Camel Travel. Volha Hapeyeva

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Название Camel Travel
Автор произведения Volha Hapeyeva
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783990590829



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aber schon damals Dankbarkeit für meine Sprache, da sie mich vor den Halbstarken gerettet hatte.

      Ich saß auf der Bank vor dem Haus und ließ die Beine baumeln. Da kam eines der Nachbarmädchen in den Hof, mit einem Zapfen. Na und, ein Zapfen, ist doch nichts dabei. Von wegen! Dieser Zapfen war so groß wie ein Meerschweinchen, er passte nicht mal in eine Hand.

      »Schau dir den mal an«, sagte sie und hielt mir ihren Schatz hin.

      »Mannomann, das ist mal ein Zapfen!« Ich bekam den Mund nicht wieder zu.

      »Da sind noch Nüsschen drin, die kann man rauspicken, knacken und essen.« Und sie pickte ein paar für mich heraus. Ich biss den harten kleinen Kern auf und hatte erstmals diesen besonderen Geschmack auf der Zunge.

      »Wo hast du denn den Zapfen her?«, wollte ich wissen.

      »Die bringt der Opa mir mit, der fährt dort extra mit der Arbeit hin.«

      Wir saßen auf der Bank vor dem Haus und betrachteten den Zapfen. Kein Zapfen, den ich bisher gefunden hatte, kam größenmäßig an diesen heran, außerdem waren sie alle leer gewesen, gegen die Eichhörnchen hatte ich keine Chance. Langsam versank die Sonne hinter den Hochhäusern in der Nachbarschaft, und ich sehnte mich kein bisschen nach Minsk, hatte ich doch zum ersten Mal in meinem Leben einen echten Zedernzapfen in der Hand.

      Bei diesem Besuch machten wir nicht nur in Frunse Station, das heute Bischkek heißt, sondern auch bei einem Bruder meines Großonkels in einem Dorf am Issyk-Kul. Mir ging einfach nicht in den Kopf, dass das ein See sein sollte, denn solange wir mit dem Bus fuhren, wollte er einfach kein Ende nehmen, wie ein Meer oder ein sehr langer Fluss. Issyk-Kul bedeutet »heißer See«, er friert nämlich im Winter nicht zu. Das Dorf Bystrowka (heute: Kemin) hat sich mir eingeprägt mit seinem riesigen Haus, den vielen Menschen, einem kleinen schwarzen Welpen, den wir Mucha nannten, und den hausgemachten Nudeln. Damals war ich noch keine Pastaliebhaberin, aber alles Ungewöhnliche konnte meine kindliche Aufmerksamkeit wecken. Bei uns machte kein Mensch Nudeln selbst, alle kauften sie im Laden, und beim Kochen zerfielen sie und klebten dann am Boden des Topfes an. Bei dieser Art Nudeln wurde man wohl kaum zur Pastafreundin. In Kirgisien machten sie die Nudeln selbst. Auf einem großen Tisch im Hof wurde der Teig ausgewellt und anschließend in schmale Streifen geschnitten. An den Geschmack kann ich mich nicht mehr erinnern, auch nicht, ob sie am Kochgeschirr klebten wie unsere, aber die Herstellung sehe ich immer noch deutlich vor mir.

      Ein einziges Farbfoto ist mir von dieser Wanderung geblieben. Ich auf einem Kamel. Am Strand war ein Fotograf unterwegs, der Fotos mit seinem Kamel anbot. Im Grunde noch ein Kamelfohlen, war es trotzdem fünfmal so groß wie ich. Und meine Tante sagte, ich müsse mich auf ihm fotografieren lassen. Ich war nicht gerade Feuer und Flamme, hatte aber auch nichts dagegen, also kletterte ich auf das Tier und wollte schon in Richtung Kamera schauen, als mir ein Gedanke durch den Kopf schoss, der mit dem bevorstehenden Foto zusammenhing. Er gab mir zu verstehen, dass ich mit meinem Kugelbauch auf dem Foto nicht gerade eine Traumfigur abgeben würde. Ich sah an mir herunter und, heilige Mutter Gottes, er wölbte sich tatsächlich wie ein rundlicher Hügel. Da musste augenblicklich etwas geschehen, also zog ich den Bauch ein, so weit ich konnte. Die rechte Hand erhoben, als wollte ich jemanden grüßen (offenbar diejenigen, die sich später das Foto anschauen würden), blieb mein sechsjähriges Ich mit einem schiefen Lächeln im Gesicht und stark hervortretenden Rippen (den Bauch gut eingezogen, vielleicht sogar zu gut) auf diesem Foto zurück, mit einer sonderbaren Gleichgültigkeit gegenüber seiner Umgebung, mit Komplexen über den eigenen Körper, hoch oben auf dem Kamel.

      Das Abenteuer Leben fing gerade erst an.

      Kapitel 2 Nina und Wassil

      An dem Tag, an dem mein Flugzeug aus der fernen Heldenstadt Frunse in Minsk ankommen sollte, sagte mein Vater meiner Mutter, er könne mich nicht abholen. Am Nachmittag, meine Mutter war einkaufen und wollte schon zum Flughafen fahren, um mich in Empfang zu nehmen, sah sie meinen Vater. Er ging Arm in Arm mit einer anderen Frau spazieren. Klar konnte er mich nicht abholen, er hatte Wichtigeres zu tun. Mama unternahm nichts, sprach ihn nicht an und machte ihm keine Szene, sie fuhr einfach zum Flughafen und holte ihre Tochter ab.

