Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße

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Название Hannover sehen und sterben
Автор произведения Thorsten Sueße
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783827183644



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hatte versucht, sich durch das Treffen mit Sophie abzulenken. Aber es klappte nicht. Philipp Rathing ging ihm nicht aus dem Kopf.

      „Nein, mit mir ist alles okay“, verleugnete er seine innere Zerrissenheit. Schwierigkeiten innerhalb der Familie wurden mit Außenstehenden, zu denen Sophie eindeutig gehörte, grundsätzlich nicht besprochen.

      Gegen Abend traf er wieder zu Hause ein. Mit seinem silbernen VW up! hatte er Sophie nach Hause gefahren. Jetzt hielt er vor dem geschlossenen Tor zur Hauseinfahrt, das er mithilfe seiner Fernbedienung öffnete. Als er auf das Grundstück fuhr, schweifte sein Blick über den Bungalow. Alle Außenrollläden waren unten, sie wurden bei eingetretener Dunkelheit automatisch heruntergefahren. Das Haus war durch eine professionelle mechanische Sicherung von Türen und Fenstern gut gegen Einbruch geschützt. Zusätzlich hatte Bodo schon vor vielen Jahren eine Alarmanlage zur Außenhautüberwachung installieren lassen. Schon der Versuch, von außen Fenster oder Türen aufzuhebeln, löste das Schrillen einer Alarmsirene und die Benachrichtigung eines Sicherheitsdienstes aus. Das Haupthaus und die Einliegerwohnung verfügten jeweils über ein separates Alarmsystem, welches unabhängig voneinander scharf gestellt werden konnte. Aber die gute Sicherheitstechnik hatte nicht verhindern können, dass Philipp Rathing in das Leben der Sterns eingebrochen war …

      Paul ging ins Wohnzimmer seiner Eltern. Er wollte mit Ramona sprechen. Aber die war nicht da. Stattdessen traf er auf Bodo, der sich ein Brot schmierte.

      „Wo ist Mama?“

      „Mit Mareike bei einem Kneipenkonzert in Celle. Wird spät werden, deshalb übernachtet sie dort. Morgen Mittag ist sie wieder zurück.“

      Mareike war eine langjährige Freundin von Ramona. Hier in Isernhagen-Süd hatten sie sich schon lange nicht mehr getroffen, vielleicht, weil Bodo und Mareike sich nicht mochten. Ramona besuchte ihre Freundin ein-, zweimal im Jahr und übernachtete dann meistens bei ihr. Was problemlos ging, weil Mareike geschieden war und allein lebte.

      Eine Feuerwelle schoss durch Pauls Körper, der brennende Schmerz setzte schlagartig ein. Zeitgleich tauchten Bilder von Philipp auf, der eine Frau umarmte und sich in ihrem Hals verbiss.

      Es ist Mama, die er umarmt. Ich kann es sehen. Es passiert … jetzt! Sie ist nicht in Celle!

      Bodo saß ruhig am Esstisch, als wäre alles in Ordnung.

      Ahnt er wirklich nichts?

      Ein einziges Mal, vor zehn Jahren, hatte Bodo herausbekommen, dass seine Frau etwas mit einem anderen Mann hatte. Pauls Erinnerung daran ließ augenblicklich Panik aufkommen. Bodo war damals komplett ausgerastet und hatte Ramona geschlagen. Pauls Mutter hatte es widerstandslos über sich ergehen lassen, als wäre die Strafe angemessen.

      Paul hatte sich öfters gefragt, ob sein Vater beide Augen verschloss … um seine Familie davor zu schützen, damit er nicht etwas sah, auf das er womöglich mit unkontrollierter Wut reagierte.

      Gegen die Installation von Videokameras auf dem Grundstück hatte sich Ramona immer erfolgreich gewehrt. Mit der Begründung, dass Einbrecher dadurch nur angelockt würden. Hatte sich Bodo nie gefragt, ob dahinter vielleicht noch andere Beweggründe eine Rolle spielten? Erhielt Mutter zu Hause Besuch, während Bodo auf Geschäftsreise, Noah in Göttingen und Paul auf Klassenfahrt war? Oma Ilse hätte davon, als sie noch im Anbau wohnte, zuletzt ohnehin nichts mitbekommen.

      In zwei Wochen ist Mama allein zu einem Meditations­wochenende im Kloster Wennigsen angemeldet. Verbringt sie die Zeit wirklich im Kloster – und allein?

      Paul betrat seine Einliegerwohnung und schloss hinter sich die Tür. Er versuchte mit den anflutenden Gefühlen klarzukommen. Da waren Angst, Verzweiflung … und Hass. Er schaltete die Alarmanlage scharf und ging ins Bett.

      Im Zeitraffer spulten die Bilder einer Familie ab, die zwischendurch Angriffen verschiedener Männer aus­gesetzt war. Die Männer kannte er nicht. Bis auf Philipp Rathing.

