Camel Travel. Volha Hapeyeva

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Название Camel Travel
Автор произведения Volha Hapeyeva
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783990590829



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mir beibringen, und das tat er auch. Wir trainierten an Salzgurken mit Honig, einem gastronomischen Oxymoron, aber ich fand es toll. Dsjadulja dachte sich häufig solche Sachen aus und lachte immer, wenn er mir von seinen Kreationen erzählte. Einmal tischte er mir selbstgemachtes Halwa auf. Jeden Herbst wuchsen im Garten viele Kürbisse, die Kerne wurden aufgehoben und getrocknet. An den Winterabenden enthülste Dsjadulja dann die getrockneten Kerne und drehte sie durch die Kaffeemühle, das ergab so ein Mehl, das mit Honig vermengt sehr gut schmeckte, wie Halwa.

      »Hier, für dich«, sagte er und bröckelte mir den Großteil seiner Vorräte hin, »da hast du in der Stadt auch mal was Gutes.«

      Der Schnellkurs in Sachen Etikette bei Tisch war erfolgreich absolviert, und Dsjadulja konnte beruhigt sein: Seine Enkelin würde den Ruf der Lehrerfamilie aus dem belarusischen Dorf nicht ruinieren.

      Kapitel 3 Sommerlager

      Neben den üblichen drei Sommermonaten bei Babulja mit Tanten, Cousins und Cousine gab es einen Sommer, der sich mir tief eingeprägt hat. Ein Sommer, bei dem gedrillt wurde, dass Friedrich der Große oder Kaiser Franz Joseph vor Neid erblasst wären. Aber noch ist Herbst, und in unserem Kindergarten schaut so eine Tante vorbei. Sie lässt uns die Beine heben, links, rechts, zur Seite, nach vorn, lässt uns ins Hohlkreuz gehen und verbiegt uns wie Gummipuppen. Weil ich mich gut verbiegen und in die Länge ziehen lasse, erkundigt sie sich nach meinem Namen, notiert ihn und sagt, ich solle nächsten Donnerstag mit meinen Eltern zum Unterricht kommen. So landete ich bei der Rhythmischen Gymnastik.

      Tage und Wochen zogen sich hin unter der Losung »Dehnung jeden Augenblick«. Das bedeutete, ob ich nun fernsah, Hausaufgaben machte, las oder einfach herumlag und mich ausruhte – es durfte keine Zeit vergeudet werden. Trickfilme konnte man auch im Spagat anschauen, lesen ging auch im Seitspagat (wenn die Beine seitlich abgespreizt werden), und wenn Bettzeit war, konnte man bis zum Einschlafen im Bett noch die Birke machen (Beine in die Höhe gestreckt, die Hände stützen den Po).

      Obwohl ich ihn ganz gut hinbekam, mochte ich diesen Seitspagat nicht. Ich hatte die fixe Idee, die Knochen, Sehnen oder was immer Beine und Körper zusammenhält, könnten reißen, oder nicht einmal das, jemand könnte sie anschneiden und zwar am besten in dem Augenblick, wenn du im Spagat bist, und dann hättest du nur noch Marionettenbeine, die herumschlenkern und deinem Willen nicht mehr gehorchen. Den Linksspagat mochte ich auch nicht, wahrscheinlich waren die Bänder links bei mir nicht so elastisch wie rechts. »Guttapercha«, dieses Wort ist für alle russischsprachigen oder postsowjetischen Menschen untrennbar mit dem Jungen aus diesem Material verbunden – Dmitri Grigorowitsch und seiner gleichnamigen Novelle* beziehungsweise der Verfilmung sei Dank. In meinem kindlichen Bewusstsein hatte Guttapercha nichts mit Elastizität und Beweglichkeit zu tun. Ich hatte diesem Wort eine eigene Bedeutung gegeben, nämlich »jemand, der sehr schön und gut singen kann, wie eine Nachtigall«. Woher diese Assoziation kam, weiß ich nicht, aber dasselbe passierte mit dem Wort »pigaliza«. Es stand bei mir nicht für eine unscheinbare, kurzgewachsene Person, sondern für eine ausgesprochen eingebildete, hochmütige Frau, die sich besonders modisch kleidete (aus unerfindlichen Gründen in der Mode der 50er- und 60er-Jahre), mit Hut und spitzer Nase, ein Flittchen. Bis ich als Erwachsene anfing, Thesauri statt Belletristik zu lesen, trug ich meinen eigenen Wortschatz mit einer aus dunklen Quellen geschöpften Semantik mit mir herum.

      Wenn du sechs Jahre alt bist und dir ein Sommer im Sportlager bevorsteht, überfällt dich eine unerklärliche Einsamkeit und die Schuldfrage: Wofür?