      Anschließend trennten sich die beiden. Und Mama und ich hatten unterschiedliche Nachnamen. Dass Papa jetzt nicht mehr mit Mama zusammenlebte, belastete mich überhaupt nicht. Ich musste ihn nicht mehr zu seinen Freunden mit Bierfahne begleiten und dann mitansehen, wie Mama sich sorgte und herumschrie, wenn wir erst um Mitternacht zurückkamen. Jetzt herrschte Stille, niemand kommandierte herum, und in unserem Gorisont zeichnete sich kein grünes Fußballfeld mehr ab. Fußball im Fernsehen hatte ich noch nie gemocht, viel lieber spielte ich auf dem Platz selbst in der Abwehr.

      Die anderen Kinder in der Schule beneideten mich, denn kaum jemand fand das eheliche Verhältnis der Eltern zufriedenstellend. Fast jeden Tag bekamen sie lautstarke Streitereien und Moll-Konzerte für Eltern und Streichorchester zu hören. Aber die Gene lassen sich nicht aus dem Pass entfernen. Es war nicht zu übersehen, wie ähnlich ich meinem Vater war, sowohl äußerlich als auch in bestimmten Angewohnheiten. Besonders gerne erwähnte und betonte das Mamas Mama. Sie suchte meine Gesichtszüge und meine Statur geradezu nach Merkmalen ab, die meine Verwandtschaft zu Papas Mama bezeugten: die Nasenform, den schlanken Wuchs etc., als wolle sie mich nicht akzeptieren, als könne sie mit diesen ausgesuchten biologisch-anthropologischen Charakteristika rechtfertigen, dass ich nicht in ihr System von Lebensregeln passte. Babuljas Profession hatte in ihrem Charakter und bei den Menschen in ihrem Umfeld tiefe Spuren hinterlassen. Ihr gesamtes Berufsleben hatte sie als Dorfschullehrerin für belarusische Sprache und Literatur verbracht.

      »Ba, sag mal, Ba, was wolltest du eigentlich werden, als du klein warst?«, startete ich mit untergeschlagenen Beinen auf dem Schemel mein Babulja-Verhör.

      »Nichts«, brummte Babulja.

      »Wieso nichts? Alle Kinder wollen doch Kosmonauten oder Ärzte werden«, beharrte ich und rief ihr die klassischen Berufswünsche sowjetischer Kinder in Erinnerung.

      »Na, jedenfalls ganz bestimmt nicht Lehrerin«, antwortete Babulja.

      »Aber was denn dann?« Ich ließ nicht locker.

      »Mutter wollte ich werden. Bin ich ja auch«, seufzte sie freudlos und stampfte weiter Kartoffeln für die Schweine, verärgert über ihren Kindertraum. Als hätte man sie betrogen, ihr erzählt, Muttersein wäre gut und sogar ziemlich beneidenswert, wohingegen dann alles ganz anders aussah. Babulja war viermal niedergekommen. Im April, im Mai und zweimal im Februar.

      »Und wieso bist du dann Lehrerin geworden?«

      »Meine Freundin Rajka wollte, dass wir zusammen studieren, sie hat mich mit zu den Philologen geschleppt.«

      »Und wo wolltest du hin?«

      »In die Mathematik.«

      Ich weiß nicht, ob Babulja als Mathematiklehrerin glücklicher mit ihrem Leben und ihrer Arbeit gewesen wäre, aber sie fühlte sich offenbar als verhindertes Mathegenie.

      Ihr Mann (mein Opa) war in dieser Hinsicht auch nicht glücklicher. Die Entscheidung, was er aus seinem Leben machen wollte, verlief in seinem Fall noch tragischer. Sein Vater war nämlich Lehrer und wollte, dass sein Sohn in seine Fußstapfen trat. Obwohl Dsjadulja davon geträumt hatte, Soldat zu werden, Späher, studierte er Russische Sprache und Literatur, weil mein Urgroßvater das so wollte. An der Hochschule lernten sie sich dann kennen: Nina, die statt Mathematik Kolas und Kupala* multipliziert mit den artikulatorischen Charakteristika der Vokalphoneme studierte, und Wassil, der Majakowski und die Besonderheiten der Synekdoche paukte, anstatt sich lautlos durch unbekanntes Terrain zu bewegen und Kryptogramme zu entschlüsseln. Träume sind gut, aber häufig muss man mit sich selbst und seinem Umfeld ringen, bis sie Wirklichkeit werden können, deshalb ist es einfacher, keine zu haben – dann kann man sich die Enttäuschung ersparen.

      Als Rentner lag Dsjadulja die ganze Zeit auf dem Sofa und dachte über etwas nach, oder er saß an der Haltestelle gegenüber ihrem Häuschen. Die Hauswirtschaft war ihm so gleichgültig wie seine ganze Umgebung. Er war der Größte in unserer Familie, das hat mir mächtig gut gefallen. Als Dsjadulja mitbekam, dass ich ins Ausland geschickt werden sollte, fragte