      Irgendwann weckte ihn ein höllischer Lärm. Die Alarmanlage schrillte. Er blickte irritiert an sich herunter. Er lag nicht im Bett, sondern stand angezogen im Flur vor der Haustür der Einliegerwohnung.

      Die Situation war klar, auch wenn er sich an nichts erinnerte. Schließlich kannte er sich selbst nur zu genau. Er hatte versucht, das alarmgesicherte Haus zu verlassen.

      Nach längerer Zeit war er wieder geschlafwandelt.

      Kapitel 14

      In den letzten sieben Tagen hatte Philipp ein wohliges Kribbeln gespürt, das er die letzten Jahre vermisst hatte. Über Ramonas verlockenden Andeutungen lag der Hauch des Verruchten, was Philipp reizte.

      Momentan musste er sich nicht mit der pünktlichen Fertigstellung eines Manuskripts beschäftigen. Er war ungebunden und hatte Zeit, die angenehmen Seiten des Lebens zu genießen. Gestern, am Freitag, bei seiner Stippvisite in Isernhagen-Süd, hatte Ramona ihm ohne Umschweife den Vorschlag für das heutige Treffen gemacht.

      Er hatte Bedenken geäußert, wegen Bodo. Zwischen Bodo und ihm war zwar jahrelang Sendepause gewesen. Aber früher hatten sie in der Schule zusammen Handball gespielt und waren Kumpel in der ange­sagtesten Clique gewesen. Jetzt hatte Bodo ihn vertrauensselig in sein Haus eingeladen. Es war nicht Philipps Art, einen ehemaligen Schulfreund zu hintergehen.

      „Was wir machen, ist okay. Es wird passieren, und keiner wird verletzt, insbesondere nicht Bodo“, hatte Ramona mit eindringlicher Stimme gesagt. „Verlass dich auf mich.“

      Ramona hatte von einem „stillen Abkommen“ mit Bodo gesprochen, bei dem jeder dem anderen die Zufriedenstellung seiner persönlichen Bedürfnisse zugestand. Dabei hatte sie Philipp angeguckt, als würde sie über die selbstverständlichste Sache der Welt reden. Mit dem Nachsatz: „Allerdings gibt es eine Spielregel, die zwingend einzuhalten ist: absolute Diskretion.“

      Schließlich hatte Philipp eingewilligt. Ramona hatte ihm die wichtigsten Informationen gegeben, sich aber insgesamt bedeckt gehalten, was genau Philipp den Abend und die Nacht erwarten würde.

      Er verließ am späten Nachmittag, eine Umhängetasche mit den notwendigsten Utensilien über der Schulter, zu Fuß sein Grundstück in Anderten und ging durch das Wohngebiet einige Straßen weiter, wo er am vereinbarten Treffpunkt stehen blieb. Dort erschien kurze Zeit später ein schwarzer B-Klasse-Mercedes, in dem Ramona am Steuer saß. Philipp stieg an der Beifahrerseite ein.

      Sie begrüßte ihn lächelnd und fragte: „Hast du ein eingeschaltetes Handy dabei?“

      Er zuckte mit den Schultern: „Klar.“

      „Mach es bitte ganz aus, wie ich. Unseren heutigen Ausflug möchte ich vollständig ungestört genießen.“

      Philipp kam ihrem Wunsch nach. Momentan gab es für ihn eh keinen Grund, dauerhaft empfangsbereit zu sein. Es war nervig, seiner Ex-Lebenspartnerin Melanie zu erklären, warum er mal wieder nicht an sein eingeschaltetes Handy gegangen war.

      Bin gespannt, was es zu genießen gibt.

      Nachdem er sein Handy deaktiviert hatte, fuhr Ramona los.

      Ein bisschen wie in einem Spionage-Film. Die attraktive Undurchschaubare bringt den Agenten an einen geheimen Ort. Nun ja, einmal James Bond sein … mit der Lizenz zum Flachlegen der Hauptdarstellerin.

      „Jetzt geht’s also nach Mardorf?“ Seine Frage war rein rhetorisch und diente als Auftakt, mehr Infos von ihr über ihren Zielort zu erhalten.

      Mardorf, ein Ortsteil von Neustadt, lag direkt am Ufer des Steinhuder Meers, dem größten See Nordwestdeutschlands, und war ein beliebter anerkannter Erholungsort. Die Sterns besaßen dort ein Ferienhaus, außerdem hatte Bodo in Mardorf sein Segelboot stationiert, weshalb sich Ramona und er meistens in der warmen Jahreshälfte dort aufhielten.

      Philipp schaute vom Beifahrersitz immer wieder Ramona an. Bisher waren ihre Äußerungen über den bevorstehenden Abend vielsagende Andeutungen gewesen, die er als eindeutig zweideutig interpretiert hatte. Je näher sie ihrem Zielort kamen, desto mehr kamen ihm Zweifel, ob er wirklich alles richtig verstanden hatte.

      Will