘ Wohl kaum.

      Er biss die Zähne zusammen.

      Philipp wird alles abstreiten. Und für mich und die Familie ist es beschämend … wirklich beschämend, wenn ich ihm gegenüber einräume, dass ich Mama zutraue, dass sie sich auf ihn einlässt. Am Ende erfährt nur Papa auf irgendeine Weise, dass ich den Kerl bedroht habe. Und wird dadurch erst auf das Ganze aufmerksam.

      Er verwarf den Plan, sich den Schriftsteller persönlich vorzuknöpfen.

      Trotzdem würde er dorthin fahren.