      Wecken, bei ungemachtem Bett ab ins Stadion, selbstständig die Beine über den Kopf reißen, Beine über den Kopf reißen mithilfe deiner Kameradinnen, auf der Bank liegen, während deine Freundinnen dein eines Bein festhalten und die anderen dir das andere in Richtung Ohr ziehen, dann Stadion und hundertmal im Kreis. Woran ich mich absolut nicht mehr erinnern kann, ist der Speisesaal. Ich nehme an, wir bekamen trotz allem zu essen (obwohl insgesamt eher eine KZ-Atmosphäre herrschte), aber den Konsum von Nahrungsmitteln erinnere ich nicht. Als Einziges fallen mir noch die selbstgepflückten Heidelbeeren ein, die eine junge Trainerin ihrem kleinen Sohn Beere für Beere verabreichte, während wir im Stadion unsere Runden abrissen. Jeden Tag hatten wir zehn Kilometer zu laufen. Und ich lief. Ich laufe gerne, obwohl man mir wie jedem anständigen Kind in der dritten Klasse die Diagnose Skoliose verpasst und mich vom Laufen und Springen freigestellt hatte. Damals gehorchte ich noch allen: Mama, Babulja, den Tanten, den Lehrern, den Ärzten, deshalb trug ich den Bescheid brav in die Schule. Aber dann musste ich anstelle des Schulsports zum Therapiesport in die Poliklinik, und das war nun so gar nicht mein Fall. Erstens, weil die Schule nur fünf Minuten weg war, ich zur Poliklinik aber mehrere Haltestellen mit dem Trolleybus fahren musste. Zweitens, weil die Übungen, die dort geboten wurden, für mich (einen Menschen mit Sportlagererfahrung) der blanke Hohn waren, eine Beleidigung für meine physischen Möglichkeiten: auf den Zehenspitzen laufen, Arme auf dem Rücken kreuzen, Schulterblätter zusammenführen – das war wie das kleine Einmaleins für einen Mathematikprofessor. Angenehm war eigentlich nur der Aufenthalt im Massagezimmer, aber auch das nur mit Einschränkungen, es gab da nämlich Stellen auf dem Rücken, deren Berührung der blanke Horror war und einer Folterung gleichkam. Ich hatte das Ganze bald satt. »Ist doch komisch«, überlegte ich mir, »was soll man denn sonst im Sport machen, wenn man nicht laufen und springen darf?« Deshalb beschloss ich in der Oberstufe, als ich Mama, Babulja, den Tanten und Lehrern immer noch gehorchte, es sei an der Zeit, die Ärzte von dieser honorigen Liste auszunehmen, und lieferte keine Bescheinigungen mehr ab. In unserer Sportprüfung war ich die Beste im Hundertmeter- und im Sechsminutenlauf. So erkämpfte ich mir meine »sportliche Unabhängigkeit«.

      Zu den schönsten Geräten bei der Rhythmischen Sportgymnastik zählte für mich das Band. Es musste, wie alles zu Sowjetzeiten, selbst gemacht werden, also gingen Mama und ich ins Kaufhaus. In der Stoffabteilung erstanden wir das eigentliche Band, an die drei Meter lang, dann suchten wir in der Abteilung für Angler- und Fischereibedarf nach Ringen und Häkchen, um das Band zu befestigen. Es war rot, und ich liebte es sehr, ich erfreute mich immer wieder daran, dass es so schön war. Mama nähte sogar eigens eine Hülle, in der ich es herumtrug. Später, als ich nicht mehr zur Gymnastik ging, lag es irgendwo im Schrank, wartete bestimmt auf seinen Auftritt und hoffte, ich würde es nicht vergessen. Aber da hatte sich das Band getäuscht, ich gab die Gymnastik auf. Doch in der Kindheit angelegte Gewohnheiten halten sich – was man da gelernt hat, wird verinnerlicht. Die Hauptsache bei den Bandübungen ist, dass es sich nicht verknotet, Knoten sind Fehler. Noch heute versuche ich jeden Tag alles so zu erledigen, dass sich keine Knoten bilden, die hinterher wieder aufgeknüpft werden müssen oder mich daran hindern könnten, mich frei im Raum zu bewegen.

      Die Sportgymnastik hat mich gelehrt, Schmerzen zu ertragen und sie vielleicht sogar ein bisschen zu genießen. Nach einer Phase, in der jeder Moment sinnvoll sein und seine Daseinsberechtigung nachweisen musste bzw. den Nutzen, den ich aus ihm zog, kann ich heute, wenn ich frei habe und mich ausruhen sollte, nicht mehr entspannen. Selbst in den Ferien bat ich Babulja, mir Texte zu diktieren oder mir Übungen aufzugeben, das nannte ich dann »Schule spielen«. Babulja hätte mich dafür natürlich am liebsten auf den Mond geschossen, das Schulthema ging ihr an die Nieren. Ein Kompromiss war ein Damespiel mit Opa oder Kartenspielen mit beiden. »Dummkopf klopfen« hieß das dann. Ich hielt nie lange durch, aber die beiden konnten stundenlang Karten klopfen, als hätten sie einander etwas zu beweisen. Sie hatten so viele Jahre zusammengelebt, ohne sich zu trennen, dabei wusste ich, dass sie alles andere waren als ein Herz und eine Seele. Das Kartenspiel war eine Art Metapher für die Kämpfe, die sie ihr Leben lang miteinander ausfochten.

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